Neues Forum - Berlin:

Zur Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates

In der Vergangenheit haben die Völker deutschen Nationalismus als staatliche Aggression erfahren. Dies und die daraus resultierenden Ängste müssen wir ernst nehmen.

Das Neue Forum tritt ein für die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und fordert dies auch von der Bundesregierung. Die Hauptprobleme unserer Welt - Friedenssicherung, Umweltbelastung, soziale und wirtschaftliche Verelendung - sind nicht nationalstaatlich zu lösen. Die Völker der Welt müssen enger zusammenrücken und ihre Verantwortung füreinander wahrnehmen. Wir treten ein für den Grundsatz: Eine Welt statt drei!

Das sollte uns nicht den Blick davor verschließen, dass beide deutsche Staaten in besonderer Weise - kulturell, geschichtlich, sprachlich, familiär - zueinander in Beziehung stehen.

Die Aufständischen von 1848, 1918, der antifaschistische Widerstandskampf, die Betriebsräte-Bewegung in den Besatzungszonen, die Solidarität der Westberliner und der Westdeutschen mit den Aufständischen des 17. Juni 1953 und den Flüchtlingen nach dem 13. August 1961 sind Beispiele einer anderen deutschen Tradition und einer Solidargemeinschaft von unten.

Der Aufbruch und die Veränderungen in der DDR sind Erfolge der friedlichen Massendemonstrationen, und des Selbstbewusstseins der Menschen in diesem Land.

Wir haben jetzt die Chance, mit dem stalinistischen Sumpf gewaltfrei, aber gründlich aufzuräumen und neu anzufangen. Wir distanzieren uns von denen, die Hass, Panik und nationalistische Stimmungen schüren. Wir sind für eine Neugestaltung der Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander.

Wiedervereinigung bedeutet ein Deutschland in den Grenzen von 1937!

Vereinigung jetzt bedeutet für einige schnellen Wohlstand, für viele aber Arbeitslosigkeit, Verzicht auf Mitbestimmung, Mietwucher und darüber hinaus Legalisierung rechtsextremer und neofaschistischer Parteien und Organisationen.

Eine Vereinigung in der Zukunft kann nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung beider deutscher Staaten erfolgen. Voraussetzungen dafür sind:

- totale Entmilitarisierung und Neutralität

- Abschluss eines Friedensvertrages

- Garantie der Oder-Neiße-Grenze

- soziale Sicherheit für alle, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnraum

- Demokratisierung betriebliche und kommunale Mitbestimmung

- gerechte Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern der dritten Welt.

Stabilität In Europa braucht zunächst eine stabile DDR. Für eine wirtschaftliche Stabilisierung brauchen wir Hilfe auch von außen.

Wir dürfen nicht aus der Konfrontation in eine Konföderation fallen. Was wir jetzt benötigen, ist Kooperation. Aber das Volk muss mitentscheiden und kontrollieren können, wofür die Hilfe verwendet wird: Für die partiellen Interessen einzelner oder für eine ökologisch orientierte Wirtschaftsreform, für den Aufbau einer sozialen, gerechten Gesellschaft!

Für den Berliner Sprecherrat des Neuen Forums: Ingrid Köppe, Uwe Radloff, Gabriele Kleiner, Reinhard Schult, Ingrid Brandenburg, Julia Hamburger, Martin Gaber, Bernd Albani, Klaus Brandenburg, Marianne Tietze

aus: freie presse, Nr. 5, 06.01.1990, 28. Jahrgang, Karl-Marx-Stadt