Das "Neue Forum" - was ist es, und was will es?
"FW"-Reporter Alfred Bilay sprach mit Dozent De. sc. techn. Paul Latussek, Technische Hochschule Ilmenau
Frage: Dr. Latussek - ich lernte Sie kürzlich als einen Sprecher und engagierten Vertreter der llmenauer Initiativgruppe des "Neuen Forums" kennen. Eine Reihe der Leser des "Freien Wortes" möchte wissen, was "Neues Forum" will. Was können Sie uns dazu sagen?
Antwort: Die Bürgerinitiative "Neues Forum" will bei der Umgestaltung der Gesellschaft in der DDR durch Einbeziehung breiter Schichten der Bevölkerung mithelfen. Die bisherigen Strukturen haben zu Machtmissbrauch, Bürokratisierung des Staatsapparates, Berufsfunktionärswesen. Überheblichkeit des Parteiapparates der SED gegenüber anderen geführt. Dadurch kam es zu Einschränkungen der Menschenrechte, zu Fehleinschätzungen der gesellschaftlichen Entwicklung. Es wurde zu spät erkannt, dass Reformen vor allem auf dem Gebiet der Ökonomie nötig wurden. Ich möchte betonen: Wir, die sich dieser Initiativbewegung angeschlossen haben, handelten und handeln aus Sorge um unser Land.
Frage: Wie stehen Sie zu früheren Vorwürfen, "Neues Forum" stünde nicht auf dem Boden der Verfassung?
Antwort: Da zitiere ich Ihnen ganz einfach Artikel 21, Absatz 3: Die Verwirklichung des Rechtes der Mitbestimmung und Mitgestaltung ist eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger. Auf Änderung der Verfassung. z.B. des Artikels 1 zu drängen, wenn diese den Bedürfnissen der Gesellschaft nicht mehr entspricht, ist ein verfassungsgerechtes Verhalten. Ich will ganz klar sagen: Eine führende Rolle muss man sich erarbeiten, und man muss mit der Führung vom Volk beauftragt sein.
Frage: "Neues Forum" befindet sich in der Phase der Formierung, wie weit ist dieser Prozess fortgeschritten?
Antwort: Ich verweise auf die ADN-Meldung. "FW" vom 21.11., Seite 2: "Aufruf des 'Neuen Forums' von 200 000 Bürgern unterzeichnet." Am 27. Januar 1990 soll Gründungskonferenz in Berlin sein. Hinzufügen möchte ich: Ja, wir sind sehr jung, haben also keine befleckte Vergangenheit, aber eine aktive Gegenwart und eine Zukunft, die von engagierten Bürgern verantwortungsbewusst getragen wird.
Frage: Wer schloss - bzw. schließt sich Ihnen an?
Antwort: Bürger aus allen Schichten. Ärzte, Wissenschaftler, Handwerker, Gewerbetreibende, Arbeiter, auch Mitglieder der Parteien.
Frage: Nach der Ilmenauer Kundgebung am 15. November sagten Sie zu mir: Sie sehen in ehrlichen Mitgliedern der SED Bündnispartner: Sie sagten auch, ohne die vielen SED-Mitglieder in verantwortlichen Stellen läuft zur Zeit nichts in diesem Lande. Sie werden verstehen, dass uns SED-Mitglieder diese Einschätzungen besonders interessieren.
Antwort: Da möchte ich etwas Ausholen: Ich habe diese persönliche Einschätzung auf die historisch entstandene Situation in unserem Lande bezogen. Leitende Funktionäre der SED haben ihre Macht missbraucht - z.B. für eine Kaderpolitik, deren Anliegen es war, als wesentliches Kriterium für die Belegung von staatlichen und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen oder für Berufungen der wissenschaftlichen Einrichtungen die Mitgliedschaft in ihrer Partei zu machen. Dies hat neben dem Einsatz befähigter Fachleute auch zum Einsatz einer sehr großen Anzahl unbefähigter Menschen geführt. Das muss verändert werden. Es muss Gerechtigkeit gegenüber denen hergestellt werden, die in diesem Auswahlprozess einfach zur Seite gestellt worden sind, und die Schuldigen dafür müssen zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist ein Prozess, der zügig, aber nicht ruckartig ablaufen muss. Man muss aber unterscheiden, wer dafür die Verantwortung getragen hat und wer als einfaches Mitglied der SED, als Arbeiter, Bauer oder Angestellter, entgegen seinem Willen einfach benutzt worden ist. Der Prozess der Erneuerung kann nur gelingen, wenn sich alle aufrichtigen Menschen daran beteiligen. Selbstverständlich auch die ehrlichen Mitglieder der SED. Und viele von ihnen tun es, das ist meine Meinung, bereits.
Frage: Wichtig war mir ebenfalls, dass auch andere Mitglieder Ihrer Gruppierung betonten, wir wollen fähige Köpfe an die Spitze, sowohl in den Rathäusern als auch in den SED-Kreis- und Bezirksleitungen.
Antwort: Die Frage ist zu einseitig gestellt und geht, meiner Meinung nach, von einem festgeschriebenen Führungsanspruch der SED aus, den wir nicht anerkennen. Ist die SED eine gleichberechtigte Partei unter anderen, so geht es uns nichts an, wer in der SED-Kreis- oder Bezirksleitung sitzt. Das ist dann eine Angelegenheit der Parteimitglieder. Natürlich wollen wir fähige Köpfe an der Spitze des Staates, der Wirtschaft, der anderen gesellschaftlichen Einrichtungen. Hier sollten für die Nominierung vor allen Dingen Sachverstand, moralische Eigenschaften wie Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit eine Rolle spielen. Wichtig ist für mich: Die Macht, die sie ausüben, muss kontrollierbar sein.
Frage: Was bestimmt die Tätigkeit des "Neuen Forums" in den nächsten Tagen und Wochen?
Antwort: Die Lösung von Aufgaben zur weiteren Formierung und Strukturierung, Erhöhung der direkten Wirksamkeit der Arbeitsgruppen und ihrer gewählten Sprecher. Ausbau unserer Kontrollfunktion, weitere Aufdeckung von Amtsmissbrauch, Organisierung weiterer Demonstrationen zur Willensbekundung, aber auch Arbeitsgruppengespräche zu gezielten Teilproblemen.
Frage: Was sagen Sie zur Regierungserklärung von Ministerpräsident Hans Modrow?
Antwort: Ein Urteil darüber setzt ein gründliches Studium der Rede voraus. Es gibt viele Passagen die nicht meine Zustimmung finden. Meine Meinung: Es ist jetzt in diesem Übergangsprozess zur wirklichen Erneuerung unseres Landes sehr wichtig, dass das Funktionieren unseres alltäglichen Lebens gewährleistet sein muss, dass überall gearbeitet und gleichzeitig angestrengt über Lösungen nachgedacht wird, ohne die Verantwortung und Mitwirkung für den Umgestaltungsprozess zu verwischen.
Frage: Ich möchte unseren Lesern auch gern sagen, wie lautet Ihre Kurzbiographie?
Antwort: Ich bin 53, verheiratet, drei Kinder, mein Vater war Bergmann, er hatte 5 Kinder, seine drei Söhne haben studiert. Ich selbst erlernte den Beruf eines Elektromaschinenbauers, schloss eine Fachschule als Ingenieur für elektrische Maschinen ab, wurde dann Diplomingenieur für Starkstromtechnik, schloss eine Promotion A an der TU Dresden ab und eine Promotion B an der TH Ilmenau, wo ich übrigens gern arbeite. Und ich weiß auch, dass uns in Lehre und Forschung große Herausforderungen bei der Umgestaltung unseres Landes bevorstehen.
Ich bedanke mich für das Gespräch!
Anmerkung: Dr. Latussek legt Wert auf die Feststellung, dass er in diesem Gespräch seinen Standpunkt zum "Neuen Forum" darlegt, er muss also nicht identisch mit dem anderer Gruppierungen sein.
aus: Freies Wort, Nr. 277, 24.11.4989, 38. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Suhl der SED