Den Bürgern Mut in die eigenen Fähigkeiten geben
Der Spitzenkandidat des Neuen Forum, Prof. Reich, stellte jüngst im Fernsehen fest, dass die Situation im Neuen Forum einem Fußballspiel gleicht: Im Herbst war die Vereinigung 5:0 in Führung gegangen, jetzt fallen sozusagen die Gegentore. Wie steht den nun das Spiel?
Das lässt sich auf den Punkt genau nicht beantworten. Aber bei kritischer Selbsteinschätzung ist zu konstatieren, dass tatsächlich Gegentore gefallen sind. Die Ursachen lagen an und für sich darin, dass die Gemeinsamkeit als Bürgerbewegung in der Öffentlichkeit doch schwer abzusichern ist. Dazu kommt noch die Wahlkampfsituation. Andere Parteien bieten Programme, die vielleicht im Vergleich zum Neuen Forum doch klarere Aussagen über ihre Absichten enthalten. Bemerkbar macht sich auch, dass die Medien uns mitunter bewusst als destabilisierend darstellen. Und es gibt bei uns ganz konkreten Unmut über einige Äußerungen einiger bekannter Leute, wie Bärbel Bohley oder auch Prof. Jens Reich, die doch nicht von der Breite her getragen werden.
Nun ist Frau Bohley doch eine Symbolfigur im Forum.
Zweifelsohne, ihr Mut als Mitbegründerin ist anzuerkennen. Aber wir können als Bürgerbewegung und als gewählte Sprecher in den Territorien gegenwärtig nicht akzeptieren, dass individuelle Meinungen als Meinungen des Landessprecherrates verkauft werden. Dazu gehört auch die Aussage, dass eben das Neue Forum als Ziel weiterhin einen Sozialismus verfolgen sollte, der politisch einfach nicht machbar ist. Die Menschen wollen doch schnell und spürbar besser leben, was ohne marktwirtschaftliche Bindungen nicht geht.
Wie wirkt sich das auf die Mitgliederzahl im Bezirk aus?
Einen exakten Überblick über die Mitgliedsstärke haben wir nicht. Wir rechnen mit zirka 4 000 Mitgliedern. Ich nehme an, das ist eine Obergrenze. Die Tendenz kenne ich im Augenblick nicht. Ich meine, dass sie eher rückläufig ist.
Die Zeiten der großen Demonstrationen scheinen vorbei zu sein. Das Neue Forum hat dazu beigetragen, die alten Strukturen zu zerschlagen. Aber sicherlich wollen die Wähler jetzt Fortschritt sehen. Da trifft Ihr Slogan "Neues Forum - Neue Hoffnung" durchaus den Nerv. Worin besteht diese Hoffnung für Sie?
Für mich ganz einfach darin, dass es nie wieder eine solche totalitäre Zeit geben darf. Wir wollen den Bürgern Hoffnung dadurch machen, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten erkennen und nicht auf Wahlversprechungen reinfallen. Jeder ist hier selbst gefragt sich zu engagieren und nicht den bequemen Weg zu gehen, irgendwohin auszureißen. Das ist von Anfang an unser Ziel gewesen. Nach der Wahl bleibt deshalb die Berechtigung für die Bürgerbewegung durchaus bestehen. Ich kann mir vorstellen, dass es gerade auch in der Übergangszeit Situationen geben könnte, die die Mobilisierung der Bürger notwendig machen.
Stichwort Partei oder Bürgerbewegung. Die Basis hat sich für letzteres entschieden. Stärke oder Schwäche?
Das kommt natürlich auf den Blickwinkel an. Die 80 Prozent, die für die Bürgerbewegung gestimmt haben, die sehen natürlich darin einen Vorteil. Es wäre einfacher, wenn man sich als Partei etabliert hätte, weil man es dann mit der Programmatik und der Durchsetzung von Zielen einfacher hätte. Aber wir sind der Auffassung, dass gerade die Meinungsvielfalt einer Bürgerbewegung Ausdruck der gewonnenen Freiheit ist, dass man sich nicht diszipliniert gegenseitig zur Einhaltung irgendwelcher taktischen Marschrouten. Natürlich wird man als Bürgerbewegung nach freien Wahlen die Volksvertretungen in den legalen Formen zu unterstützen haben.
Weder Parteien noch Bürgerbewegungen können am Thema deutsche Einheit vorbei. Das Neue Forum war ja anfangs dafür eingetreten, eine demokratische Gesellschaft zu errichten. Die Sache ist jetzt für die DDR als eigenständiger Staat passé. Das ist auch im Neuen Forum erkannt, und man ist auf den Einheits-Zug aufgesprungen. Wie schnell soll der fahren?
Er muss so rollen, dass alle aufspringen können. Solange eben jeden Monat noch 50 000 Leute wegrennen, hat man einfach keine Zeit, sich hier einen eigenständigen Weg zu suchen.
Was also tun?
Es bleibt uns eigentlich nichts anderes übrig, als die marktwirtschaftlichen Bedingungen der Bundesrepublik zu übernehmen und uns dort einzubringen. Aber das heißt nicht, dass wir nun führerlos auf der Lok in das gelobte Land da rüberfahren sollten. Wir müssen die sozialen Bedingungen so beeinflussen, dass bei uns die negativen Auswirkungen einer Marktwirtschaft, um die wir nicht drumrum kommen werden, doch in Grenzen bleiben. Begriffe wie Kapital und Profit haben aber nicht nur einen negativen Anstrich, 40 Jahre Arbeitskampf brachten der Bundesrepublik bemerkenswerte soziale Errungenschaften.
Aber es zählt nichts als die Leistung eines jeden!
Natürlich. Ich sehe die Gefahr, dass unsere Bürger noch zu wenig die beiden Seiten der Medaille sehen. Wir können nicht so rangehen, dass wir uns den Lebensstandard der Bundesrepublik wünschen, und auf der anderen Seite die Konsequenzen nicht wahrhaben wollen, unter daran auch ein bundesdeutscher Arbeiter arbeitet. Wir sind schon dafür, dass wir die Rechte auf Arbeit, Wohnraum und auf all die Dinge, die unsere sozialen Grundanforderungen betreffen, dass wir die mit rüberbringen. Deswegen plädieren wir auch dafür, dass die Gesetzlichkeiten bis zu diesem Schritt noch ordentlich vorbereitet werden.
Der Bezirk Neubrandenburg ist ja vor allen Dingen Agrarbezirk. Was haben Sie für die Bauern in petto?
Selbstverständlich bemühen sich die Mitglieder des Neuen Forums auch in den ländlichen Gegenden um Einflussnahme auf die Wähler. Wobei das nicht vordergründig Wahlkampfprobleme sind, sondern wir wollen durch das Anpacken praktischer Dinge überzeugen und über die Klärung von Bürgeranliegen zur Verbesserung der Situation beitragen. Wenn daraus eine Ausstrahlung auf die Wahl resultiert, ist das sicher schön.
Sie sind ja Sprecher der Arbeitsgruppe Wirtschaft. Welche Perspektive sehen Sie für unseren Bezirk?
Wir werden ein Landwirtschaftsbezirk bleiben. Auch wenn es zu einem verstärkten Ausbau industrieller Zweige kommen muss. Aber wir werden vorerst zu den wirtschaftlich Schwachen gehören. Wer das anders sieht, sieht das sicher verkehrt oder mit einer rosaroten Brille. Es gibt in der Bundesrepublik auch wirtschaftlich starke und wirtschaftlich schwache Länder. Dort gibt es dafür einen Lastenausgleich.
Das Neue Forum tritt ja nicht allein zur Wahl an, sondern mit Demokratie Jetzt und der Initiative Frieden und Menschenrechte. Warum dieses Dreiecksverhältnis?
Dieses Bündnis resultiert aus dem gemeinsamen Kampf für die Umgestaltung. Alle drei Bürgerbewegungen waren doch tragende Kräfte bei der Vorbereitung der Wende. Ich meine, dass das eine Gemeinschaft ist, die auch in den Wahlkampf übernommen werden konnte.
Vielfach sieht man Stände von SPD und CDU. Politiker aus dem Westen machen die Musik. Vom Neuen Forum sieht und hört man kaum noch etwas. Wie führen Sie Wahlkampf?
Hier äußert sich eben ein Nachteil, der in der gegenwärtig nicht gewährleisteten Chancengleichheit besteht. So, wie wir begonnen haben, haben nur Bürgerbewegungen begonnen, und Parteien haben sich sozusagen von einem reichen Onkel oder Bruder unter die Arme greifen lassen. Bei uns ist das so, dass wir alle praktisch vor einer Woche gerade man mit Schreibtechnik ausgerüstet worden sind. Mit Plakaten beginnen wir jetzt erst, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das heisst aber nicht, dass wir uns nicht mit inhaltlichen Dingen schon befasst hätten.
Wahlumfragen erfreuen sich steigender Beliebtheit. Beim Neuen Forum war ein kräftiger Rückgang der Prozente zu bemerken. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Das Volk wird entscheiden. Wir rechnen nicht mit einer Mehrheit und auch nicht mit einer koalitionsbestimmenden Mehrheit. Aber unserer Auffassung nach wäre es gut, wenn durch die Wahl des Neuen Forum oder anderer Bürgerbewegungen die absolute Mehrheit irgendeiner Partei verhindert werden könnte.
Das Gespräch führte J. Spreemann
aus: Freie Erde, Nr. 56, 07.03.1990, Unabhängige Tageszeitung, Herausgeber: Verlag Freie Erde
[Gesprächspartner war Gunter A(...), Sprecher der Arbeitsgruppe Wirtschaft des Neuen Forum, Gunter A(...) war zu diesem Zeitpunkt Leiter des Organisations- und Rechenzentrum im Energiekombinat Neubrandenburg.]