Diskussionsbeitrag
Zum Thema "Einheit"

(Vollversammlung des Neuen Forum Rostock, 13.12.1989)

1. Zahlreiche ehrliche, informierte und engagierte Menschen machen sich z. Zt. Gedanken, wie Idee und Staatsform des "Sozialismus" zu retten oder neu zu errichten sei. Zur selben Zeit verweigert ein großer Teil des Volkes seine Mitarbeit dabei und praktiziert stattdessen Elemente deutscher Einheit.

Ich frage mich, ob es angebracht ist, diesen Einheitswillen zu diskreditieren oder zu zensieren. Im Neuen Forum sollten wir dies unterlassen.

Begründung:

Wir sind nicht in erster Linie Lehrer des Volkes, sondern Teil des Volkes, stehen ihm also nicht zensierend gegenüber. Außerdem kommt im Einheitsstreben der "unpolitischen" Volksteile nicht nur ein Motiv zum Ausdruck. Es gibt mehrere Gründe, Einheit zu bejahen, wie auch dafür davor zu warnen.

2. Wenn wir die Einheit bejahen, übersehen wir nicht, dass sie jetzt gleich und total nicht zu haben ist. Wir bejahen also einen Wachstumsprozess. Diesen sollten wir aber nicht verzögern, sondern deutlich fördern, begleiten und mitbestimmen.

Dabei sind wir uns unserer geschichtlich gewachsenen Identität bewusst, d.h. wir bringen sowohl unsere Leidenserfahrungen als auch unseren politischen Veränderungswillen mit ein. Wir schwören unseren Hoffnungen und unserer Kampfbereitschaft nicht ab. Wenn wir so mit der Bundesrepublik Deutschland zusammenwachsen, entsteht die gewichtige Herausforderung für beide deutsche Staaten, den Begriff der deuten Nation neu zu bestimmen. Beide Teile der Nation haben dabei je eigene Inhalte zu erlernen und zu verlernen.

3. Der Kampf um eine erneuerte Gesellschaft ist mit dem Ziel "Einheit" nicht erreicht. Die emanzipatorischen Prozesse sind danach deutlich weiterzuentwickeln. (Sogar Sozialismus kann möglich werden, aber wohl kaum vom "Sozialismus" aus!)

In unserem Bereich ist weder die ökologische Bewegung entstanden, noch gibt es eine akzeptable Variante von Mitbestimmung noch ist das Problem der Versorgung der Bevölkerung gelöst. Es ist also nicht zu erkennen, dass auf diesen wichtigen Gebieten ein sozialistisches Konzept gesellschaftlich nützlicher wäre. Ganz fraglich ist, wie der "neue" Sozialismus wirtschaftlich fundiert sein soll. Was wir jetzt brauchen, sind aber nicht ungewisse Versuche, sondern realistische Wirtschaftkonzepte, die die neue Gesellschaft auf ein wirtschaftlich stabiles Fundament stellen.

Joachim Gauck
Neues Forum

Aus: plattForm, freies Wochenblatt für mündige Bürger, 23.01.1990


[Die Zeitung "plattForm" wurde getragen von Demokratie Jetzt, Demokratische Aufbruch, Grüne Partei, Neues Forum und der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Die erste Ausgabe erschien am 22.12.1989 in Rostock.]

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