Programmerklärung des NEUEN FORUM (Entwurf)
1. Unser Land am Neubeginn
Das NEUE FORUM wurde als Teil der Volksbewegung um den 40. Jahrestag der DDR ins Leben gerufen. Es entstand als unabhängige Bürgerbewegung zur öffentlichen Kontrolle und Umgestaltung der unerträglich gewordenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in unserem Land. Es wollte die gefährliche Sprachlosigkeit zwischen Gesellschaft und Herrschenden durchbrechen, der Verkleisterung der tatsächlichen Krisenlage, der verbrecherischen Schönfärberei, dem Hochmut der Führungsschicht ein Ende bereiten.
Die Herbstrevolution war unser erster Schritt in die Freiheit. Das alte Machtgebilde, der alte Staats- und Sicherheitsapparat wurden in einem stürmischen, aber friedlichen Aufbegehren erschüttert.
Jetzt haben wir eine doppelte Aufgabe: die alten Strukturen unwiederbringlich zu beseitigen und den Aufbau eines neuen demokratischen Staates voranzubringen, der von seinen Bürgern angenommen wird. Es geht um den Bestand und die Zukunft unseres Landes, das viele Generationen unserer Vorfahren aufgebaut haben und das wir unseren Kindern in bewohnbarem Zustand übergeben wollen.
Einmal in Gang gekommen kann die Umgestaltung der DDR nicht bei unseren inneren Aufgaben stehen bleiben. Die ganze Menschheit ist bedroht durch einen ökologischen Zusammenbruch, durch maßlose Aufrüstung, durch den schwelenden Nord-Süd-Konflikt. Unser Land ist mitschuldig und mitbetroffen. Deshalb tritt das NEUE FORUM ein
- für radikale Abrüstung, auch der konventionellen Armeen, um die Soldaten in die Arbeitswelt zurückzuholen;
- für eine neue solidarische Weltwirtschaftsordnung anstelle des ewigen Schuldenkarussells für die Länder der dritten Welt;
- für verantwortungsbewussten Umgang mit Wissenschaft und Technik unter Schonung der Ressourcen und Beachtung der sozialen und ökologischen Auswirkungen.
Doch politische Programme sind nutzlos, wenn sie nicht unser Handeln bestimmen. Schon wieder reden alle über Regierung, Verfassung und runde Tische, als sei die Revolution von oben zu erzwingen. Unser Kontrast dazu ist ein Programm, das den Schwerpunkt auf die Mobilisierung des einzelnen und der Basisgruppe setzt, in der jeder den anderen kennt und keine Verantwortung wegdelegiert werden kann. Demokratie ist für uns tägliches Verhalten, nicht nur ein Wahlsystem.
2. Das NEUE FORUM - eine Bürgerbewegung
Das NEUE FORUM ist eine politische Plattform für alle Bürger, die den bestehenden Parteien die Durchsetzung einer konsequenten und basisorientierten Demokratisierung nicht zutrauen. Parteipolitik verkürzt unsere Interessen auf Wahlkampfparolen und verschiebt ihre Umsetzung auf Wahltermine. Sie teilt die Bürger und Bürgerinnen in Wahlblöcke. Es gibt jedoch zahlreiche Probleme, in denen das Meinungsspektrum quer durch die Parteien geht. Daher müssen Bürgerbewegungen wie die unsere in den Volksvertretungen sein. Ohne sie kann es zu erneuter Verkalkung kommen, deren Zeuge wir über Jahrzehnt waren.
Das NEUE FORUM arbeitet als landesweite Bürgerinitiative, die sich in örtlichen und betrieblichen Basis- und thematischen Arbeitsgruppen organisiert. Es ist offen für Bürger verschiedener weltanschaulicher und parteilicher Orientierung, schließt aber jede Form menschenverachtender, gewaltverherrlichender und neofaschistischer Tendenzen aus.
Unsere Bürgerinitiative will demokratisches Engagement schon außerhalb der Parlamente organisieren. Es tritt für kommunale Selbständigkeit und demokratische Kontrolle des Arbeitslebens ein. Nur eine initiativreiche mit politischer Phantasie arbeitende Basis kann die Demokratisierung unumkehrbar machen. Daraus leitet das NEUE FORUM sein Mandat ab, sich mit eigenen Kandidaten an den Kommunal- und Volkskammerwahlen zu beteiligen. Wir sind zur Übernahme politischer Verantwortung bereit, weil die umfassende Krise der DDR auch unsere umfassende Einflussnahme auf allen Ebenen des Staates erfordert.
3. Für eine Demokratisierung des politischen Lebens
Das NEUE FORUM ist aus einer breiten basisdemokratischen Bewegung entstanden und bleibt ihr Anwalt. Die politische Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir die öffentlichen Angelegenheiten demokratisch gestalten können.
Wirkliche Demokratie setzt die bürgerlichen Grundrechte, den Schutz der Bürger vor der Übermacht des Staates und Öffentlichkeit in allen Staatsangelegenheiten voraus. Wir fordern daher eine neue Verfassung und wirksame Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Staat soll nach dem Prinzip der Gewaltenteilung organisiert werden.
Alle unser Leben berührenden Informationen müssen den Volksvertretungen, den Medien, den politischen Organisationen und ebenso einzelnen Bürgern zugänglich sein. Wir fordern die einklagbare Auskunfts- und Rechenschaftspflicht aller öffentlichen Institutionen.
Die Verwaltung soll den Bedürfnissen der Bürger, nicht einem zentralisierten Schema entsprechen; sie muss von Grund auf reformiert werden. Dazu gehört die Wiederherstellung der Länder, ihrer Parlamente und Landesregierungen. Das wird den Verwaltungsapparat wesentlich reduzieren und die kulturelle Identität unserer Bürger stärken. Die Länder sind stark genug, sich gegen zentrale Übergriffe zu wehren.
Neu zu schaffen sind gewählte Bürgervertretungen auf kommunaler Wahlkreisebene. Sie und die bereits bestehenden kommunalen Volksvertretungen sind mit eigenen Finanzierungsquellen auszustatten. Um die Wahl in kommunale Volksvertretungen können sich aktive Bürger aller demokratischen Parteien, der Gewerkschaften, Organisationen und Bürgerinitiativen sowie unabhängige Bürgervertreter bewerben, die im Verantwortungsbereich wohnen oder arbeiten. Das NEUE FORUM ist gegen ein Monopol der Parteien bei der Aufstellung von Kandidaten für die kommunalen Volksvertretungen.
Wir fordern Vertretungen der Bürger im Bildungswesen mit klar ausgestalteten Rechten. In keinem Bereich, nicht in den Gefängnissen und nicht in den Kasernen, sollen Bürger unseres Landes ohne gewählte Interessenvertretungen oder Sprecher sein. Neu zu regeln sind die Möglichkeiten der Abberufung von Personen in öffentlichen Ämtern, wenn sie ihren Pflichten nicht genügen. Das darf nicht allein Eingriffen von oben oder den Gremien, denen sie angehören, überlassen bleiben.
4. Demokratie in der Wirtschaft
Die bürokratische Befehlswirtschaft hat den Arbeitenden die Verantwortung genommen. Die Arbeit und die Angelegenheiten ihres Betriebes sind ihnen fremd geworden. Alles lief ungeordnet und Schuld war stets irgendjemand weiter oben. Das NEUE FORUM tritt ein für die Entflechtung des Wirtschaftsorganismus vom Staatsapparat.
Das Staatseigentum muss in eigenverantwortlich und ökonomisch selbständig arbeitendes gesellschaftliches Eigentum der Betriebe überführt werden. Der genossenschaftliche und private Wirtschaftssektor vor allem in der Zulieferindustrie, bei Dienstleistungen, in Handel und Versorgung sowie in der Landwirtschaft muss erheblich gestärkt und erweitert werden. Administrative Hemmnisse bei der Zulassung gewerblicher Unternehmen müssen beseitigt, ihre Besteuerung leistungsfördernd gestaltet werden. Das NEUE FORUM tritt also für eine gemischte Wirtschaft ein.
Staatliche Subventionen sind sehr streng auf Notwendigkeit und Wirksamkeit zu überprüfen. Sie werden unter anderem im Transport- und Kommunikationswesen aus gesellschaftlichem Interesse erhalten bleiben.
Die Abschaffung der dirigistisch-administrativen Planwirtschaft wird den marktorientierten Wettbewerb beleben und die Rechte des Käufers gegenüber dem Verkäufer sichern. Staatliche Eingriffe in den Marktmechanismus sind über steuer- und finanzpolitische Maßnahmen durchzusetzen.
Wir treten dafür ein, dass dem Markt dort Grenzen gesetzt werden, wo er sich gegen betriebliche oder gesellschaftliche Demokratie durchzusetzen versucht oder die ökologischen und solidarischen Grundlagen unserer Gesellschaft untergräbt. Um zu verhindern, dass die Plandiktatur in eine Marktdiktatur umkippt, unterstützen wir starke parteipolitisch unabhängige Gewerkschaften und die wirksame Kontrolle wirtschaftlicher Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitungen durch demokratisch gewählte Betriebsräte. Beschlüsse über Kapitalbeteiligungen ausländischer Firmen und andere Formen der ökonomischen Zusammenarbeit können nur mit Zustimmung des Betriebsrates herbeigeführt werden. Die Betriebe sind verpflichtet, mit den demokratisch gewählten örtlichen Räten zusammenzuarbeiten und sind ihnen auskunftspflichtig.
Das NEUE FORUM tritt für das Recht auf Arbeit ein. Wirtschaftliche Rationalität darf nicht durch Arbeitslosigkeit erzwungen werden.
5. Nationale Frage und internationale Beziehungen
Das NEUE FORUM bekennt sich zu besonderen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Sie gründen sich auf die geschichtliche Einheit der deutschen Nation und können von der Vertragsgemeinschaft bis zur Konföderation ausgebaut werden. Der Zweistaatlichkeit Deutschlands liegt die Teilung Europas als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges zugrunde; sie kann erst in einer vertraglich geregelten gemeinsamen europäischen Friedensordnung vollständig überwunden werden.
Die Zweistaatlichkeit Deutschlands ist für uns eine Chance demokratischer Selbstverwirklichung. Grenzen sollen in ganz Europa weder die Erwerbstätigkeit noch die Familienbeziehungen oder den kulturellen Austausch behindern. Auch der zeitweilige Wohnsitz im jeweils anderen deutschen Staat hindert nicht die Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte und Pflichten gegenüber dem eigenen Staat.
Deutschlandpolitik soll als nationaler Beitrag zum Abbau der großen internationalen Konflikte betrieben werden. Die Annäherung der beiden deutschen Staaten findet allein in den Nachkriegsgrenzen statt und schränkt die Interessen von Drittstaaten nicht ein. Wir treten deshalb für die Entmilitarisierung beider deutscher Staaten und für die Auflösung der Militärblöcke ein.
6. Sofortprogramm
Das Programm des NEUEN FORUM wird aus der Arbeit der Basis- und Themengruppen ständig präzisiert und erweitert. Wir werden eigene Konzepte zum politischen System, zur Wirtschaftsreform. zur Energiepolitik, zum Bildungswesen, zur Militärreform, zum Datenschutz usw. erarbeiten.
Für die nächsten Schritte der Umgestaltung der DDR stellt das NEU: FORUM folgende Sofortforderungen auf:
1. Die Regierung trifft grundsätzliche politische und wirtschaftliche Entscheidungen nur nach Konsultation und Zustimmung der Oppositionsgruppen.
2. Ausarbeitung, öffentliche Diskussion und Volksentscheid über eine neue Verfassung der DDR als Voraussetzung zur Überarbeitung der gesamten Gesetzlichkeit.
3. Durchführung der Kommunalwahlen vor der Volkskammerwahl.
4. Generelle Bestandsaufnahme der ökonomischen, ökologischen und sozialen Situation der DDR durch die staats- und wirtschaftsleitenden Organe.
Sofortige Schaffung der rechtlichen Grundlagen zur Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in diese Arbeit und zur Veröffentlichung dieser Ergebnisse.
5. Durchführung einer Verwaltungsreform zur Wiederherstellung der Länder und zur Verringerung der Anzahl der Kreise.
Wirtschaftliche und verwaltungsrechtliche Stärkung der Kommunen.
6. Anerkennung der Bürgerräte in den Städten und Gemeinden, die sich zur Durchsetzung, der Reformmaßnahmen und zur Sicherung der staatlichen Ordnung gebildet haben.
7. Bildung von Betriebsräten zur Aufsicht über Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitungen und zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabilität.
Die Rechte der Betriebsgewerkschaftsleitungen gehen bis zur Wiederherstellung funktionierender unabhängiger Gewerkschaften an die Betriebsräte über.
Der Betriebsrat hat Vetorecht gegenüber Grundsatzentscheidungen der Betriebsleitung.
8. Ausarbeitung eines Betriebsverfassungsgesetzes.
Partner der Betriebsleitungen in innerbetrieblichen Angelegenheiten sind künftig allein die Gewerkschaften und der Betriebsrat.
Auflösung der Parteiapparate und der Kampfgruppen in den Betrieben.
9. Anerkennung des Streikrechts.
10. Einführung der 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
11. Einrichtung des öffentlich rechtlichen Status für die elektronischen Medien.
12. Neuwahl der Kreis- und Stadtschulräte durch Delegiertenversammlungen, die von den pädagogischen Mitarbeitern aller Schulen des Kreises gebildet werden und aus ihrer Mitte den Nachfolger stellen.
13. Erhöhung der Mindestrenten.
14. Offenlegung und Auflösung des Parteivermögens der SED-PDS, soweit es nicht aus Mitgliedsbeiträgen abgeleitet werden kann.
15. Offenlegung aller Bevorteilungen, die an die Ausübung von Staats- und Parteifunktionen gebunden sind.
16. Einseitige Abrüstungsmaßnahmen, die eine drastische Senkung der Truppenstärke und der Militärausgaben bedeuten
17. Einrichtung eines sozialen Zivildienstes.
18. Stopp des bisherigen Bauprogramms für Atomkraftwerke und Offenlegung seiner wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen.
aus: Das Neue Forum - Selbstportrait einer Bürgerbewegung, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum
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