Das Standbein auf der Straße
Beim Ländertreffen des NEUEN FORUM, Sonntag letzter Woche in Leipzig, hielt Bärbel Bohley folgende Rede:
Wir wollen die Leute über unsere Aktion der Stasibesetzung in der Normannenstraße informieren. Diese Aktion wirft einige Fragen auf, die direkt etwas mit unserer heutigen Zusammenkunft zu tun haben.
Fast das ganze Jahr haben wir uns mit Wahlen und Bündnisverhandlungen herumgeschlagen. Dabei haben wir fast vergessen, dass wir nur das Spielbein im Parlament haben wollten, das Standbein aber auf der Straße. Bei unseren landesweiten Treffen spielten die Forderungen des Herbstes kaum noch eine Rolle. Und so haben wir auch vergessen, dass die Auflösung der Stasi eine der Hauptforderungen war. Der Einigungsvertrag sollte jetzt verabschiedet werden, und zwar ohne das Gesetz über den Umgang mit den Stasi-Akten und das Rehabilitierungsgesetz zu beinhalten. Die Abgeordneten waren immer noch nicht auf ehemalige Stasi-Mitarbeit überprüft. Herr Kirchner sitzt immer noch frech in der Volkskammer. Im Zentralarchiv der Volkskammer arbeiten immer noch 80 ehemalige Mitarbeiter der Stasi, es gab noch immer keine öffentlichen Gerichtsverfahren gegen MfS-Mitarbeiter und die politisch Verantwortlichen. Die Polit-Stasis wandelten sich unbehindert in eine Stasi-Wirtschaftsmafia um.
Die gutwilligen Abgeordneten blieben im Parlament in der Minderheit, und selbst, wenn das Parlament Einmütigkeit erzielte, wurden seine Forderungen in den Einigungsvertrag nicht aufgenommen. So blieben auch das Gesetz vom 24. August und das Rehabilitierungsgesetz auf der Strecke. Es sah so aus, als sollten die Täter eher Pensionen bekommen als die Opfer Wiedergutmachung.
Das alles ließ uns keine Ruhe und so beschlossen wir - wir, das sind Mitglieder des NEUEN FORUM und der VL, Vertreter des staatlichen Komitees zur Auflösung der Staatssicherheit und Vertreter der Umweltbibliothek - das Archiv des ehemaligen MfS zu besetzen, um noch einmal die Öffentlichkeit zu alarmieren und auf das Parlament Druck auszuüben. Am 4. September besetzten wir die Büroräume des Archivs in der Normannenstraße. Die Resonanz war groß. Von Frau Bergmann-Pohl bis zu Herrn Krause trabten alle Fraktionsvorsitzenden an, um uns zum Abzug zu bewegen. Mit einem Hungerstreik unterstreichen wir seit 12 Tagen unsere Forderungen, die euch bekannt sind.
Praktisch haben wir nicht viel erreicht, aber immerhin musste das Paket des Einigungsvertrages noch einmal aufgeschnürt werden. Und es kam eine Regelung über den Umgang mit den Akten hinein. Die Akten bleiben in der DDR, da, wo sie hingehören. Weiterhin wurde festgelegt, dass ein Sonderbeauftragter der DDR den künftigen Umgang mit den Akten regelt und dass er von Vertretern der fünf DDR-Länder dabei unterstützt werden soll.
Es sind nicht die Abgeordneteninder Volkskammer gewesen, die das erreicht haben, obwohl sie uns quer durch alle Fraktionen beteuerten, dass unsere Forderungen berechtigt sind und unbedingt eine Regelung dieser Probleme in den Einigungsvertrag gehört. Nur durch den außerparlamentarischen Druck konnte dies erreicht werden. Es hat eine große Solidarisierung in der Bevölkerung gegeben. Innerhalb von 14 Tagen unterschrieben 50 000 Menschen unsere Forderungen. In vielen Städten gab es Mahnwachen und Demonstrationen, zum Beispiel in Potsdam, Erfurt, Jena, Gera und Altenburg. In Leipzig, Gotha, Dresden, Halle und in Waren schlossen sich Menschen unserem Hungerstreik an. Der SPD- und der DSU-Parteivorstand solidarisierten sich mit uns. Wir bekamen Solidaritätstelegramme von den Grünen, der KPI, dem Künstlerbund Dresden und dem Magistrat von Magdeburg. Viele Basisgruppen des NEUEN FORUM schrieben uns, ich will nur einige nennen: Zittau, Aue, Salzwedel, Suhl, Bautzen, Kahla, Nauemburg, Salzungen bis zu kleinen Orten wie Wusterwitz. Viele unserer Abgeordneten aus den Stadtbezirken und Gemeinden schrieben uns oder sammelten Geld. Der Republiksprecherrat schickte eine Abordnung nach Bonn und machte dort mit Plakaten auf unsere Aktion aufmerksam. Das alles war sehr wichtig. Lafontaine kam, Petra Kelly, Gert Bastian, Momper und viele andere. Ralf Hirsch unterstützte unsere Aktion mit 10 000 Mark.
Allerdings gibt es auch kritische Anmerkungen. Wir sind zu den Wahlen angetreten und wollten eine andere politische Kultur ins Parlament bringen, eben weil wir ein Bein im Parlament haben wollten und das andere auf der Straße. Leider wurde bei dieser Aktion deutlich, dass das NEUE FORUM gespalten ist. Es gibt die Arbeit im Parlament, und es gibt die außerparlamentarische Arbeit. Ausdruck dieser Spaltung ist, dass sich kein Abgeordneter des NEUEN FORUM am Hungerstreik beteiligt hat, sondern dass es Christine Grabe, eine Abgeordnete der Grünen war, die sich uns sofort angeschlossen hat und später Angelika Barbe, Abgeordnete der SPD. Wie viel mehr hätten wir erreichen können, wenn sich die gesamte Fraktion des Bündnis 90 aus der stasidurchsetzten Volkskammer zurückgezogen und unsere Aktion unterstützt hätte? Dann wäre unsere Fraktion in der Öffentlichkeit präsenter gewesen als wenn sie sich in der Volkskammer ständig den Mehrheiten und der Geschäftsordnung beugt. Stattdessen wurde eine Entsolidarisierung betrieben. Zum Beispiel konnte es sich Joachim Gauck leisten, zu behaupten, dass wir eine isolierte Gruppe seien und dass es zur Zeit keine Bürgerbewegung und keine Partei gäbe, die die Forderung der Besetzer nach Herausgabe der Akten an die Betroffenen unterstütze. Wahr ist, dass es in dieser Frage unterschiedliche Meinungen geben kann. Aber bedeuten die 50 000 Menschen, die sich durch ihre Unterschrift unseren Forderungen angeschlossen haben, nichts? Welche Gründe mag es wohl für Joachim Gauck geben, diese 50 000 Unterschriften wegzureden? Sind sie nicht Teil unserer Bewegung? Müssen nicht unterschiedliche Standpunkte in Diskussionen geklärt werden, anstatt die andere Meinung ständig als Meinung einer Splittergruppe zu diffamieren?
Unsere Aufgabe ist es doch, die öffentliche Diskussion ständig neu zu entfachen und nicht im Parlament einen Konsens vorzuspielen, der in der Bevölkerung gar nicht da ist.
Wir wollten den Dialog zwischen Staat und Gesellschaft, aber kaum sind wir selbst im Parlament, soll der Dialog wieder nur auf höherer Ebene geführt werden? Schon weiß man wieder, was für "die da unten" gut ist.
Wir haben im letzten Herbst gesagt, dass wir eine Politik wollen, die von Moral, Offenheit und Wahrhaftigkeit bestimmt ist. Warum bekennen sich dann die zwei Abgeordneten unserer Fraktion, die Kontakte zur Staatssicherheit hatten, nicht zu ihrer Vergangenheit? Ich vermute, deshalb nicht, weil wir diese Werte selbst nicht mehr durchhalten. Jetzt reicht es nicht mehr, sie nur zu fordern. Jetzt müssen sie gelebt werden.
Mir wurde mitgeteilt, dass heute ein Misstrauensantrag vom Land Sachsen gegen den Republiksprecherrat und den Arbeitsausschuss des NEUEN FORUM gestellt werden soll. Ich möchte die, die diesen Antrag stellen wollen, fragen, ob sie nicht besser eine Partei gründen wollen. Diejenigen aber, die lieber weiterhin als Bürgerbewegung arbeiten, möchte ich auffordern, darüber nachzudenken, wen sie als Abgeordnete im Bundestag haben wollen. Für mich bedeutet Bürgerbewegung: Arbeit von unten. Und wenn schon jemand diese Bürgerbewegung im Parlament vertreten soll, muss er selbst wenigstens diesen Spagat aushalten, ohne dass es ihn zerreißt: Spielbein im Parlament, Standbein auf der Straße. Wer uns heute hier das Misstrauen ausspricht, misstraut im Grunde der Idee der Bürgerbewegung selbst.
Bärbel Bohley
aus: Die Andere, Nr. 36, 26.09.1990, der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram