Reinhard Schult, Mitbegründer des NEUEN FORUM:

Ein Stück Würde

DIE ANDERE: Reinhard, Du gehörst zu der Minderheit, die auf dem Gründungskongress am 27. Januar das mehrheitlich beschlossene Programm nicht mitzutragen in der Lage war. Zwei Wochen später hat diese Minderheit unter dem Namen "Fraktion Aufbruch 89" eine Programmalternative erarbeitet. Was sind die wesentlichen Unterschiede zum Papier vom Januar?

R. Schult: Es gibt verschiedene Punkte in dem Programm, die sich unterscheiden. Die Wirtschaft, die nationale Frage, die Frauenproblematik. Außerdem ist der Kultur- und Sozialteil viel konkreter. Das ist das, was ich von einem Programm erwarte - kein allgemeines, ideologisch gefärbtes Sammelsurium. Wir gehen z. B. beim Thema Wirtschaft davon aus, dass in dieser Wirtschaft noch etwas zu retten ist. Wir sollten uns nicht unter Wert verkaufen. Da geht es auch um ein Stück Würde, um Mündigkeit, für die wir angetreten sind. Eine bürokratische Planwirtschaft kann nicht auf einen Schlag in den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts überführt werden. Sie braucht einen Übergangsprozess, ein Stück staatliche Rahmenplanung. Die ist auch nötig bei den kommenden Strukturprozessen; die DDR als kleines Land kann sich die bisherige Produktenpalette gar nicht leisten, da müssen Schwerpunkte gesetzt werden. Wir haben auch nicht von sozialer Marktwirtschaft gesprochen, sondern vom sozial kontrollierten Markt. Das ist ein Begriff, der nicht so ideologisch geprägt ist. Der Markt existiert, und man kann diesen beeinflussen, sogar kontrollieren.

DIE ANDERE: Das macht ja der Westen auch.

R. Schult: ja, jeder Konzern plant, jeder Staat versucht, Einfluss auf die Abläufe zu nehmen. Der Streit geht immer darum, wie viel Handlungsspielraum gibt es da für die Privatunternehmen. Es gibt ja z. B. im Westen immer noch die Diskussion um die Mitbestimmung der Betriebsräte und Gewerkschaften bei Investitionen durch den betreffenden Betrieb. Das hat dann wieder, damit zu tun, was überhaupt produziert werden soll. Wir haben drüben die Plastetüten und Wegwerfgesellschaft, wo unheimlich viel gesellschaftliche Arbeit verschwendet wird. Man beginnt schon, das alles unkritisch zu übernehmen.

Unsere Hauptforderungen sind starke Regulative, um Wirtschaftsdemokratie und die Steuerung von Strukturprozessen zu ermöglichen. Auch die Wirtschaft sollte von unten nach oben aufgebaut werden. Zum Beispiel gäbe es schon eine Perspektive für die Bevölkerung, wenn man ein Stück Gewerbefreiheit für kleine und mittlere Betriebe, für alternative Betriebe realisieren würde. Aber wir haben den Eindruck, dass das von der Regierung und den Kommunen blockiert wird, dass die in Vorfreude des Westgeldes weder Gewerberäume noch Genehmigungen vergeben. Die Leute haben ja Geld, Ideen und Erfindergeist. Aber dieses Potential wird nicht genutzt, sondern kurzerhand durch Westkapital überschwemmt. Bestes Beispiel sind die Großkonzerne, die das Vertriebssystem der Deutschen Post übernehmen wollen und von den entsprechenden Ministerien jede Hilfe bekommen. Das hat nichts mit freier Konkurrenz und Marktwirtschaft zu tun. Sondern hier reiten ein paar Monopole mit ihren Milliarden ein, setzen sich ins Vakuum und damit ist alles gelaufen. Da versuchen wir, etwas dagegenzusetzen. Es kriselt hier zwar wirtschaftlich, aber es ist nicht alles völlig veraltet und schrottreif. Hier gibt es ein Riesenpotential an Intelligenz und Fähigkeiten, an Gebäuden, an Einrichtungen und Infrastruktur im Verhältnis zum sowjetischen Markt und zu Osteuropa. Und eine funktionierende Landwirtschaft.

DIE ANDERE: Darum sind sie ja so scharf aufs Einsteigen.

R. Schult: ja, darum auch diese zielgerichtete Kampagne, wir seien am Rande des Bankrott. Die Krise in diesem Land ist vor allem eine politische und psychologische. Und die Propaganda, die seit Monaten vom Westen aus läuft, hat auch dazu beigetragen. Viele setzen voraus, dass Marktwirtschaft contra Planwirtschaft sei. Aber wir haben den Satz im Programm "Markt und Plan sind zwei Pole einer gut funktionierenden Wirtschaft" - das wird vielen Leuten aufstoßen.

DIE ANDERE: Die ursprüngliche Aufgabe des NEUEN FORUM, eine Sammelbewegung zur Artikulierung der gesellschaftlichen Widersprüche zu sein, war im November erfüllt. Seine weitere gesellschaftliche Notwendigkeit bewies es durch Aktivitäten auf kommunaler Ebene. Hier spielten unterschiedliche programmatische Vorstellungen erst eine Rolle, als man beschloss, sich an den Volkskammerwahlen zu beteiligen. Ein konsequentes Wahlprogramm und eine breit gefächerte Bürgerbewegung schließen einander aber aus!

R. Schult: Ich denke nicht, dass sich eine Bürgerbewegung und die Beteiligung an Wahlen ausschließen müssen. Ich denke, dass es in der Anfangsphase schon einen Konsens zwischen den unterschiedlichen Richtungen gab, z. T. sogar noch gibt: die Orientierung auf die Arbeit in den Kommunen, die Entmachtung des Staats- und Sicherheitsapparates. Aber dann sind viele Leute ins NEUE FORUM reinmarschiert, die gar nicht an der Sacharbeit, sondern an der Macht interessiert waren. Ob man die losgeworden wäre, wenn man sich anders strukturiert hätte, weiß ich nicht. Aber Fakt ist, dass sie, die eine Partei wollten und wollen, diejenigen sind, die immer ideologisch argumentiert haben. Durch diese Diskussionen haben wir uns die inhaltliche Strecke blockiert. Hier ist der Initiativgruppe des NEUEN FORUM der Vorwurf zu machen, dass sie diese Diskussion zugelassen hat. Denn wir sind von vornherein angetreten, eine politische Vereinigung und keine Partei zu gründen. Wir haben das damals nicht nur gemacht, weil es kein Parteiengesetz gab, sondern auch, weil wir die Nase voll hatten von Parteien. Und dann ist da etwas passiert, was eine Bürgerbewegung nicht hätte machen dürfen - diese stark ideologischen Auseinandersetzungen über die deutsche Frage und die Wirtschaft. Da ist zu wenig vom Ist-Zustand ausgegangen worden, da ist zu wenig argumentiert worden. Da hat man zu schnell kapituliert vor angeblichen Notwendigkeiten, vor momentanen Stimmungen in der Bevölkerung.

DIE ANDERE: Ist das nicht das Problem einer Bürgerbewegung, dass sie durch ihre Breite auch unterschiedlichen Stimmungen ausgesetzt ist?

R. Schult: Das ist ein falsches Verständnis von Basisdemokratie. Für mich heißt Basisdemokratie, dass mündige Leute zusammenkommen, und sich mit Argumenten auseinandersetzen. Aber was hier passiert ist, ist eine Art Abstimmungsdemokratie, wo man ganz schnell abstimmt, noch ehe die Inhalte diskutiert sind. Aber es bringt nichts, per Abstimmung Leute niederzukämpfen. Die Widersprüche kommen an anderen Ecken wieder hoch oder zerbröseln eine Organisation.

Von da aus ist die Situation nach dem 18. März [Volkskammerwahl] günstiger, weil dann

a) die Kommunalwahlen vor der Tür stehen und

b) die Leute gezwungen sind, Sacharbeit zu leisten und sich mit konkreten Fakten auseinander zusetzen.

Nach der Wahl wird das NEUE FORUM sicher keine Massenbewegung mehr sein. Aber wenn die sozialen Widersprüche wachsen, dann hat es die Aufgabe, denen einen organisatorischen Rückhalt zu geben, die in die Bredouille geraten. Z. B. ist schon jetzt eine Selbsthilfegruppe der Alleinerziehenden an uns herangetreten. Ich halte es für wichtig, solche Aktivitäten und Gruppen zu unterstützen. Die haben doch eine ganz andere Chance, wenn sie eine politische Organisation hinter sich haben. So etwas sehe ich als Aufgabe des NEUEN FORUM. Dann wird auch wieder Verantwortung übernommen, statt dass nach Macht und Sitzen im Parlament geschielt wird.

DIE ANDERE: Warum tretet Ihr nicht von der Wahl zurück?

R. Schult: Mir ist diese Wahl nicht mehr so wichtig, denn ich sehe nicht, dass sich durch diese Wahl irgendetwas wesentlich beeinflussen lässt. Es gibt keine politische Kraft, die sich zur Wahl stellt, die noch irgendein Stück Würde und Selbstbewusstsein in diesem Land repräsentiert. Es gibt für meine Begriffe nur Schlüsselübergabe-Politiker. Aber im NEUEN FORUM scheinen nur wenige diese Meinung zu teilen.

Die einzige Chance für eine Wahl wäre gewesen, wenn sich alle Basisbewegungen + Grüne Liga + Grüne Partei zusammengeschlossen hättet. Aber da gab es wieder ideologische Sektierereien, für meine Begriffe ist dieses Wahlbündnis an allen Organisationen gescheitert. Es hat nie eine Sachdebatte stattgefunden. Es wurde immer nur gesagt, meine Basis will das nicht, und dann wurde abgestimmt - mit den Grünen ja, mit der VL nein usw.

Ich hoffe, dass die Situation nach den Wahlen doch zu einem Basisbündnis führt, das gewerkschaftlich und sozial orientiert ist und dass man in diesem Bündnis eine gemeinsame Handlungsebene findet. Mit den Dingen, die auf uns zukommen, erhalten die Bürgerbewegungen erst wieder eine wirkliche Berechtigung.

Es fragte Julia Michelis

aus: Die Andere, Nr. 6, 01.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

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