Noch sind leise Rücktritte möglich
Sebastian Pflugbeil, Minister ohne Geschäftsbereich, für flächendeckende Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit / Keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter in bestimmten Berufen
taz: Herr Pflugbeil, Sie haben als amtierender Minister zusammen mit der neuen Fraktion des Bündnis 90 massiv für eine Überprüfung der 400 Volkskammerabgeordneten auf ihre mögliche Stasi-Vergangenheit plädiert. Welches Gremium soll eine solche Überprüfung eigentlich vornehmen?
Sebastian Pflugbeil: Es ist daran gedacht, dass zusammen mit den Regierungsbeauftragten für die Auflösung der Stasi jeweils ein Vertreter der Partei, deren Abgeordneter überprüft wird, ebenfalls Akteneinsicht erhält.
Soll die Vergangenheitsbewältigung auf die 400 Volkskammerabgeordneten beschränkt bleiben?
Nein, das kann natürlich nicht sein. Die Kommunalwahlen stehen vor der Tür, und ich möchte auch keinen Bürgermeister haben, der vorher bei der Staatssicherheit gearbeitet hat. Dasselbe gilt für Richter, Staatsanwälte und Lehrer. Ich möchte auch nicht, dass meine Kinder von ehemaligen Stasi-Leuten unterrichtet werden. Das sind ganz ähnliche Probleme wie sie nach 1945 aufgetreten sind - damals hat man das sehr unbefriedigend gelöst. Ich denke wir können das jetzt gescheiter lösen. Das erfordert einigen Aufwand, spricht aber nicht dagegen, es trotzdem zu tun.
Welche Institution in der DDR ist so integer, das sie eine so flächendeckende Aufarbeitung der Vergangenheit übernehmen könnte?
Man muss da in zwei Stufen denken. Erste Stufe ist die Volkskammer. Da ist ja wohl unmittelbar einsichtig, dass niemand wichtige Ämter übernehmen kann, der früher für eine verfassungswidrige Institution gearbeitet hat. Das geht einfach nicht. Für diese 400 Leute kann das in wenigen Stunden geklärt werden. Wir wollen allen Abgeordneten die Möglichkeit geben, sich zu erklären. Wer mit der Stasi gearbeitet hat, kann jetzt noch relativ geräuschlos zurücktreten, oder aber darlegen, warum er meint, das seine Stasi-Mitarbeit niemandem geschadet hat. Bei denen, die von sich aus keine Erklärung abgeben, kann man in die Karteien schauen. Wenn sich dann doch etwas findet, haben sie zu mindestens gelogen. Das wäre Grund genug, dann intensiver in die Akten zu schauen.
Welche Chancen sehen Sie noch, dieses Verfahren zu realisieren, nachdem CDU und PDS bereits signalisiert haben, dass sie nicht mitspielen wollen.
Wissen sie, ein Rücktritt wäre jetzt noch ziemlich unproblematisch. Wenn später erst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet wird, wird es zu einem großen Spektakel, in dem es einzelnen Abgeordneten viel schwieriger wird, mit sich ins reine zu kommen. Außerdem besteht natürlich die Gefahr, dass belastende Akten verschwinden.
Welche Instanz soll denn für die Sicherheit der Akten garantieren, wenn nicht die zukünftige Regierung?
Diese zukünftige Regierung steht ja bereits unter Verdacht. Insofern ist dafür völlig ungeeignet.
Die Justiz doch offenbar auch.
Ja, die Justiz kann das auch nicht machen. Es müsste ein Gremium installiert werden, dass Vertrauen in der Bevölkerung genießt und das natürlich auch gescheckt werden muss, bevor es seine Arbeit aufnimmt. Das ist eine schwierige Sache.
Wäre es nicht einfacher, sämtliche Erkenntnisse, die die Stasi in den letzten 40 Jahren gesammelt hat, offen zu legen und für alle zugänglich zu machen?
Das ist wirklich kompliziert. Wenn alle Listen über alle Spitzel öffentlich werden, ohne das genau nachvollziehbar ist, was sie jeweils der Stasi erzählt haben, kann es zu persönlichen Rachefeldzügen kommen, die ich auch vermeiden möchte. Man kann die Akten deshalb nicht einfach in die Stadtbibliothek stellen. Aber in den Fällen, wo Leute nachweislich durch die Stasi geschädigt worden sind, berufliche Karrieren vernichtet wurden, wo Ehen kaputtgingen, bis hin zu Todesfällen, da besteht ein ganz starkes Recht der Betroffenen zu erfahren, was mit ihnen passiert ist. In diesen Fällen würde ich das Recht der Betroffenen eindeutig vor dem Risiko der Denunzianten einordnen.
Wenn Sie aus allen jetzt genannten Gründen gegen eine Vernichtung der von der Stasi gesammelten Informationen votieren, wie wollen Sie verhindern, dass sich in spätestens einem Jahr ein neuer gesamtdeutscher Geheimdienst dieses Materials bedient?
Darüber wird viel nachgedacht. Wir wollen natürlich keinesfalls, dass der Verfassungsschutz oder der BND unsere Akten bekommt. Solche Geheimdienste zielen ja von ihrer Intention immer mehr nach links als nach rechts, und solche Leute wie wir werden dann zu Beobachtungsobjekten des künftigen Geheimdienstes. Da werden wir uns etwas einfallen lassen. Bloß das ist wirklich schwierig zu lösen.
Es gibt ja Vorstellungen zur Sicherung der Akten die sich am amerikanischen Document Centre orientieren.
Das ist Unsinn. Es wäre natürlich schön für den BND oder die West-CDU, wenn sie über die Akten verfügen könnte - dann wären für die viele Probleme aus der Welt. Aber wir werden alles versuchen, dies zu verhindern.
Interview: Jürgen Gottschlich/Petra Bornhöft
aus: taz Nr. 3069 vom 28.03.1990