Ingrid Köppe, Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Grüne/UFV in der Stadtverordnetenversammlung Berlin:

BRD wird sich ein großes Protestpotential einhandeln

Ab heute wird es in Berlin auf Initiative der Fraktion Bündnis 90/Grüne/UFV wieder einen wirtschafts- und sozialpolitischen und Runden Tisch geben. Eine Institution, die im Demokratieverständnis der Bürger dieses Landes hoch angesehen ist, weil damit Hoffnungen verbunden sind. Angesichts der wenigen Tage, die der DDR noch bis zum Beitritt verbleiben allerdings, entsteht bei vielen auch die Frage, wo da noch der Sinn liegen soll.

Die gegenwärtige Situation in Berlin ist nicht, wie von beiden deutschen Regierungen versprochen, so, dass es allen besser geht. Nach der Währungsunion ist deutlich geworden, dass die Auswirkungen überhasteter Politik eben sind: steigende Arbeitslosigkeit, Zahlungsunfähigkeit der Betriebe, erhebliche Preissteigerungen und auch Lohneinbußen. Wir befinden uns in einer Krisensituation. Streiks und Demonstrationen sind nur ein Ausdruck dessen. Keine Partei hat wirksame Konzepte. Wir denken, dass es notwendig ist, dass alle Betroffenen gemeinsam mit den Politikern versuchen, Vorschläge zu machen und Spannungen abzubauen.

Das heißt also, auch nach dem 3. Oktober soll parteiübergreifend am Runden Tisch versucht werden, Schaden zu begrenzen und Konzepte zu erarbeiten?

Die wenigsten Probleme werden sich mit dem Beitritt automatisch lösen. Unsicherheit und Ungleichheit im Lande und auch in Gesamtberlin bleiben. Durch den Runden Tisch soll ein gemeinsames Vorgehen der einzelnen Interessenverbände ermöglicht werden.

Befürchten Sie nicht, dass in dieser Phase, wo die Parteien lautstark den Wahlkampf einläuten, auch der Runde Tisch als Tribüne angesehen wird, Parteipolitik an Frau oder Mann zu bringen?

Ich denke, dass einfach die Anwesenheit der Betroffenen, so Vertreter der Interessenverbände, eine Mahnung ist für Politiker. Und dass diese Betroffenen sehr genau prüfen werden, ob diese Politiker nur leere Versprechungen machen oder Konzepte anbieten. Die direkte Konfrontation am Tisch ist da ganz wichtig. Wahlkampf wird dort sehr leicht zu entlarven sein.

Bleiben wir beim Thema Wahl. Die zukünftige parlamentarische Konstellation wird ja sicher sehr große Rückwirkungen darauf haben, wie sich der Runde Tisch einbringen kann in Politik. Die 5-Prozent-KIausel ist festgeschrieben. Gerade für Bürgerbewegungen, die sich nicht im Huckepackverfahren einverleiben lassen wollen, eine fast unüberwindliche Hürde. Haben sie nach den Wahlen überhaupt noch Chancen, ihre Politik wirksam zu vertreten?

Bürgerbewegungen haben von Anfang an formuliert, dass es wichtig ist, außerparlamentarische Arbeit zu leisten, kommunal zu arbeiten und auch im Parlament vertreten zu sein. Wir bekommen jetzt vom Westen diese 5-Prozenti Klausel übergestülpt Sie ist undemokratisch, weil sie Minderheiten ausgrenzt und Ausdruck von Machtpolitik großer Parteien ist. Bedauerlich ist, dass nie eine öffentliche Debatte über diese Klausel stattgefunden hat.

Nun ist die Entscheidung festgeschrieben, und bis zu den Wahlen gibt es keine Möglichkeit mehr, daran etwas zu ändern.

Nein. Die Zeit reicht ja nicht. Es ist zu befürchten, dass aus Resignation heraus die Wahlbeteiligung sinkt. Das aber bedeutet, dass man es anderen überlässt, über sich zu entscheiden. Es gibt aber auch Leute, die sprechen von einem heißen Herbst, der uns erwartet. Hier in der DDR formuliert die Bevölkerung leichter als in der BRD ihren Unwillen. Es wird genügend Anlass geben, vor dem Bundestag zu demonstrieren. Ich glaube, dass sich die Bundesrepublik mit dieser Vereinigung auch ein großes Protestpotential einhandeln wird.

Interview: KATHRIN GERLOF

Neues Deutschland, Do. 30.08.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 202

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