Bürgerbewegungen als politischer Faktor der Zukunft?
von Jens Reich
Vor einem Jahr war alles ohne Debatte klar. Ohne diese engagierten Gruppen wären wir, ebenso wie die Tschechen oder die Polen, noch immer in der agonalen Phase der Gesellschaftsordnung, die man die sozialistische nannte.
Jetzt ist es weit weniger selbstverständlich. Das Bündnis 90 entstand nur unter schmerzhaften Geburtswehen, verstand sich zu einer mehr oder weniger wahlgesetzerzwungenen Verbindung mit den Grünen und blieb am 2. 12. allein. Nicht wir fielen durch, sondern unser West-Partner, der sich in zweifelsfreier 8-%-Sicherheit wähnte, nicht selten entsprechend gönnerhaft auftrat und dabei nicht mit den Grillen und Launen seiner Wähler gerechnet hatte. Schadenfreude ist hier völlig verfehlt - der Schlag hat gesessen, und dass die SPD einen Haken und die Grünen einen Niederschlag erwischt haben, ist auch uns auf den Magen gegangen. Wir müssen nachdenken, wie es weitergehen soll. Sind wir überhaupt als ernst zu nehmende politische Kraft möglich, oder waren wir nur Eintagsfliegen jenes merkwürdigen Herbstes, der so lange schon vergangen scheint? Es gibt drei Wege: Erstens, wir bringen uns geschlossen in eine Partei, z. B. die Grünen. Zweitens, wir lösen uns auf, und wer politisch weiterarbeiten will, geht in die für ihn nächst-verwandte Partei und hilft ihr mit seinem verbliebenen Rest an Bürgersinn aus. Drittens, wir werden eine wählbare Größe, und zwar nicht eingezwängt irgendwo zwischen FDP, SPD, Grünen und PDS, sondern senkrecht zu den politischen Schützengräben, als Angebot für Menschen, denen das Parteiengerangel nicht gefällt.
Die dritte Variante will ich hier etwas näher ansehen. Die ersten beiden sind hundertmal besprochen; da gibt es nichts zu analysieren, sondern nur zu entscheiden, ja oder nein. Die üblichen Parteien definieren sich: durch ihre Stellung bei ökonomisch-politisch-sozialen Interessenkonflikten (Steuerpolitik, Eigentumsprobleme, Subventionen, Lohnkonflikte, Rentenversicherung, staatliche Investitionen usw.) und durch das zugehörige weltanschauliche Unterfutter, oft Ideologie genannt.
Will man als Bürgerbewegung nicht entlang, sondern sozusagen quer zu den üblichen Parteistrukturen existenzfähig bleiben, darin muss man Themen ansprechen, die eine globale Lösung außerhalb von Parteisympathien und -unsympathien, ideologischen Überzeugungen und materiellen Interessen erfordern. Es gibt solche Themen. Ich will ein paar als Schlagwort benennen:
- Gefahr eines Dauerkonfliktes zwischen Nord und Süd
- der drohende Kollaps der Biosphäre
- die ungleiche Stellung der Geschlechter in allen Ecken unserer Gesellschaft und in ihrer Mitte
- das Grundrecht auf selbstbestimmte Elternschaft und das schmerzliche Problem der Schwangerschaftsunterbrechung
- die Fehlstellen in unserer Demokratie, die mangelnden Schutzrechte für Minderheiten, dass sie sich mit den Mehrheitsbeschlüssen abfinden müssen, oft durch sie unter Zwang gesetzt werden: Minderheiten, die eine andere Lebensweise, eine andere Kultur, andere Normen, andere Ideale pflegen möchten
- die Ungerechtigkeit, dass Gruppen, die keine wirtschaftlich oder politisch starke Lobby bilden, sozial benachteiligt sind
- regionale Ungleichheiten und Konflikte, die jeden in einer Region ohne Ansehen seiner politischen Stellung betreffen
- Ungleichheiten in der Belastung durch die Allgemeinheit, zum Beispiel, dass es irgend jemand speziell treffen muss, in einer lauten Straße oder neben einer Mülldeponie zu wohnen.
Greift man Themen dieser Art auf, dann muss man sich frei halten von ideologischem Gezänk, von der Links-Rechts-Denkfigur, von ökonomischen Verteilungskämpfen. Man darf nicht "Partei" ergreifen. Man muss eher der Schiedsrichter im politischen Ring sein, nicht der Boxkämpfer. Man muss die "Bürgerbewegten" aus allen Lagern ansprechen. Ihren Sinn für Demokratie und Fairness, ihre menschlichen Regungen, ihren Humor, ihre Befürchtungen. In jeder politischen Gruppierung gibt es zentrifugale Kräfte und folglich Zerreißproben. Parteien versuchen der Gefahr durch statuarische Disziplinierung Herr zu werden. Das ist wie ein Korsett. Man schnürt die politischen Bestandteile der Partei fest zusammen. Eine Bürgerbewegung kann im Gegensatz dazu nur überleben, wenn sie aus sich zentripetale, zur Gemeinsamkeit drängende Kräfte entwickelt. Im Herbst 1989 gab es das einfach. Jetzt ist es ein Problem. Diese ständig ideologisch zerstrittene Bürgerorganisation ist keine politische Kraft. Sie hat die Erbsünde begangen, sich in Konflikte und Ideologien einzumischen, für die sie wegen ihres breiten Interessenspektrums keine einvernehmliche Lösung finden kann. Die These, dass man trotz oder sogar wegen des ewigen Zanks Sympathien findet, ist ja nun anhand der Grünen und der AL deutlich widerlegt worden.
In der Uckermark gibt es Dörfer, in denen Menschen sterben, weil die Telefonverbindung zur Dringlichen Hilfe in der Stadt nicht zustande kommen. Vor einiger Zeit war ich in einer von der AL organisierten Versammlung in West-Berlin. Als jemand Milliardeninvestitionen in das verrottete Telekommunikationssystem verlangte, kamen Pfiffe und das Gegenargument, damit würde nur die kommerziell-touristische Erschließung der Region befördert, das nütze nur den Grundstückshaien und Handelsketten.
Das war ein typisches Beispiel für Ideologie vor Bürgerinteressen. So frustriert man die eigenen Anhänger. Und so hält man Leute wie mich immer noch bei der verrückten Idee einer Nicht-Partei-Quasi-Partei, die sich von Ideologie und Eigentums- und Verteilungsclinch freihält und für übergreifende Fragen Sympathie quer zu den eingegrabenen Fronten sucht.
Ich kann die linksradikale leere Phrasendrescherei nicht mehr ertragen, aber bieder-wertkonservative Ökosalatfresserei geht mir ebenso auf den Nerv. Vielleicht sollten wir einmal eine Weile schweigen? Aber wem sage ich das, in der 99. Zeile eines weiteren Artikels zur politischen Zukunft der Linken?
die andere, Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 50, Mi. 12.12.1990
Die Grünen in den alten Bundesländern gelang nicht der Sprung über die 5 %-Hürde bei der Bundestagswahl am 02.12.1990. Bündnis 90/Grüne in den neuen Bundesländern hingegen schon.