KOMMENTAR
Herzinfarkt für Realo und Fundi
Die Grünen haben keine Zeit. Sie räumen ihre Büros im Bundestag. Sie sorgen sich um ihre Stiftungen und Projekte. Ohne Geld muss vieles sterben. Aber ohne Zeit für echte Neuorientierung werden die Grünen sterben. Es wird nicht helfen, dass die Realos und der Aufbruch sich zu einem Block zusammenschließen. Die knallharte Parteistruktur wird keine Lösung sein, ebenso wenig wie der „Beschluss" mit der, Bürgerbewegungen zusammenzugehen. Könnte es nicht sein, die wollen das gar nicht? Und richtig, denn ein Zusammenschmeißen mit den Grünen wäre der Tod der Bürgerbewegungen. Die Grünen aber würden noch lange nicht wie Phönix aus der Asche in den nächsten Bundestag fliegen. Die Partei muss sich von innen erneuern. Sie muss ihr alte radikales Selbstverständnis neu finden.
Bei den Wählern sind nicht die politischen Themen hängengeblieben, sondern der unmenschliche Umgang miteinander. In einigen Städten sind die Wählerstimmen von 20 % auf 3 bis 4 % zurückgegangen. Das liegt nicht nur an einem unehrlichen, mutlosen, stinklangweiligen Wahlkampf, den ein älterer Mensch kaum noch verstehen kann. Das liegt vor allem daran, dass die Fragen des Lebens nicht mehr beantwortet werden. Es ist wichtiger, mit dem Rüstungsexport radikal Schluss zu machen, als über die "Zivilisierung des Teutonischen" nachzudenken. Die Friedensbewegung, die ökologische und die soziale Bewegung sind im Regen stehengelassen worden, während sich die Funktionäre im Trockenen Richtungskämpfe lieferten.
Die Wahlaussage der Grünen, im Sommer bereits in die Welt gesetzt, dass sie zu einer Koalition mit der SPD bereit seien, war eine Absage an ein neues Politikverständnis. Inhalte, nicht Machtinteressen müssen Koalitionen bestimmen. Die grünen und radikaldemokratischen Inhalte hatte die SPD schon im Sommer mit der Unterschrift unter den Einigungsvertrag verraten. Eine Blanko-Koalition sollte nur die Macht der Parteizentrale retten. Das war der Schwanengesang zehnjähriger grüner Politik.
Die Wählerschaft der Grünen hat ein hohes politisches Bewusstsein bewiesen. Sie ist entweder nicht zur Wahl gegangen oder hat aus Protest andere Parteien gewählt, um Bewegung in die grüne Bewegung zu bringen.
Parteien sind - ganz unabhängig von ihrer Programmatik - eigentlich immer "konservativ": Ihr Hauptaugenmerk gilt der jeweiligen Machterhaltung. Auch die Grünen haben Macht gebildet, haben die Tendenz, sich zu verfestigen, Macht nicht zu teilen. Eine Seite soll da siegen, rechts oder links, Realo oder Fundi. Die Basis aber ist aus diesem Streit draußen gelassen, sie braucht andere Strukturen, in denen sie ihre Fähigkeiten, ihre Kompetenz, ihr Engagement einbringen kann. Dieses Wahlergebnis setzt hoffentlich einen Lernprozess in Gang. Er betrifft die Grünen und die Bürgerbewegungen gemeinsam; er darf nicht damit enden, dass die einen noch mehr Partei werden und die anderen auch Partei werden.
Macht gründet nicht allein in der politischen und ökonomischen Sphäre. sondern auch in der Radikalität des Denkens und Handelns von Betroffenen. Die Grünen würden wieder eine besondere Rolle unter den Parteien bekommen, wenn sie sich von den Bürgerbewegungen schieben und inspirieren lassen. Die Grünen haben keine Zeit mehr. Die Bürgerbewegungen auch nicht.
die andere, unabhängige Zeitung für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 50, Mi. 12.12.1990
Die Grüne Partei (Wahlgebiet alte Bundesländer) scheiterte bei der Bundestagswahl am 02.12.1990 an der 5 % Hürde.