Im Gespräch mit BÄRBEL BOHLEY, Mitbegründerin des Neuen Forum und z. Z. MfS-Zentrale-Mitbesetzerin

Für mich ist wichtig: Nicht wieder zurückziehen in die alten Nischen

Bärbel Bohley, man rüstet zur Totenfeier, und dennoch sagten Sie gerade in einem Gespräch: Noch ist die DDR nicht zu Ende. Lassen Sie uns über Vergehendes, über Erfahrungen und Hoffnungen reden. Und beginnen mit einem verblassenden Hoffnungsschimmer des Herbstes 89, der vom Neuen Forum mit entfacht worden ist. Sie gehörten damals zu denen, die einen aufrechten Gang probiert und provoziert haben.

Ja, wir wollten dieses Land DDR verändern, nicht Republikflucht begehen. Wir wollten die Macht der Staatssicherheit einengen, sie möglichst auflösen. Das war ja ein Staat im Staate geworden. Und natürlich die SED von ihrer führenden Rolle entbinden, weil beides die Kreativität, die Entfaltungsmöglichkeit des einzelnen behindert hat. Die Ideologie war ja zur festen Hülle geworden, in der sich nichts mehr bewegen konnte. Da sind in den letzten Jahren so große, grundsätzliche Probleme aufgetaucht, die nicht nur die DDR und Europa betreffen. Gerade deshalb war es unerträglich, dass von Perestroika und Glasnost in der DDR nichts zu spüren war. Dennoch fanden sich Menschen, die noch Lust hatten mitzugestalten, ganz egal in welchen Bereichen, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft. Viele hat man einfach aus dem Land gedrängt.

Diese Erfahrungen sind auch die Ihren. Aber was ist denn geblieben von Ihren Zielen, von Ihren Visionen einer besseren DDR, wenn die Frage überhaupt zulässig ist, Tage vor dem Staatsbegräbnis?

Ich denke, unsere Ziele haben mit dem System DDR recht wenig zu tun. Man muss sich als Mensch überall entfalten können, mitgestalten. Nur so ist Leben möglich. Insofern stehen die Fragen nach wie vor.

Im vergangenen Herbst sind Hunderttausende für die Entfaltung von Menschlichkeit auf die Straße gegangen. Zur Ruschestraße kommen täglich um die 200 Leute, deprimiert Sie das? Ist das symptomatisch?

Nein, überhaupt nicht. Außerdem laufen ja in mehreren anderen Städten, Dresden, Erfurt, Leipzig, Halle, Zittau, Dessau, ähnliche Aktionen und das in einer Zeit, wo alle damit zu tun haben, sich neu zu orientieren, zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenamt, so dass ich mir durchaus vorstellen kann, dass bei sehr vielen Menschen dieses Problem Staatssicherheit augenblicklich in den Hintergrund gedrängt ist. Auch, weil sie sehen, dass sich da in den neun Monaten wirklich sehr wenig getan hat. Und das erzeugt natürlich in gewisser Weise Resignation, Hoffnungslosigkeit. Auf der anderen Seite diese erlebbare Solidarität - auch in Telegrammen und Briefen, 10 000 gesammelte Unterschriften für unsere Ziele -, die quer durch die Parteien geht. Gut, dass nicht eine Partei versucht, Wahlkampf daraus zu machen. Man kann sich an diesem Punkt sogar mit der DSU verbünden. Auch einzelne Kreisverbände der PDS haben geschrieben. Aber ich bedauere wirklich, dass die PDS unsere Aktion nicht als Chance nutzt, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Wenn es um Brot und Soziales geht, da bekommt man leicht eine Demonstration von 70 000 Mann zusammen. Nur wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht, da sind es wirklich nur einzelne PDS-Mitglieder, die sagen, ja, wir dürfen die Akten nicht vernichten, und wir müssen wirklich herausbekommen, was da passiert ist.

Wir geben nun In dieses vereinigte Deutschland, Wahlen stehen an, Parteien bewerben sich um die Gunst der Bürger. Sie sind angetreten als Bürgerbewegung auch mit dem Gedanken, dass sich Partei-Politik überlebt hat. Offensichtlich ist die Wirklichkeit aber anders.

Warum?

Na, nehmen wir das Parlament. Dort vertreten Parteien Parteiinteressen, oft bleibt die Vernunft auf der Strecke . . .

Ja, aber damit ist ja noch lange nicht der Beweis angetreten, dass Parteien sich nicht überholt haben. Bei den Problemen, die jetzt auf uns zukommen, sehe ich eigentlich nicht eine einzige Partei am weiten Horizont der politischen Landschaften, die zu ihrer Lösung in der Lage ist. Es gibt Unsicherheit, auch in der Bundesrepublik, weil jeder spürt, Deutschland wird sich verändern. Das ist ein großer Prozess, von dem niemand so richtig weiß, wo er hingeht. Wenn es nicht gelingt, wirklich alle Kräfte, die gestalten wollen, mit einzubeziehen, dann sehe ich für die Zukunft schwarz.

Parteien indessen können nicht langfristig denken, das hat sich ja in den letzten Jahren herausgestellt. Das betrifft nicht nur die alte SED, sondern das betrifft die CDU im Westen und die SPD, kurz, alle Parteien. Die sind pragmatisch, die denken von Wahlkampf zu Wahlkampf und haben keine langfristige Perspektive zu bieten. Ansonsten, glaube ich, könnten bestimmte Sätze, die im letzten halben Jahr gefallen sind, auch von Willy Brandt, einfach nicht gefallen sein.

An weiche denken Sie?

An die, die Denken vom deutschen Raum her bestimmen, Europa nur als Alibi benutzen, um deutsche Interessen durchzusetzen.

Das heißt, Sie setzen keine großen Hoffnungen auf die parlamentarische Arbeit des Bundestages?

Also auf dieses Parlament schon gar nicht, weil da die Mehrheiten ja so sein werden, dass man als Minderheit an den Rand gedrängt wird. Und was das bei 600 Abgeordneten bedeutet, ist klar. Wer da von uns zu Wort kommt? Das sind Rufer in der Wüste, und leider habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass irgendwie der Dunst in den Parlamenten den Leuten auch die Köpfe vernebelt, sie der Meinung sind, dass ihre parlamentarische Arbeit so ungeheuer wichtig ist. Sie verlieren sehr viel von ihrer Radikalität und sind viel eher bereit zu Kompromissen.

Natürlich, auch Bürgerbewegungen erfordern Kompromisse, aber der Kompromiss, der da gefunden wird, der wird mit Radikalität erfochten und nicht mit Zurückweichen. Im Parlament findet man sie durch Zurückweichen vor der Mehrheit. Daher halte ich sie immer ein bisschen für faule Eier.

Sie denken als Besetzer vor allem an die Rücknahme von Beschlossenem, an dessen mögliches Ersatz durch Notenwechsel?

Ja. zum Beispiel. Und um diesen Tendenzen, ich würde sie lebensfeindlich nennen, etwas entgegenzusetzen, bedarf es wirklicher Menschen, die bereit sind, ohne Rücksicht auf Machtinteressen, ohne diesen pragmatischen Sinn, zu versuchen, radikal Fragen anzugehen. Über Parteigrenzen oder Gräben hinweg. Zum Beispiel der § 218, der ist für Frauen so wichtig. In diesem Punkt können wir nicht fragen, welche Frau steht links, welche rechts ist. Wir müssen diesen frauenfeindlichen Paragraphen verhindern. So gibt es ganz, ganz viele Fragen, die unabhängig von dem politischen Standort sind und viele Menschen berühren. Das sind zum Beispiel die Fragen der Ökologie, Fragen der Demokratie, der Bürgerrechte, Zukunftsfragen, Fragen der Dritten Welt, der Ausländerproblematik. Wenn die nur in diesem Parteigerammel bleiben, bleiben sie immer ungelöst. Sobald sich Machtverhältnisse ändern, können auch Entscheidungen wieder kippen. Die Fragen werden nur gelöst, wenn ein anderes Denken entsteht.

Und das andere Denken beißt im Neun Forum, Sie sagten es irgendwann, nicht rechts, nicht links, sondern einfach unten?

Nein, also das ist ein Slogan, den ich nicht so geteilt habe. Richtig ist: In einer Bürgerbewegung müssen sich Menschen aller politischen Richtungen zusammenfinden. Von rechts, von links. Und die müssen sagen, hier gibt es ein Problem, wir wollen helfen, es zu lösen. Die Ausländerproblematik sehen doch alle Parteien - oder? Es nützt bloß nichts, auf Kosten der Ausländer kurzfristigen Wahlkampf zu machen, sondern man muss wirklich Klärung suchen. Jeder erkennt, in Europa findet wieder eine Völkerwanderung statt, aus Osteuropa kommen sehr viele Menschen zu uns.

Und das Lösungsangebot Ihrer Bürgerbewegung?

Man kann heute ein Problem nicht nur mit entweder oder lösen. Ich sehe es als ein Problem, dass die Menschen dort nicht leben können, und ich sehe unser Unvermögen, mit Ihnen zu leben, schon, weil wir so lange aus der Welt ausgegrenzt waren. Zu sagen, bleibt draußen, ist keine Lösung. Die Möglichkeiten, die sich in unserem Land anbieten, sind natürlich gering. Nicht nur ökonomisch. Da sind einfach die psychologischen Grenzen in den Menschen, die Angst um ihren eigenen Arbeitsplatz, um ihre Wohnung haben. Man muss gegen diese Enge in den Köpfen angehen, und man muss natürlich auch den Leuten in ihren Ländern helfen, man muss auf die Regierung Einfluss nehmen. Auch deshalb ist eben die Frage Europas nicht zu lösen, indem nur die DDR der Bundesrepublik angeschlossen wird. Europa reicht wirklich bis zum Ural.

Sie haben recht, von Deutschland reden viele, von Europa reden immer weniger. Reden wir mal über die NATO. Die NATO reicht bald bis zur Oder-Neiße.

Ich war immer für Entmilitarisierung, und ich muss sagen, die größte Schweinerei ist, dass die Chance verpasst wurde, wenigstens das Gebiet der DDR zu entmilitarisieren. Der Feind ist ja weg, und es werden so viele materielle Voraussetzungen benötigt, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Wo soll das Geld herkommen, wenn nicht vom überflüssigen Militär. Kann man nicht in einer Marktwirtschaft auch mit Ökologie Profit machen ?

Gysi, unser PDS-Vorsitzender, hat auf der Kundgebung am Samstag davor gewarnt, dass dieses Festhalten an der NATO damit zu tun hat, dass sich nun die neue reiche "Welt" Europa um die Dritte Welt kümmert, und zwar im negativen Sinne. Befürchten Sie das auch?

Das sind ja Befürchtungen, die sich schon in den letzten Jahren angedeutet haben. Wie jetzt gerade mit dem Krieg am Golf umgegangen wird, bestätigt das. Also, dass da plötzlich diese großen ehemaligen Militärblöcke wirklich bereit sind, gemeinsam, militärisch eventuell, vorzugehen . . . Es zeigt sich für mich zum ersten mal ganz deutlich, dass der Feind jetzt woanders gesucht wird.

Kommen wir noch einmal zur inneren Entwicklung. Ich sehe erste Beispiele, dass politisch Andersdenkende ohne Arbeit dastehen. Lehrer. In Marzahn flogen von heut auf morgen 80, darunter sind ehemalige Mitarbeiter dieses ehemaligen Ministerium, das Sie hier besetzt halten, darunter sind Leute aus der FDJ, sind Leute aus Parteischulen, aus der alten SED, Linke, allesamt fachlich kompetent. Teilen Sie die Angst vor einem Neuaufguss des Radikalenerlasses?

Ich muss ehrlich sagen, dass ich das nicht so sehe wie Sie. Weil ich sage, zum Lehrersein gehört meiner Meinung mehr als die fachliche Kompetenz. Da gehört auch eine gewisse moralische Voraussetzung und eine menschliche Größe, die ich eigentlich vom Lehrer erwarte, der mein Kind erzieht. Und die würde ich auf Anhieb so einem Menschen, der in diesem Ministerium gearbeitet hat, absprechen. Nicht, dass er ausgegrenzt werden soll. Aber Kinder zu erziehen? Es gibt in diesem Land genügend Leute, die gerne Kinder erziehen würden.

Na gut, aber das pauschale Verantwortlichmachen . . .

Nun, es ist völlig klar, dass ich gegen eine Pauschalisierung bin, aber auf jeden Fall würde ich das nicht gleich mit einem Radikalenerlass gleichsetzen.

Es gibt noch genügend andere Fragen, die die Zukunft beantworten wird. Welche Ziele haben Sie für das kommende Jahr, dann in der größeren Bundesrepublik Deutschland? Welche Probleme müssten zuerst angegangen werden?

Was heißt Bundesrepublik Deutschland? Die wird es ja auch nicht mehr lange geben, denke ich mir. Trotzdem besteht Deutschland aus zwei Teilen. Also, das ist ja nun eine Illusion zu glauben, dass es nach dem 3. Oktober nur ein Land gibt, in dem sozusagen die Menschen gleich denken, fühlen. Sie haben eine unterschiedliche Geschichte, und nach wie vor werden wir damit unterschiedlich umgehen, und genauso werden auch Entwicklungen sich unterschiedlich gestalten.

Wenn man wirklich davon ausgehen muss, dass auf unserem Gebiet 3-4 Millionen arbeitslose Menschen leben werden - da haben Sie ein Problem. Hinzu kommen Schwierigkeiten, die daraus resultieren, dass sehr viele Menschen nicht fertig werden damit, dass eine Geschichte plötzlich abbrechen soll.

Ich lese zuerst immer die kleinen Sachen in der Zeitung, beispielsweise, dass irgendjemand vom Autofahrerverband drüben gesagt hat, die in der DDR müssen jetzt erst einmal alle ihre Fahrerlaubnis nachmachen, weil sie eben zu blöd sind, mit Westautos zu fahren. Daraus kann man schlussfolgern, wie wir gesehen werden. Und so beglückt man uns mit Glasperlen. Es wird zu Spannungen in diesem Deutschland kommen.

Wie kann man die lösen? Sie müssen ja was anbieten.

Ja, ich kann Ihnen, wie gesagt, nur Bürgerbewegungen anbieten, Menschen, die sich als Menschen ernst nehmen und als Bürger auf ihre Rechte pochen, die versuchen anzupacken. Und genau darauf kommt es an. Es muss eine Solidarisierung unter den Menschen eintreten. Für mich ist wichtig, dass die Leute in der DDR nicht wieder in ihre Nischen verschwinden, in denen sie sich ja eigentlich eingerichtet hatten, mit ihren Lauben, und mit ihren Anbauwänden und mit ihrem Trabi-Sparen.

Man hat ja sehr viel zu tun mit seinen privaten Problemen, und jetzt kommen die genannten Schwierigkeiten der Gesellschaft hinzu. Wir haben immer gesagt, wir wollen direkte Demokratie, wir wollen von unten mitmachen, wir wollen Volksentscheid, und wir wollen Volksbefragung, wir wollen die Möglichkeit haben, eine andere politische Kultur einzubringen. Das sind ja eigentlich die Sachen, die auf der Tagesordnung stehen, Anliegen, die wirklich nur von der Bevölkerung verfochten werden können. Die Bürger sind da viel kompetenter als Politiker, weil sie ihr Leben direkt gestalten. Und insofern wäre das ein ganz anderer Dialog, der da zustande kommt als der zwischen Herrn, weiß ich nicht . . . aus der SPD und Herrn so und so aus der CDU, die nur mit schwarzen Aktentaschen und dunklen Anzügen von Bankett zu Bankett oder Sitzung zu Sitzung reiten. Auch deshalb sitzen 21 Leute in diesem Haus des MfS, da kommt mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung, als wenn irgendwo in der Volkskammer ein Gesetz verabschiedet wird, was dann noch nicht einmal in den Einigungsvertrag kommt. Widerstand außerhalb der Parlamente ist für mich nach wie vor wichtiger als innerhalb, denn er kann nicht überstimmt werden.

Wieder Stichwort Europa. Sollte Solidarität nicht bisherige Grenzen überschreiten?

Es gibt ja schon den Ansatz. Bürgerbewegungen in ganz Europa zu verknüpfen.

Ein neues Miteinander also. Andere, beispielsweise die sogenannten Vertriebenenverbände, halten am Althergebrachten fest . . .

Ganz sicher wird das Verhältnis zu unseren Nachbarn noch vielen Belastungen ausgesetzt werden. Ich habe oft gespürt, dass viele Nachbarn ihre Ängste nicht offen zugeben. Und sie haben Ängste vor dem vereinigten Deutschland. In weiser Voraussicht, dass der Nachbar mal sehr groß und stark wird, versuchte man, Arrangements zu treffen. Und insofern muss ich sagen, liegt die Verantwortung für ein zukünftiges Verhältnis zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn nicht nur bei den Deutschen. Also ich glaube, dass die Nachbarn ihre Ängste deutlich machen sollten. In Osteuropa darf nicht jedes Land versuchen, für sich alleine den Anschluss an Europa zu finden. Deutschland wird einen wirtschaftlichen Expansionskrieg beginnen Richtung Osten. Schon deshalb müssen sich die Länder miteinander verbinden. Was das für ein Bund wird und wie der aussieht, darüber muss man diskutieren.

Haben Sie darüber beispielsweise mit Bürgerbewegungen in der Sowjetunion geredet?

Nein, ich war jetzt noch nicht wieder in der UdSSR. Der Kontakt dahin war immer am schwierigsten.

Die unausweichliche Frage an die Künstlerin Bärbel Bohley. Wann kommen Sie wieder zum Malen?

. . . irgendwann habe ich sicher wieder Lust dazu. Das vergangene Jahr ist zum Jahr der Politik geworden.

Ein Zyklus zum Thema aufrechter Gang wäre denkbar. Ein Bild allein wird das Geschehen wohl kaum bewältigen . . .

Oh, Sie unterschätzen die Möglichkeiten der Kunst, da kann man zur Not auch einen Sonnenuntergang machen, bei denen den Leuten das Herz aufgeht. Aber Politik ist Politik.

Vielleicht wird es auch ein Sonnenaufgang.

Ja, vielleicht . . .

Für das Gespräch dankt
RENE HEILIG

Neues Deutschland, Do. 13.09.1990

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