Ein "Vermächtnis des Runden Tisches" - für den Reißwolf?

Kontroverse Debatten gab es in der Volkskammer über den Entwurf für die neue Verfassung der DDR, den der zentrale Runde Tisch vorgelegt hatte.

Der Abgeordnete Gerd Poppe von der Initiative Frieden und Menschenrechte, der in einer aktuellen Stunde des Parlaments für die Fraktion "Bündnis 90/Grüne" die Verfassungsdiskussion eröffnete, nannte den Entwurf das "Vermächtnis des Runden Tisches, dessen Arbeit eine wichtige Voraussetzung für unsere heutige parlamentarische Arbeit gewesen ist".

UZ: Worin besteht für Sie der Wert des Verfassungsentwurfs?

Bärbel Bohley: Ich sehe den besonderen Wert in der Situation, wie wir sie in der DDR haben, darin, dass im Unterschied zur Regierung, die nichts Eiligeres zu tun hat, als nach Bonn zu fahren, Leute versuchen, politisches und gesellschaftliches Leben zu gestalten. Sie vollenden die Arbeit des Runden Tisches und ziehen sich nicht zurück, sondern gestalten Staatlichkeit.

UZ: Worin besteht für Sie der Wert von Volksaussprache und Volksentscheid?

Bärbel Bohley: Beides würde noch einmal Demokratie von unten in Gang setzen. Eine Mehrheit der Wähler hat die schnelle Vereinigung und die schnelle Mark gewählt - aber im Wahlkampf fand keine Diskussion über die Inhalte und Folgen der Vereinigung statt. Die Folgen betreffen in der DDR über 16 Millionen Menschen, und darüber sollte man schon eine Aussprache führen.

UZ: Was sagen Sie zu den Vorbehalten des Regierungschef de Maizière gegen eine basisdemokratische Ergänzung der parlamentarischen Demokratie?

Bärbel Bohley: Das zeigt seine ganze Unfähigkeit zur Demokratie. Demokratie im 20. Jahrhundert ist ohne Basisdemokratie keine Demokratie. Wie wir wissen, müssen Mehrheiten im Parlament nicht immer Recht haben. Das zeigen bisherige Mehrheiten von SED und Blockparteien, zu denen die CDU gehört hat.

UZ: Woraus erklärt sich der Widerstand der konservatives Mehrheit gegen den Verfassungsentwurf, an dessen Zustandekommen Vertreter dieser Parteien am Runden Tisch mitwirkten?

Bärbel Bohley: Das ist ein Ausdruck für die Zerrissenheit der Parteien, in denen eine Diskussion stattfinden müsste, um zu einer einheitlichen Meinung zu kommen. Zum anderen ist es wohl die Wahrung der Interessen der Bundesregierung.

UZ: Es sind also eigene Ängste und vorauseilender Gehorsam?

Bärbel Bohley: Da wirkt beides. Die Chancen des Entwurfs sind derzeit schwer abzuschätzen. Wenn die DDR-Bevölkerung von den Medien über die Inhalte informiert wird, wenn die Befürworter im und außerhalb des Parlaments über alle Vorbehalte hinweg dafür zusammenwirken, wenn sich die Demokraten in der Bundesrepublik - wie die DDR-Bürger aus vitalem Eigeninteresse - in diesen Diskussionsprozess einschalten, dann besteht die Möglichkeit, dass außerparlamentarische Mehrheiten den öffentlichen Druck entwickeln, der angesichts der konservativen Mehrheit in der Volkskammer für eine neue, angereicherte Verfassung notwendig ist.

Werner Finkemeier

unsere zeit, Fr. 04.05.1990

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