Wir wollen keine Maggy Thatchers werden

Das NEUE FORUM zwischen Bürgerbewegung und Partei

Für den Aufbruch im Herbst des letzten Jahres ist die politische Bedeutung des NEUEN FORUM unumstritten. Die Forderung nach seiner offiziellen Zulassung entsprach dem Wunsch vieler Menschen, endlich dem Filz aus SED, Stasi und Staat etwas entgegenzusetzen und den miefigen Zustand der Gesellschaft aufzubrechen.

Inzwischen hat sich die Situation radikal geändert. Eine durch Wahlen legitimierte Regierung der Großen Koalition ist emsig dabei, die wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Landes denen des zweiten deutschen Staates anzupassen, damit die Vereinigung reibungslos über die historische Bühne gehen kann.

Wo vorher Hoffnung war, herrscht jetzt Ernüchterung, sogar Angst vor. Immer deutlicher wird, dass soziale Interessen der Mehrheit der Bevölkerung in diesem Prozess kaum Berücksichtigung finden und die Menschen immer weniger Chancen haben, ihre Forderungen an das Ohr der jetzt Herrschenden dringen zu lassen. Was kann eine Bewegung der Bürger und Bürgerinnen, wie sie das NEUE FORUM ist, in diesem Prozess sein? Was wollen die in den Basisgruppen verbliebenen Menschen durch ihre Arbeit erreichen? Und vor allem - wie wollen sie etwas erreichen? Das waren die zentralen Fragen auf dem nunmehr fünften Landesweiten Treffen, zu dem etwa 440 Delegierte nach Strausberg bei Berlin angereist waren, "Das NEUE FORUM hat viele Zerreißproben überstanden ... Die Revolutionäre sind ausgebrannt, nach zwei Wahlkämpfen sind die Kräfte verschlissen, zu zwei weiteren Wahlkämpfen sollen wir genötigt werden", mit diesen Worten eröffnete der Berliner Sprecher Reinhard Schult die Tagung. Damit war ein zentraler Streitpunkt benannt: Kann eine Bürgerbewegung, die bis jetzt keine Zeit fand, ihre Streikturm auszubauen, bei der es mit der Kommunikation landesweit hapert und damit auch die Arbeitsfähigkeit nicht immer gesichert ist, es sich leistet, weiterhin den Hauptteil ihrer Kraft darauf zu verwenden, eine parlamentarische Vertretung zu installieren?

"Wir sind bereit, Verantwortung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu übernehmen", erinnerten mehrere Delegierte an die vor der Volkskammerwahl getroffene Entscheidung. Und so begann die lange Diskussion über den weiteren Weg dieser Bürgerbewegung, die als außerparlamentarische begonnen hat, jetzt mancherorts den Bürgermeister stellt und, wenn auch als Minderheit, in der Volkskammer vertreten ist.

Über die Teilnahme an den Landtagswahlen war keine lange Debatte nötig. Die Chancen, auf dieser Ebene tatsächlich wirksam werden zu können, stünden gut, die Mitarbeit an den Länderverfassungen sei absolut notwendig. Da wie bei den Volkskammer- und Kommunalwahlen offene Listenverbindungen möglich sein werden, steht den verschiedenen Wahlbündnissen nichts im Wege - jeder Partner kann dabei seine Eigenständigkeit behalten. Die Erfahrungen der Kommunalwahlen haben ein neues Selbstbewusstsein erzeugt. Besonders dort, wo das NEUE FORUM nicht in Wahlbündnissen, sondern allein angetreten war, hatte es oft bessere Ergebnisse erzielt. So hat das NEUE FORUM im zukünftigen Land Mecklenburg-Vorpommern bereits beschlossen, keine Wahlbündnisse einzugehen, im Land Sachsen haben sich die Bezirke Dresden und Chemnitz ebenso entschieden, und in Thüringen bahnt sich an, ebenfalls auf jegliche Listenverbindungen zu verzichten. Einer Infas-Umfrage zufolge hätten am 1. Juli bei Landtagswahlen fünf Prozent der Wählerinnen und Wähler dem NEUEN FORUM ihre Stimme gegeben.

Wahlen - gesamtdeutsch

Schwierig wurde die Debatte erst, als es um die gesamtdeutschen Wahlen ging, denn der zu erwartende Wahlmodus lässt keine Wahlbündnisse zwischen eigenständigen Organisationen zu. Allein anzutreten, schien den meisten Delegierten wenig aussichtsreich. Den Kriterien, nach denen eine Organisation in der Bundesrepublik als Partei gilt und an dieser Wahl teilnehmen darf, genügt das NEUE FORUM zwar, aber es müsste bei einer 5%-Klausel 23 % der Wählerstimmen auf dem Gebiet der DDR erringen, bei einer Sperrklausel von 3 % wären 14 % zu erreichen. Also standen drei Möglichkeiten zur Entscheidung: sich zur Wahl stellen im Rahmen einer sogenannten Wahlpartei, bestehend aus den Bürgerbewegungen, der Grünen Partei der DDR und den West-Grünen, auf Listen anderer Parteien anzutreten oder sich an den Wahlen überhaupt nicht zu beteiligen.

Während die einen die Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachten, nach der ihnen die Arbeit vor Ort mehr einbringt als regelmäßig von einer Regierungsmehrheit abgeschmetterte Anträge, wie wöchentlich in der Volkskammer zu beobachten, sahen andere das Vorhandensein von Vertretern und Vertreterinnen der Bürgerbewegungen auf der höchsten parlamentarischen Ebene als notwendig an, um die eigenen Belange wenigstens ins öffentliche Gespräch zu bringen. Ob der Preis dafür nicht zu hoch ist, darüber waren sich selbst die Volkskammerabgeordneten Jens Reich und Werner Schulz uneinig. Ihre Erfahrungen konnten die Debatte also auch nicht entscheiden.

Ein Antrag, sich nicht an den ersten gesamtdeutschen Wahlen zu beteiligen es aber den Mitgliedern freizustellen, auf Listen anderer Parteien zu kandidieren, wurde von der Mehrheit der Anwenden abgelehnt. Die Begründung für diesen Antrag bestand darin, dass der Charakter des NEUEN FORUM auch einem vierten Wahlkampf in diesem Jahr ein anderer wäre: "Von einer Bürgerbewegung würde es zu einer Wahlpartei degenerieren." Da die Strukturen in der Bewegung es schon jetzt nicht mehr erlaubten, dass beispielsweise Frauen mit Kindern, die keinen oder einen uneinsichtigen Lebenspartner haben, sich in politische Funktionen wählen zu lassen, sprachen sich Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe "Frauen im NEUEN FORUM" ebenfalls dagegen aus, sich am 2. Dezember zur Wahl zu stellen. Sie fürchten, dass die Strukturen in der Bewegung sich dann verfestigen und die begehenden Sachzwänge eine gleichberechtigte Mitarbeit aller - aber ihren Bedingungen gemäß - verhindern. "Unsere Mitglieder, besonders viele Frauen, werden das NEUE FORUM verlassen, wenn es eine Partei würde. Wir wollen keine Maggy Thatchers werden", hieß es. Starke Worte, die zum Glück nicht auf die Probe gestellt wurden.

Die Frage, ob es nicht besser wäre, die vier Jahre bis zur nächsten Wahl des Reichs, Bundes- oder wie auch immer genannten -tages zu nutzen, um eine gesamtdeutsche Bürgerbewegung wachsen zu lassen, die dann eventuell politisch wirksamer agieren könnte - außerparlamentarisch und im Parlament - wurde von dem anwesenden Gast aus dem Bundesvorstand der Grünen, Christian Ströbele, damit beantwortet, dass sie im Westen immerhin 20 Jahre gebraucht hätten, um ins Parlament zu kommen.

Der Haken bei der Sache

Die Diskussion um das "Ob" war immer begleitet von dem "Wie", denn die Grünen-West hatten angeboten, Kandidaten und Kandidatinnen der DDR-Bürgebewegungen und der östlichen Schwester auf ihren Listen antreten zu lassen. Da dies von der Bildung grüner Landesverbände begleitet sein muss, meldeten viele Delegierte Identifikationsprobleme an. Schließlich hatten bei beiden vergangenen Wahlen mehr Menschen Gründe, die Bürgerbewegungen zu wählen als die Grüne Partei der DDR. Sie wurden damit beruhigt, dass diese Landesverbände ja unter der Bezeichnung Grüne/NEUES FORUM, Grüne/Bündnis 90 oder wie auch immer gewünscht in den Wahlkampf gehen könnten. Den Pferdefuß hat Christian Ströbele den Delegierten aber nicht mitgeteilt: Die Fraktion im Bundestag muss aus juristischen Gründen dann den Namen Die Grünen führen und diejenigen, die die Landesverbände bilden, müssen Mitglieder der Grünen werden. Deren Statut schließt aber im Gegensatz zu dem des NEUEN FORUM die Mitgliedschaft in anderen Parteien aus. Und wenn das NEUE FORUM von den West-Grünen nach bundesrepublikanischem Recht als eine Partei betrachtet wird, könnte es sein, dass die betreffenden Leute aus dem NEUEN FORUM austreten müssen. Die Delegierten fühlten sich nicht berechtigt, darüber eine endgültige Entscheidung zu treffen und verwiesen das Problem an die Basis zurück.

Obwohl Übereinstimmung darüber bestand, sich weiterhin als parteiübergreifende Bürgerbewegung zu verstehen die wie bisher entschieden für die Demokratisierung der Gesellschaft eintritt und dabei die Interessen der Benachteiligten und an den Rand Gedrängten zu den eigenen zu machen, wurde diesem Aspekt vergleichsweise wenig Zeit gewidmet. Und in der Diskussion um die Wahlbeteiligung war die Reformbedürftigkeit der parlamentarischen Strukturen nicht im Blick. Für Demokratisierung zu kämpfen, die Parteienlandschaft mit ihren Gräben zwischen den Menschen aufbrechen zu wollen, heißt aber, den Parlamentarismus an sich zu verändern. Eine Arbeitsgruppe, die den Minimalkonsens für das Spektrum der Bewegung formulierte, hatte zu diesem Gesichtspunkt wichtige Aspekte festgehalten, so die Forderung nach der Stärkung jeder Legislative gegenüber der Exekutive, nach Abschaffung des Fraktionszwanges oder nach Gleichbehandlung aller Fraktionen unabhängig von ihrer Stärke. Ein gesamtdeutsches Wahlrecht nach dem gegenwärtig geltenden DDR-Modell - ohne Sperrklauseln und mit der Möglichkeit von Listenverbindungen auf allen Ebenen - wird angestrebt. Dabei geht es nicht um das egoistische Interesse, als kleiner Verein wählbar zu sein, sondern darum, die Elemente direkter Demokratie zu stärken.

Jeder Bürger und jede Bürgerin soll die "eigenen Angelegenheiten unmittelbar selbst in die band nehmen können". Das größte Problem für die immer noch 10 000 Mitglieder scheint es zu sein, dass das im Moment so wenige Menschen wollen. Für die noch Aktiven häuft sich die Arbeit. Organisationsarbeit, Aufrechterhalten und Ausbauen der Kommunikation, Verbindungen zu Vereinigungen wie Mieterschutzbund oder Arbeitslosenverband herstellen, kommunale Probleme. Mitarbeit in den diversen Parlamenten, Anschieben von Initiativen - die Arbeit ist kaum zu schaffen. Aus welchen Quellen speist sich der Optimismus? "Die Probleme, die uns auf die Straße brachten, sind noch lange nicht gelöst. Soziale Gerechtigkeit ist entfernter denn je, nicht einmal die Verbrechen der Stasi sind alle aufgedeckt." Und: "In die Volkskammer wurden wir mit so wenig Prozenten gewählt, weil hinter uns kein Geld steht. Jetzt merken die Leute, dass sie von dem Geld der CDU auch nichts sehen. Vielleicht sehen sie nun doch, dass ihnen nichts geschenkt wird, dass sie sich allein drum kümmern müssen. Und für diese Leute müssen wir da sein, müssen wir durchhalten."

Elsa Roth

die andere Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 26, Mi. 18.07.1990

Das 5. DDR-weite Delegiertentreffen fand im Kulturtrakt der Nationalen Volksarmee in Strausberg vom 06.7. bis 08.07.1990 statt. Der Republiksprecherrat wird nach Auflösung der Bezirke den Länderstrukturen angepasst.

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