DDR 1989/90 Brandenburger Tor


DIE NELKEN

Marxistische Partei

DIE NELKEN gehen von einer veränderten historischen Situation aus. Die Entwicklung der Produktivkräfte in den sich sozialistisch nennenden Ländern hat den Imperialismus nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Korruption, Amtsmissbrauch und Bürokratenherrschaft einer volksverachtenden Führungsclique aller Schattierungen hatten ihre Wurzeln in der engen Verflechtung mit den Grundlagen des Stalinismus. Die Werktätigen wurden von der Basis ihrer Macht - dem Eigentum an Produktionsmitteln - getrennt und so von der Machtausübung ausgeschlossen. Die Folgen:

- permanente Mangelwirtschaft,

- wachsende allgemeine Unzufriedenheit,

- politische Entmündigung.

Die bisherigen Machthaber wollten mit dem von ihnen installierten System ihre eigene, persönliche Macht erhalten und ausbauen. Rosa Luxemburg warnte vor einer Herrschaft sozialistischer Diktatoren, denen das Volk treu dienen möge, bis es reif ist für das Weihnachtsgeschenk Demokratie. Dass wir diese Warnung in den Wind schlugen, kostete weltweit Millionen Opfer. Der Zusammenschluss einer Vielzahl gesellschaftlicher Kräfte setzte dem ein Ende.

Aus der nicht vom Volk verursachten kritischen Lage unseres Landes ergeben sich zwei Entwicklungsmöglichkeiten:

- Hinwendung zum Imperialismus mit allen Konsequenzen

- Schritte zu einem Sozialismus, den es bisher nicht gab. Es gibt ihn nur: Freiheitlich. Demokratisch. Humanistisch.

Ausgehend von der Tatsache, dass gerade die sich entwickelnden, neuen Produktivkräfte Sozialismus ermöglichen, wollen DIE NELKEN einen sozialistischen Entwicklungsweg der DDR.

Das verlangt wissenschaftliche Politik auf der Grundlage des Marxismus und auf der Basis gemeinsamen Handelns der marxistischen Kräfte. Ihr Ziel ist die Sicherung einer ständig wachsenden Lebensqualität der Werktätigen. Dazu brauchen wir Gewaltlosigkeit im eigenen Lande und Frieden mit unseren Nachbarn.

Notwendig ist eine umfassende Wirtschaftsreform:

1. Herstellung des unmittelbaren gesellschaftlichen Eigentums an den in Artikel 12 der DDR VerfassungArtikel 12 der Verfassung der DDR aufgeführten Produktionsmitteln, bei Sicherung der Erwirtschaftung und Verteilung des Gewinns in eigener Zuständigkeit der Kombinate und Betriebe.

2. Förderung weiterer Formen des gemeinschaftlichen Eigentums.

3. Unterstützung von Privatinitiativen zur Gründung kleiner und mittlerer Betriebe des Handwerks, des Handels, des Dienstleistungsgewerbes und der materiellen Warenproduktion.

4. Erneuerung der materiell-technischen Basis durch moderne Techniken und Technologien bei Verbesserung der ökologischen Gesamtsituation.

5. Gleichberechtigte internationale Wirtschaftskooperation bei Herausbildung einer effektiven Wirtschaftsstruktur im Inland.

6. Marktwirtschaft bei gesellschaftlicher Rahmenplanung zur Sicherung der Bedürfnisse der Menschen.

7. Materielle Sicherung des gesellschaftlichen Lebens ausschließlich durch Besteuerung.

Wir wollen:

- eine marxistische Partei, deren Mitglieder bereit sind, aktiv die Ziele dieser Partei zu vertreten und die Interessen der Werktätigen mitzutragen;

- einen Staat schaffen, der die Verwaltung von Menschen durch eine Verwaltung von Sachen im Dienste der Menschen ersetzt;

- eine Gesellschaft anstreben, die die Freiheit jedes einzelnen Menschen verwirklicht und damit die Freiheit aller garantiert;

- alle Strukturen, die der Unterdrückung des Volkes dienlich sind, beseitigen und ihre Wiederherstellung verhindern;

- die direkte Einflussnahme der Werktätigen auf Politik und Wirtschaft durchsetzen;

- an einer gemeinsamen Plattform aller demokratischen linken Kräfte mitwirken und auf der Basis gemeinsamer Interessen mit allen demokratischen Organisationen und Parteien zusammenarbeiten;

- gegen jede Form eines gewaltorientierten Nationalismus, gegen faschistische Ideologien, gegen Rassenhass und Ausländerfeindlichkeit auftreten;

- für Gedanken-, Meinungs- und Religionsfreiheit eintreten;

- eine Entmilitarisierung des gesellschaftlichen Lebens;

- die Gleichberechtigung sozialer Minderheiten und aller an den Rand gedrängten Gruppen sowie ihre Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben;

- die altersgerechte Einbeziehung aller Jugendlichen in staatliche und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse sowie Befähigung zur sachkundigen Mitwirkung;

- das direkte Mitspracherecht Jugendlicher auf betrieblicher und kommunaler Ebene;

- ein lebens- und berufsorientiertes Bildungswesen sowohl auf humanistischem als auch auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet bei Entwicklung spezieller und individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten;

- gesellschaftliche Anerkennung der für die Erziehung der Kinder im Haushalt erbrachten Leistungen;

- Konzepte entwickeln, die eine soziale Isolierung für Frau oder Mann verhindern, wenn sie sich ganz den Kindern zuwenden und aus anderen Gründen ihre wesentliche Arbeit im Haushalt verrichten;

- eine umfassende Abrüstung auf das geringstmögliche Niveau sowie militärische Strukturen der Nichtangriffsfähigkeit im internationalen Maßstab und eine Entmilitarisierung beider deutscher Staaten.

DIE NELKEN sind keine Gegner nationaler Einheit, wohl aber Gegner eines Anschlusses, der die DDR zum deutschen Hinterhof macht. Vereinigung kann nur aus der Einigung zweier souveräner Staaten hervorgehen. Wir lehnen eine schnelle Währungs- und Wirtschaftsunion mit der BRD ab, weil sie die sozial Schwachen - Rentner, Geschädigte, alleinerziehende Elternteile (meist Frauen) - in die Armut und an die Existenzgrenze treiben würde.

Wir wollen unsere Ansichten und Absichten nicht verheimlichen: Die Wahrheit kann nicht davon abhängen, wem sie dienen soll.

Wir fordern:

- Aufarbeitung der Geschichte. Öffnung der Archive;

- umfassende Kontrolle des Staates durch die Bürger und Möglichkeiten für sie, Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer Rechte zu ergreifen;

- das umfassende Recht auf Informationsfreiheit bei der Wahrung der Rechte der Persönlichkeit und der allgemein anerkannten Geschäftsgeheimnisse;

- Bildung von entscheidungskompetenten Betriebsräten der Werktätigen und Erlass eines entsprechenden Gesetzes;

- Auflösung bestehender und Nichtzulassung neuer Organisationen und Parteien in Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen;

- Schüler-, Lehrlings-, Studentenkomitees an den Bildungseinrichtungen;

- Aufnahme der Institutionen Volksbegehren und Volksentscheid (Volksgesetzgebung) in die Verfassung der DDR;

- Herstellung eines Rechtssystems der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Ausführung (Regierung) und Rechtsprechung unter folgenden Voraussetzungen:

a) direkte Unterstellung der exekutiven Organe (Regierung, Polizei) unter die Volksvertretungen, das heißt

I. Befugnis der Volksvertretungen, Entscheidungen der Exekutive aufzuheben, abzuändern oder zu ersetzen;

II. umfassende Kontrolle der Exekutivorgane durch die Volksvertretungen und rechtliche Sanktionen bei Anmeldung solcher Kontrollen;

b) jederzeitige Rechenschaftsforderung durch die Wahlversammlung des Wahlkreises an die Volksvertreter mit der Möglichkeit des Vertrauensentzuges;

c) generelle Freistellung der Volksvertreter von der Erwerbstätigkeit zur Wahrnahme ihrer Aufgaben im Interesse der Wähler, verbunden mit einer Tätigkeitsbeschränkung auf maximal zwei Wahlperioden;

d) Absicherung der beruflichen Weiterentwicklung von Volksvertretern;

- Gewährleistung des Datenschutzes für jede Person und damit Schutz der Personenkennzahl;

- das verfassungsmäßig verbriefte Streikrecht;

- den Widerstand aller demokratischen Kräfte gegen jeden Versuch, eine Pogromstimmung zu erzeugen;

- einen menschenwürdigen Strafvollzug, in dessen Verlauf bereits Wiedereingliederungsmaßnahmen stattfinden.

DIE NELKEN
Büro des Hauptvorstandes
Rungestraße 3-6
Berlin
1020
Tel.: (...)

aus: Politische Parteien und Bewegungen der DDR über sich selbst, 1. Auflage, Staatsverlag der DDR, Berlin 1990, Redaktionsschluss 28.02.1990, ISBN 3-329-00734-6

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