MfS, ZIAG, Nr. 433/89

Berlin, 02.10.1989

Information an Honecker, Stoph, Mittag, Dohlus, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Krenz, Schabowski, Herger, Krauße, Löffler, Mittig, Großmann, Neiber, Schwanitz, Axen, Keßler, Krolikowski, W., Sindermann, Tisch, Lange, Dickel, Sorgenicht, intern MfS.

Streng geheim!
Um Rückgabe wird gebeten!

Information über die Verhinderung einer geplanten zentralen Zusammenkunft zur Konstituierung einer oppositionellen Sammlungsbewegung "Demokratischer Aufbruch"

Mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung einer von feindlichen, oppositionellen Kräften am 1. Oktober 1989 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, geplanten Zusammenkunft zur Bildung einer DDR weiten oppositionellen Sammlungsbewegung "Demokratischer Aufbruch" (vgl. Information des MfS Nr. 432/89 vom 29. September 1989) wurden auf der Grundlage zentraler Festlegungen Gespräche geführt durch

- den Staatssekretär für Kirchenfragen, Gen. LÖFFLER, mit Bischof FORCK,

- den Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters des Rates des Stadtbezirks Berlin Friedrichshain für Inneres mit Superintendentin LAUDIN sowie

- Stellvertreter der Vorsitzenden für Inneres derjenigen Räte der Bezirke und Kreise, aus denen Teilnehmerhinweise für die geplante Veranstaltung vorlagen mit zuständigen kirchenleitenden Personen.

Die Gespräche verliefen sachlich; die Mehrzahl der kirchlichen Amtsträger reagierte zu dem aufgeworfenen Problem und diesbezüglichen staatlichen Erwartungshaltungen ohne Kommentar. Bischof FORCK erklärte, von einer derartigen, von Pfarrer EPPELMANN organisierten, Veranstaltung zu wissen. In einem Gespräch mit EPPELMANN habe er unter Bezugnahme auf die Pfarrerdienstordnung festgelegt, dass eine solche Veranstaltung in der Samariterkirche nicht durchgeführt werden dürfe. Superintendentin LAUDIN gab vor, nichts von der geplanten Zusammenkunft zu wissen.

Den Feststellungen des MfS zufolge unternahmen jedoch bekannte Inspiratoren/Organisatoren sowie als Teilnehmer der geplanten Zusammenkunft vorgesehene Personen in der Hauptstadt Berlin und in den Bezirken der DDR weitergehende Aktivitäten, die ein Festhalten an ihrer beabsichtigten Zielstellung erkennen ließen. Dementsprechend wurden die weiter festgelegten differenzierten polizeilichen Maßnahmen zur Kontrolle und Zurückweisung von Personen sowie zur Kontrolle und Blockierung ausgewählter kirchlicher Objekte in der Hauptstadt Berlin durchgeführt.

Im Ergebnis dessen ist es den genannten feindlichen, oppositionellen Kräften nicht gelungen, eine zentrale Zusammenkunft zur Konstituierung des "Demokratischen Aufbruch" durchzuführen.

Den sich am 1. Oktober 1989 ab 14.00 Uhr vor der Samariterkirche in Berlin Friedrichshain einfindenden Personen - insgesamt wurden ca. 50 Personen festgestellt - wurde durch Einsatzkräfte der DVP mit dem Hinweis darauf, dass die vorgesehene Zusammenkunft nicht genehmigt und demzufolge staatlicherseits untersagt ist, der Zutritt zur Kirche verwehrt.

Entsprechend den von den Organisatoren vorbereiteten Ausweichvarianten begab sich danach ein Teil der Versammelten zu der in einem kirchlichen Gebäude in der Wilhelm Pieck Straße befindlichen Wohnung des Pfarrers NEUBERT (Studienreferent des Bundes Evangelischer Kirchen - BEK - in der DDR) und ein weiterer Teil in das Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde Alt Pankow, um dort im kleinen Kreis entsprechend ihren politischen Vorhaben tätig zu werden. Bei diesen Personen handelt es sich nach bisherigen Feststellungen fast ausschließlich um bekannte reaktionäre kirchliche Amtsträger und andere feindliche, oppositionelle Kräfte wie die Pfarrer EPPELMANN, SCHORLEMMER, MECKEL, ALBANI, PAHNKE, Probst FALCKE, Pastorin MISSELWITZ, Vikar SCHATTA, den kirchlichen Mitarbeiter LIETZ, den Synodalen FISCHBECK und den Herausgeber des bekannten nichtgenehmigten Druckerzeugnisses "Pechblende", BELEITES.

Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen wurden im Rahmen dieser Zusammenkünfte Entwurfspapiere für die politische Konzeption ("Programmatische Erklärung") sowie die Struktur und die Organisierung (Statut/Satzung) der oppositionellen Sammlungsbewegung "Demokratischer Aufbruch" beraten und präzisiert (vgl. Anlage).

Zur Klärung des Charakters der Zusammenkunft im Gemeindehaus der Kirchengemeinde Alt Pankow begab sich der Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters des Stadtbezirkes Berlin Pankow für Inneres zu den dort Versammelten, unter denen sich Bischof FORCK befand. In Leugnung des tatsächlichen Anlasses und Inhaltes der Zusammenkunft erklärte dieser, dass man im Rahmen einer ökumenischen Begegnung über aktuelle Fragen von Frieden und Gerechtigkeit rede. Er verweigerte die Einsicht in Diskussionspapiere (es handelte sich nachweislich um Papiere gleichen bzw. analogen Inhalts und Charakters wie den in der Anlage beigefügten) und kam der Aufforderung, die nicht religiösen Charakter tragende Zusammenkunft zu beenden, nicht nach.

Nach Beendigung der Zusammenkünfte im kleineren Kreis trafen sich EPPELAMNN und die Pfarrer NEUBERT und PAHNKE in der Zeit von 23.00 bis ca. 24.00 Uhr mit in der DDR akkreditierten Korrespondenten westlicher bürgerlicher Medien, darunter HEBER/ARD Hörfunk, SCHWARZ/"Der Spiegel" und KERN/"Saarbrücker Zeitung". Sie informierten über die Ergebnisse der Beratungen, die staatlichen Maßnahmen zur Unterbindung einer zentralen Zusammenkunft und das weitere Vorgehen. So wolle man eine geplante "Zukunftswerkstatt" am 6. Oktober 1989 in der Erlöserkirche in Berlin Lichtenberg und eine selbst zu organisierende Zusammenkunft am 29. Oktober 1989 zur weiteren "Herausbildung" der Initiative "Demokratischer Aufbruch" nutzen. Durch NEUBERT ist vorgesehen, unter Nutzung der technischen Möglichkeiten des BEK die Beratungsmaterialien zu vervielfältigen, um sie danach "Interessenten" zugänglich zu machen.

Durch das MfS wird an der weiteren Aufklärung und Aufdeckung von Plänen zur Bildung einer oppositionellen Sammlungsbewegung "Demokratischer Aufbruch" gearbeitet.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

Anlage zur Information Nr. 433/89

Demokratischer Aufbruch - ökologisch, sozial

Wir haben uns entschieden, in diesen Tagen gemeinsam aufzubrechen - zu einer umgestalteten Gesellschaft.

Es geht uns darum, dass Menschen das Leben in diesem Land wieder bejahen können. Wir laden Euch ein, gemeinsam mit uns zu gehen! Wir grenzen uns von keinem Menschen, keiner Gruppierung, keiner Vereinigung ab, die ihrerseits unterwegs sind zu einer demokratischen Umgestaltung des Lebens in diesem Land. Wir bejahen die Vielfalt der Bemühungen, aber gehen eigene Schritte in demokratischer Verbindlichkeit.

In einem Programmentwurf geben wir Rechenschaft über die Richtung unserer Gedanken. Er wird Interessierten zugänglich gemacht.

Wir brechen auf zu einer offenen, mündigen, demokratischen Gesellschaft! Sie soll für die Menschen durchschaubar sein, durch die Menschen kontrollierbar und veränderbar. Das betrifft alle Bereiche des, Staates und der Gesellschaft: Justiz, Bildungswesen, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Wirtschaft, Kommunalwesen, alle Bereiche der Kultur und der Innenpolitik. Deshalb streben wir konsequent die Trennung von Staat und Parteien an - damit alle Menschen sich für die Gestaltung des Lebens verantwortlich fühlen können.

Wir brechen auf zu einer ehrlichen Offenlegung aller Umweltprobleme! Die Menschen unseres Landes müssen endlich die Wahrheit erfahren über die Verschmutzung und Belastung des Wassers, über die gesundheitsschädigende Belastung der Luft, über das Ausmaß der Schädigung des Waldes, über die belastende Situationen in sehr vielen Städten. Die Menschen unseres Landes haben ein Recht, in aller Klarheit zu erfahren, welche Probleme auf sie zukommen und schon bestehen - um Verantwortung für die Umwelt übernehmen zu können, um die Natur als Grundlage des Lebens und dieses Land wieder lieben zu können.

Wir brechen auf zu einer neuen sozialen Solidarität in der Gesellschaft! Zu einer ehrlichen, sozialen Politik, die die erklärten Prinzipien sozialer Gerechtigkeit unserer Gesellschaft bejaht, aber gerade deshalb die entstandenen Ungleichheiten, Privilegien, Sozialkonflikte und Härten mit aller Deutlichkeit bewusst macht, um gerechtere Zustände herbeizuführen. Wir nennen die Benachteiligung der Menschen in den Sozialberufen, die zynische Behandlung der Rentner und alten Menschen, die Verdrängung von Randgruppen aus dem Blickfeld der Gesellschaft und vielfältige Formen von Benachteiligung.

Wir brechen als mündige Menschen auf zur Umgestaltung dieser Gesellschaft. Das, was bis jetzt praktiziert wurde, reicht nicht mehr aus! Das bisherige Konzept wird den Problemen und den Menschen nicht mehr gerecht, so dass sich gerade junge Menschen enttäuscht und verbittert von diesem Land abwenden und es verlassen. Die bisherigen Worte, Programme und Phrasen sind ausgehöhlt und verbraucht! Wir fordern Euch auf: Lasst uns gemeinsame Schritte zu einer menschenwürdigen, bejahenswerten Umgestaltung der Gesellschaft gehen: demokratisch, ökologisch, sozial, antifaschistisch, gewaltlos.

1. Oktober 1989 / Berlin
Demokratischer Aufbruch (DA)

Ansprechpartner für die Zusammenarbeit und die Bildung von Gruppen im Rahmen dieses Aufbruchs sind die Unterzeichnenden dieses Aufrufes.

aus: "Ich liebe euch doch alle..." Befehle und Lageberichte des MfS, Januar-November 1989, BasisDruck Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1990, Herausgegeben von Armin Mittler und Stefan Wolle

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