"Sicherheits"doktrin und "Arbeit" der Stasi:

Von jedem alles wissen wollen

DRESDEN (SNN). Während der dritten Beratung am Runden Tisch wurde ein "Bericht der gemeinsamen Kommission aus Bürgervertretern und Beauftragten der Regierung der DDR im ehemaligen Amt für Nationale Sicherheit des Bezirkes Dresden" bekannt gemacht. Das zwölfseitige Dokument ist von Dr. R(...) (Neues Forum) als Bürgervertreter und vom Regierungsbeauftragten S(...) unterschrieben. Gegliedert in sechs Punkte, schildert der Bericht, wie es nach Anzeigen gegen die Nasi und der Besetzung durch Bürger zur Bildung der gemeinsamen Kommission kam. Informiert wird weiter über die seit dem 6. Dezember bestehende Sicherheitspartnerschaft von Volkspolizei und Bürgervertretern, über Gegenstand und Ergebnisse von Kontrollen. SNN haben darüber nach Pressegesprächen in der Bautzner Straße bereits berichtet. Aus Aktualitäts- und Platzgründen konzentrieren wir uns auf die Punkte 5 und 6, auf die Wertung, Schlussfolgerungen zur Arbeit der erweiterten Kommission. Nebenbei bemerkt: Der Bericht lässt Kompromisse deutlich werden. So wird von Sicherheitsdoktrin gesprochen, die doch eigentlich eine Unsicherheitsdoktrin war, von Arbeit, die sich zum Teil als schlimme Verletzung von Recht, Gesetz und Menschenwürde herausstellte . . .

Die Arbeit des Amtes wurde auf der Grundlage von Befehlen, Weisungen und Dienstvorschriften organisiert, die vom Minister des ehemaligen MfS bzw. seinen Stellvertretern erlassen wurden und zumindest teilweise im Widerspruch zur Verfassung und weiteren Rechtsvorschriften stehen. Es existieren, außer dem Gesetz über die Bildung des MfS, keine spezifischen Rechtsvorschriften sowie keinerlei parlamentarische Kontrolle. Grundlage für die Stasi war eine Sicherheitsdoktrin, die sich laut Bericht mit folgenden drei Aussagen beschreiben lässt:

1. Jeder ist ein potentielles Sicherheitsrisiko.

2. Um sicher zu sein, muss man alles wissen.

3. Sicherheit geht vor Recht.

Damit entwickelte sich die Stasi zum "Hauptinstrument der stalinistischen, Machtausübung im Interesse der SED-Führung". Es war ein ausufernder Apparat neben Partei- (gemeint ist wohl die SED) und Staatsapparat. Die Arbeit sei weit über die sonst üblichen Tätigkeitsgebiete eines Geheimdienstes hinaus und in zunehmendem Maße zur flächendeckenden, perfekten Überwachung der Bürger übergegangen. "In allen Bereichen wurden Datensammlungen festgestellt; die in ihrer Breite als Verletzung der Würde des Menschen zu werten sind. Die sichtbar gewordenen Arbeitsergebnisse rechtfertigen in keiner Weise den betriebenen personellen und materiellen Aufwand und haben erheblichen gesellschaftlichen Schaden verursacht. Bekannt gewordene Fälle belegen, dass der Begriff Spionage unzulässig auf andere Sachverhalte ausgedehnt wurde.

Im Bezirk Dresden waren ca. 3 500 hauptamtliche Mitarbeiter tätig, die Kreisämter eingeschlossen. Dazu kamen ca. 9 000 sogenannte inoffizielle Mitarbeiter. Die Arbeit stützte sich auch auf Informationen von leitenden Mitarbeitern aus Betrieben und Institutionen und weiteren Quellen."

Als Schlussfolgerungen und Vorschläge zur Arbeit der erweiterten Kommission werden genannt:

"1. Bei der Neubildung eines Zukünftigen Nachrichtendienstes und eines Organs für Verfassungsschutz sind nachfolgende Grundsätze zu verwirklichen:

- Die Tätigkeit der Dienste hat auf gesetzlicher Grundlage, unter parlamentarischer Kontrolle und, wenn möglich, bei öffentlicher Transparenz, zu erfolgen.

- Der Nachrichtendienst und das Organ für Verfassungsschutz sind als zivile Dienste, ohne militärische Strukturen, mit klarer Aufgabenstellung und eindeutigen Kompetenzen zu bilden. Diese Dienste sind nicht mit exekutiven Rechten auszustatten.

- Die Neubildung der Dienste hat mit angemessenem Mitarbeiterbestand und materiellem Aufwand zu erfolgen. Die Führung der Dienste ist durch neue Leitungen zu gewährleisten. Die Mitarbeit von Bürgern aus allen Teilen der Bevölkerung in diesen Diensten ist zu sichern.

- Die Qualifikation der Mitarbeiter der Dienste hat auf der Grundlage neu zu bestimmender Ausbildungsinhalte zu erfolgen.

2. Es ist zu gewährleisten, dass verfassungswidrige Handlungen ehemaliger Mitarbeiter einer Untersuchung zugeführt und bei Bestätigung von Straftatbeständen strafrechtliche Konsequenzen geprüft werden.

3. Von allen gesellschaftlichen Kräften sind erhebliche Anstrengungen notwendig, um die ehemaligen Mitarbeiter in die Gesellschaft zu integrieren. Mitarbeiter mit technischen und naturwissenschaftlichen Spezialkenntnissen sollten zweckmäßig eingesetzt werden.

Der neu zu bildende Verfassungsschutz und der Nachrichtendienst dürfen nie wieder in eine Situation kommen, dass deren Mitarbeiter bei Arbeitsplatzwechsel auf Akzeptanzprobleme stoßen.

4. Zur Weiterführung der Arbeiten und Kontrollen der Auflösung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit ist eine erweiterte Kommission mit Arbeitsgruppen, bestehend aus der bisherigen gemeinsamen Kommission und Vertretern der Parteien und Gruppierungen des Runden Tisches, zu bilden.

Folgende Arbeitsgruppen werden in Übereinstimmung mit dem Runden Tisch gebildet:

Stab

bestehend aus je einem Mitglied der Arbeitsgruppen, Vertretern der Regierung und 4 Vertretern der bisherigen Kommission (13 Personen).

Arbeitsgruppe 1 - Gebäude

- hat sich einen Überblick über Grundmittel und den weiteren Verwendungszweck zu verschaffen;

- Bürgerkontrolle über Rechtsträgerwechsel

Arbeitsgruppe 2 - Akten

- Klärung von organisatorischen Fragen mit Mitarbeitern des Staatsarchives;

- Prüfen, welche Akten aufbewahrt werden müssen bzw. mittelfristig oder sofort vernichtet werden können;

- Prüfen, welcher Möglichkeiten bestehen, Fragen der Bürger nach vorhandenen Akten zu beantworten

Arbeitsgruppe 3 - Quellen

- entsprechend der Entscheidung des Runden Tisches werden 4 zuverlässige Bürger in diese Arbeitsgruppe gewählt, die über die Frage des Quellenschutzes mitbestimmen (dieses Problem muss republikweit geklärt werden)

Herr A(...), Herr H(...), Herr W(...), Herr W(...)

- stichprobenartige Kontrollen

- Klärung zu Aufbewahrungsfristen der Akten.

Arbeitsgruppe 4 - Informatik

- EDV-Speicher prüfen und Verfahrenswege festlegen, wie dieses Material archiviert oder gelöscht werden kann

- Klärung, ob evtl. notwendige Daten vom Nachrichtendienst bzw. Verfassungsschutz übernommen werden können

Arbeitsgruppe 5 - Rechtsfragen

- Aufnahme von Verbindungen zu Anzeigenprüfstellen

- Kontrollfunktion, dass Anzeigen, die erstattet wurden, auch nachgegangen wird

- Begleitung der staatlichen Maßnahmen

Arbeitsgruppe 6 - Objektwache/-sicherung

- Kontrolle und Kommunikation mit der Bevölkerung

5. Die Bürgerkomitees der Kreise sind bis Ende Januar 1990 über die Tätigkeit der erweiterten Kommission, einschließlich ihrer Arbeitsgruppen, in geeigneter Form zu informieren.

aus: Sächsische Neuste Nachrichten, Nr. 5, 06./07. 01. 1990, 38. Jahrgang, National-Demokratische Landeszeitung, Herausgeber: Präsidium des Hauptausschusses der National-Demokratischen Partei Deutschlands

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