Stasi weg, Nasi weg -
Verfassungsschutz da?
Gespräch mit Bernd Madaus, Mitglied der Kommission zur Auflösung der Berliner Bezirksverwaltung des AfNS
Berlin (NZ). Kein Verfassungsschutz bis zum 6. Mai und die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit bis zum 30. Juni verkündete auf der letzten Volkskammersitzung Premier Hans Modrow. Die vorherige Absicht, noch vor der Auflösung des alten Geheimdienstes einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst zu bilden, hatte zuvor eine Kraftprobe zwischen Runden Tisch und Regierung heraufbeschworen. Auch wird nicht nur von Seiten der Opposition die zögernde Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit beklagt. Immer noch sitzen zu viele ehemalige Geheimdienstler in ihren Büros. Nun legte de Berliner Kommission zur Auflösung der Bezirksverwaltung ihren ersten Zwischenbericht vor.
NZ-Redakteur LUTZ TESKE sprach mit Bernd Madaus (NDPD), der unmittelbar vor Ort in der Berliner Kowalkestraße dabei ist.
NZ: Die wohl wichtigste Frage im Zusammenhang mit der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit: Ist die Stasi/Nasi unter Kontrolle, arbeiten einige Gruppen eventuell weiter oder haben sich gar verselbständigt?
Bernd Madaus: Nach meinen Kenntnissen gibt es keine geleiteten Aktivitäten mehr. Zwar sind erst knappe 70 Prozent der ehemals 2 500 hauptamtlichen Mitarbeiter der Berlin Bezirksverwaltung entlassen, doch der Rest ist sozusagen unter "Bürgerkontrolle". Sie sitzen ohne Tätigkeit in ihren Büros. Alle sind entwaffnet, die Waffen abtransportiert Um es deutlich zu sagen: Den ehemaligen Mitarbeitern der Stasi ist es fast unmöglich, in Strukturen einzudringen, da alle Akten und Computersysteme versiegelt sind und der Zentralrechner somit eine „Black Box" ist. Aus ihm gehen weder Informationen rein noch raus. Die Ausnahme bilden ein Finanz- und ein Personalterminal die wir für die Überwachung und Wiedereingliederung der ehemaligen Mitarbeiter benötigen.
NZ: Welche ersten oder schon umfassenden Einblicke gibt es bezüglich der Struktur der Bezirksverwaltung?
Bernd Madaus: Es sind doch recht bedrückende Fakten, die ans Tageslicht kommen. In Berlin waren rund 2 500 hauptamtliche Mitarbeiter in der Bezirksverwaltung Kowalkestraße tätig. Dazu kommen nach unseren vorläufigen Erkenntnissen zirka 10 000 angeworbene Bürger, die jährlich 110 Mark Aufwendungen für ihre ehrenamtliche Arbeit erhielten. Diese Summe mag zwar angezweifelt werden, ist aber das Ergebnis der ersten Aktensichtung. Überdies dienten rund 3 000 Wohnungen der konspirativen Arbeit in Berlin.
NZ: Ist aus den Akten auch erster Rückschluss auf die Arbeitsweise zu schließen?
Bernd Madaus: Gewisse Praktiken, sind schon erkennbar, obschon die Mitglieder der Kommission keine Experten sind. Vielleicht so viel: Personengezielte Ermittlungen in Berlin erstreckten sich auf rund 1 600 Bürger. Für eine Überwachung wurden jeweils bis zu 50 Mitarbeiter eingesetzt. überraschend war die Tatsache, dass lediglich 25 Prozent der 2 500 Mitarbeiter operativ tätig waren, der Rest hatte Verwaltungsaufgaben zu lösen. Auch die technische Ausstattung der Bezirksverwaltung hätte ich auf höherem Niveau erwartet. Teilweise wurde in bestimmten Referaten noch mit Karteikarten hantiert. Die vorhandenen Computersysteme schienen auch ziemlich zusammengewürfelt zu sein. Sie waren untereinander nicht vernetzt. Die Diskettensysteme der einzelnen Ebenen waren meist verschieden. Vielleicht Ausdruck einer Sicherheit in der Sicherheit.
NZ: Wie funktionierte der Informationsfluss im ehemaligen Stasi-Apparat?
Bernd Madaus: Im wesentlichen gab es ein sogenanntes „Einbahnstraßen-System". Kein Mitarbeiter hatte Zugriff zu komplexen Angaben anderer Ebenen. Informationen für Ermittlungen wurde ohne Zusammenhänge nach unten als Aufgaben formuliert. Dieses Prinzip gab es bis hoch zum Minister. Angeleitet wurde die Arbeit des MfS durch das ehemalige Politbüro. Analysen gingen an die SED und von dort filtiert auch mal an den Ministerrat, manchmal auch an Kombinatsdirektoren. Im Kreis oder Bezirk war die jeweilige SED-Spitze Informationsempfänger und Auftraggeber.
NZ: Wie umfänglich war das Aktendepot und worauf konzentrierten sich die Ermittlungen?
Bernd Madaus: Wir hatten ein wesentlich größeres Ausmaß an Akten vermutet. Insgesamt befanden sich "nur" 27 000 Akten in der Bezirksverwaltung. Zielgruppen der Überwachung waren zum Hauptteil kirchliche Organisationen, Künstler, Bürger die eine Ausreise beantragt hatten, also alles was nach damaligem Verständnis der Opposition angehörte. In vielen Fällen fragten wir uns jedoch, warum diese Akte überhaupt angelegt wurde.
NZ: Stichwort Aktenvernichtung ...
Bernd Madaus: Es hat in diesem Apparat immer eine gleitende Aktenvernichtung gegeben. Im Herbst letzten Jahres haben sich ganz sicher diese Aktivitäten verstärkt. Wir nehmen aber nicht an, dass man auf Teufel komm raus alles vernichten wollte oder dabei überrascht wurde. Verbrannt wurde jedenfalls nach unseren Erkenntnissen nichts. Die von uns geprüften Akten werden entweder an Gerichte o.ä. weitergeleitet oder, wie bis jetzt 20 Prozent vernichtet.
NZ: Wurden die anderen ehemaligen Blockparteien überwacht?
Bernd Madaus: Es gab ein besonderes Referat, das sich unter anderem mit Parteien, Organisationen, Verwaltungen usw. befasste. Man muss dabei beachten, dass das System der Staatssicherheit von der SED zwar diktiert und geleitet wurde, es aber angesichts der über 200 Organisationen und Vereinigungen ein riesiges Informationsnetz und somit nahezu perfekten Fluss gab. Man kannte ja die Dutzenden Berichte und Protokolle die von Veranstaltungen anzufertigen waren. So hatte eben auch jeder Kaderleiter oder Parteiapparat seinen Draht, wenn es um Fragen bestimmte Personen betreffend ging; da waren die Blockparteien nicht ausgenommen.
NZ: Sie sagten eingangs, dass noch 30 Prozent der Ex-Stasi-Mitarbeiter in der Bezirksverwaltung anwesend sind. Wie ist bei der Auflösung die Zusammenarbeit mit ihnen?
Bernd Madaus: Ich bin der Meinung, dass die Auflösung nicht nur für die Mitarbeiter, sondern auch für uns als Kontrollorgan zu schnell vonstatten gehen soll. Sicher war aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung die Notwendigkeit eines schnellen Handels da. Doch um wirklich Einblick in die Arbeitsweise dieses missbrauchten Sicherheitsdienstes zu bekommen, muss man ihn nach meinem Dafürhalten funktionieren sehen. Jetzt ist es schwer, von den Mitarbeitern Informationen zu erhalten. Man sperrt sich nicht, verhält sich aber reserviert. Ich würde die Zusammenarbeit als verantwortungsvoll bezeichnen. Verschweigen will man - so glaube ich - nichts. Die meisten Ex-Stasi-Mitarbeiter befürchten wohl spätere Probleme.
NZ: Es gibt Hinweise, dass ein Verfassungsschutz ohne Legitimation seine Tätigkeit aufgenommen hat. Können Sie das bestätigen?
Bernd Madaus: Der Verfassungsschutz arbeitet ganz sicher noch nicht. Als wir am 19. Dezember mit der Auflösung der Bezirksverwaltung begannen, standen zwei Abteilungen im Mittelpunkt, die als Basis des damals noch zu bildenden Verfassungsschutzes und Nachrichtendienstes dienen sollten. Das waren Abteilungen, die sich zum einen mit internationaler militärischer, ökonomischer und politischer Spionageabwehr und zum anderen mit der Sicherung der Volkswirtschaft beschäftigten. Man sollte auch heute die Aufgabengebiete dieser zwei Abteilungen nicht unterschätzen. Von heute auf morgen kann man gerade international nicht alles umstülpen. Diese beiden Abteilungen arbeiten jetzt nicht mehr in dem früheren Umfang, existieren aber teilweise noch unter unserer Kontrolle. Unsere Kommissionsmitglieder, die dort kontrollieren, unterliegen einer besonderen Verordnung die sie zur Geheimhaltung verpflichtet. Vielleicht ist es das, was in den Medien Staub aufwirbelt.
NZ: In ihrer Kommission sind Bürger und Mitglieder etablierter Parteien, aber auch der neuen Kräfte dieses Landes aktiv. Wie arbeitet es sich zusammen?
Bernd Madaus: Wir verstehen uns recht gut. Es geht flott voran. Übrigens ist kein Vertreter der SED-PDS in der Kommission. Im Gegensatz zum Runden Tisch ist unsere Arbeit sehr konstruktiv. Kritisch sehe ich da schon die Arbeit der Regierungsvertreter. In Zukunft müssen wir enger zusammenwirken, um nicht nochmal mit einem unbefriedigenden Bericht den Runden Tisch in Gefahr zu bringen.
National-Zeitung, Di. 16.01.1990
[Zu diesem Zeitpunkt sollte die Volkskammerwahl am 6. Mai stattfinden.]