DOKUMENTATION

Für eine lebenswerte und gerechte Zukunft von Kindern und Jugendlichen

Der Demokratische Jugendbund der deutschen Demokratischen Republik und der Deutsche Bundesjugendring der Bundesrepublik Deutschland haben vor kurzem eine Gemeinsame Erklärung zum deutsch-deutschen Einigungsprozess verabschiedet, die wir im Wortlaut dokumentieren.

Deutschlandpolitische Fragen, insbesondere die Einigung der beiden deutschen Staaten, sind das zentrale Thema der politischen Auseinandersetzung der letzten Monate und wohl auch der nahen Zukunft sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR

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Die hohe Emotionalität der Diskussion auf beiden Seiten hat eine sorgfältige Planung, Diskussion und Reflektion von Politik verhindert; politische Lösungsvorschläge sind häufig - gerade auch angesichts der Dynamik der zurückliegenden und bevorstehenden Wahlkämpfe - durch Zeitdruck gekennzeichnet. Dieser Zeitdruck wird verstärkt, zum einen durch ökonomische Interessen in der Bundesrepublik an einer schnellen Ausdehnung des Marktes und zum anderen durch das berechtigte Interesse der Bürger und Bürgerinnen der DDR an einer schnellen Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation.

Schon jetzt zeigt sich, dass wirtschaftliche Interessen Vorrang eingeräumt wird vor notwendigen politischen Willensbildungsprozessen in beiden deutschen Staaten.

Der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring wenden sich gegen jegliche Versuche, den Prozess der deutschen Einigung zu nutzen, um chauvinistische und revanchistische Interessen zu verbreiten. In einer Zeit, in der in vielen Staaten Nationalitätenkonflikte zunehmen und Ausländerfeindlichkeit anwächst, sprechen sie sich für ein multikulturelles Zusammenleben in den verschiedenen Staaten des "Gemeinsamen Hauses Europa" aus.

Beide Organisationen fordern von den politisch Verantwortlichen eine grundsätzliche Reflektion der bisher in die Diskussion gekommenen politischen Konzepte für den Einigungsprozess der beiden deutschen Staaten und eine Verbesserung der Transparenz der Entscheidungsprozesse, um übereilte und kurzfristige Entscheidungen zur vermeiden.

Es muss ein breiter Prozess der umfassenden Meinungsbildung, der eine Partizipation auf allen Ebenen ermöglicht, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR eingeleitet werden. Dies ist insbesondere im Interesse der Bürger und Bürgerinnen in der DDR, wo Strukturen der Mitgestaltung von Politik noch weiter gefestigt und ausgebaut werden müssen.

Die nun mögliche Einigung der beiden deutschen Staaten sollte aus Sicht des Demokratischen Jugendbundes und das Deutschen Bundesjugendrings dazu genutzt werden, die Bürger und Bürgerinnen endlich selber über eine gemeinsame Verfassung abstimmen zu lassen.

Hiervon ausgehend erheben der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring mit Blick auf den Einigungsprozess der beiden deutschen Staaten folgende Forderungen:

1. Vor einem geeinten Deutschland ist die Westgrenze Polens ohne weitere Bedingungen sofort anzuerkennen.

2. Der deutsche Einigungsprozess darf keine einseitig ökonomische Ausrichtung erfahren. Die wirtschaftliche Ordnung bedarf staatlich geregelter sozialer und ökologischer Rahmenbedingungen. Zum augenblicklichen Zeltpunkt sind in diesem Zusammenhang besonders folgende Punkte zu nennen:

- Die positiver Elemente des sozialen Sicherungssystems der DDR sind in den geforderten Reflektionsprozess einzubeziehen.

- Notwendig sind Sofortmaßnahmen zur Lösung akuter gravierender Umweltprobleme unter anderem im Bereich der Energiegewinnung.

3. Der deutsche Einigungsprozess muss in den Rahmen der europäischen Einigung eingebettet werden.

4. Ein geeintes Deutschland muss weiterhin seinen Beitrag zur internationalen Gerechtigkeit und für eine neue Weltwirtschaftsordnung leisten.

5. Deutliche Abrüstungsschritte sind möglich und nötig geworden, nachdem sich die politischen Verhältnisse in Europa so tiefgreifend verändert haben. Mit einer weitreichenden Entmilitarisierung von Bundesrepublik und DDR muss begonnen werden. Eine Politik der aktiven Abrüstung und einer schrittweisen, abgestimmten Auflösung der Blöcke hin zu einer europäischen Friedensordnung muss entwickelt werden. Rüstungsexporte sind mit einer Politik, die dem Frieden verpflichtet ist, nicht mehr vereinbar.

In einem geeinten Deutschland sind die in der DDR geschaffen Regelungen für den Wehr-und Zivildienst zu übernehmen.

6. Eine qualifizierte schulische Ausbildung für alle Jugendlichen muss durch den Staat gewährleistet werden. Sie ist Voraussetzung für eine zukunftsorientierte berufliche Aus- und Weiterbildung, die für alle Jugendlichen von den Betrieben und Verwaltungen angeboten und vom Staat durch eigene Maßnahmen unterstützt werden muss. Darüber hinaus sind für die ausgebildeten Jugendlichen qualifizierte, zukunftssichere Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.

Im Hinblick auf die Partizipationsmöglichkeiten von jungen Menschen sehen der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring im Rahmen des Einigungsprozesses folgende Notwendigkeiten:

- In der DDR sind für die Jugendarbeit die Finanzen und Einrichtungen zu sichern, die bisher unter anderen Bedingungen für die Jugendarbeit zur Verfügung gestanden haben.

- Das "Haus der Jugend" in Berlin, Unter den Linden, ist auf jeden Fall für die Zwecke der Jugendarbeit zu sichern, damit es mit seiner zentralen Lage in Berlin zu einem Begegnungsort der deutschen Jugend im europäischen Rahmen werden kann. Diese Maßnahme hätte Symbolcharakter für die Weiterentwicklung demokratischer Jugendarbeit.

- Eine Zusammenarbeit der Jungend und ihrer Organisationen in der Bundesrepublik und in der DDR wird auf allen staatlichen Ebenen, von den Kommunen und Kreisen über die Länder bis zur zentralen Ebene, angestrebt. Sie ist von den Regierungen politisch und finanziell zu fördern.

- Die bestehenden internationalen Kontakte der Jugendorganisationen in der DDR und in der Bundesrepublik sind aufzugreifen und für die Jugend in beiden Teilen Deutschlands fruchtbar zu machen.

- Von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erwarten der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring eine Unterstützung beim weiteren Aufbau einer pluralistischen und eigenständigen Struktur von Jugendorganisationen in der DDR, die beide als wichtigen Teil der politischen Kultur für unbedingt notwendig erachten.

Der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring werden ihre Zusammenarbeit mit dem Ziel, den Interessen der Kinder und Jugendlichen im Rahmen des staatlichen Einigungsprozesses möglichst wirksam Nachdruck zu verleihen, verstärken. Das Leben der Kinder und Jugendlichen wird von allen Politikbereichen beeinflusst. Deshalb sehen der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring ihre zentrale Aufgabe darin, in ihrem gesellschaftlichen Engagement für eine lebenswerte und gerechte Zukunft von Kindern und Jugendlichen einzutreten. Jugendliche in der Bundesrepublik und in der DDR brauchen zur Durchsetzung ihrer Interessen starke Jugendorganisationen und die Zusammenarbeit ihrer Dachorganisationen. Um die Zusammenarbeit zwischen dem Demokratischen Jugendbund und dem Deutschen Bundesjugendring zu intensivieren und um in zentralen Feldern der Jugendarbeit zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen, werden folgende Schritte vereinbart:

1. Der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring richten eine gemeinsame Kommission ein, der von jeder Seite sechs Personen angehören werden. Sie hat die Aufgabe, die Zusammenarbeit zu entwickeln und zu koordinieren in Richtung auf eine zunehmende Verknüpfung der beiderseitigen Aktivitäten.

2. Der Demokratische Jugendbund und der Deutsche Bundesjugendring werden im Rahmen von Arbeitstagungen und Seminaren wichtige jugend- und gesellschaftliche Themen wie Jugendrecht, Bildungspolitik, Jugendarbeitslosigkeit und berufliche Bildung u.a. miteinander diskutieren und gemeinsame Vorstellungen entwickeln.

Die Kooperation erfolgt auf der Grundlage der gegenseitigen Souveränität.

Sozialdemokratischer Pressedienst, 45. Jahrgang, 96, 27. Mai 1990

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