info nr. 9 vom 30.04.1990

Wir denken da anders, Herr Direktor!

Die KollegInnen des Antiquariats der Schönhauser Allee, Zweigstelle der Berliner Buchhandelsgesellschaft (BBG), machen auf ungewöhnliche Weise auf sich aufmerksam. Die Mitarbeiter dort haben ihr Schaufenster zu einer Art Müllkippe umgestaltet: Bücher liegen neben ausrangiertem Hausrat und leeren Cola-Büchsen. Mit dieser symbolträchtigen Collage soll der Protest der BuchhändlerInnen "Wir denken da anders - unser Anti soll nicht auf den Müll" öffentlich gemacht werden. Was ist passiert?

Seit Anfang des Jahres häufen sich Gerüchte über Verhandlungen des staatlichen Leiters der BBG mit westlichen Verlagen. Obwohl es um ihre Zukunft geht, erfahren die Mitarbeiter nichts. Geschweige, dass sie einbezogen werden, Vorstellungen einbringen oder gar selbst entscheiden können.

Die BGL tritt auch in diesen Wochen nicht in Erscheinung. Die Mitarbeiter fühlen sich nicht vertreten. Deshalb schreiben die beunruhigten und empörten KollegInnen des kleinen Antiquariats kurzerhand einen Brief an den Direktor. Dessen Antwort kommt prompt:

"Der Inhalt Ihres Briefes bedrückt mich insofern, dass ich mit einer derartigen Unwissenheit bei den Mitarbeitern der Berliner Buchhandels-Gesellschaft nicht gerechnet habe. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass es in diesen komplizierten Zeiten für jeden Bürger selbstverständlich erscheint, sich umfassender als bisher über rechtliche Zustände und juristische Möglichkeiten zu informieren, welche die Führung eines Unternehmens bestimmen... Sie müssen sich den Vorwurf schon gefallen lassen, dass, wer an Beratungen nicht teilnimmt, normalerweise auch nichts über deren Inhalte wissen kann. Sie werfen mit vor, zu lange zu schweigen, bedenken Sie, in welcher ungünstigen Lage wir Ostberliner Buchhändler uns befinden, wenn wir, unter den Bedingungen von Marktkonkurrenz, mit Namen und Absichten hausieren gehen...Für mich besteht jedoch der moralische Anspruch, den Betrieb .... zu erhalten, sehr viel mehr als für Sie. Es besteht nun mal die 'höhere Verantwortung' je größer das Bestimmungsfeld des Arbeitsplatzes ist."

Diese Arroganz eines staatlichen Leiters ist wohl kaum zu überbieten. Nachdem er die KollegInnen der BBG wissentlich von allen Informationen fern hält, macht er ihnen diese Unwissenheit gerade zum Vorwurf. Außerdem gibt er ihnen zu verstehen, dass sie von Geschäften sowieso nichts verstünden und folglich gar nicht mitzureden hätten. Als geradezu demagogisch ist zu bewerten, dass er vorgibt, im Interesse der KollegInnen zu handeln. Nein, nach 40 Jahren DDR wissen wir Bescheid: zwischen staatlichen Leitern und Belegschaften gibt es einen tiefen Interessengegensatz - da lassen wir uns nichts mehr vormachen.

Staatliche Leiter handeln nicht zum "Wohle des Betriebes", sondern in ihrem Interesse. Die rücksichtslosen Maßnahmen in anderen Betrieben beweisen es. Nicht die Leiter fliegen auf die Straße, sondern die Arbeiter und Angestellten. Und mit welchem Recht beruft sich der Direktor darauf, dass nur er kompetent wäre zu verhandeln und den Betrieb zu leiten? Auch hier ist nach 40 Jahren verfehlter Wirtschaftspolitik und inkompetenter Zeitungen größter Zweifel angesagt. Hier einige Forderungen der KollegInnen:

- sofortiger Rücktritt des Direktors und der Zeitung

- Wahl eines von der Belegschaft legitimierten Gremiums zur Zeitung der BBG und zur Führung von Verhandlungen mit ausländischen Investoren

- öffentliche Ausschreibung von Kapitalbeteiligungen

- Erstellung eines Sozialplanes auf Vertragsebene

Klar ist, es geht um die Zukunft der KollegInnen bei der BBG und da haben sie wohl doch ein Wörtchen mitzureden. Aber sie können nur Erfolg haben, wenn sie sich zusammenschließen und dem Leiter Paroli bieten. Die BBG ist kein Einzelbeispiel. Abwarten bringt nichts! Die Belegschaften müssen sich gemeinsam wehren, sonst finden sie sich einzeln beim Arbeitsamt wieder

Sonja H(...)

"Warum soll ich kaufen müssen, was mir ohnehin gehört?"

Viel Informatives auf einer Veranstaltung am 23.4. im VEB EAB, Berlin, zum Thema "Umwandlung des Volkseigentums in Aktiengesellschaften oder GmbH". Da weder Betriebs- noch Kombinatsdirektoren im Saal saßen (die waren mit den "Umwandlungen" beschäftigt), konnte man sich schnell einigen, welche Fragen die anwesenden Ost- und Westjuristen beantworten sollten: Wer nämlich bestimmt denn nun, wem das ehemalige "Volkseigentum" gehört? Und wer gibt irgendjemandem überhaupt das Recht, unser Eigentum zu verkaufen? "Eigentlich müssten sie es der Belegschaft schenken", sagte ein Kollege und man stimmte ihm zu.

Frau Luft und Herr Modrow haben diese Fragen allerdings im Gesetzblatt vom 8.3.90 für uns schon beantwortet - wie man an diesem Abend gut erläutert bekam. Der Staat hat nämlich das ganze "Volkseigentum" an eine Treuhandgesellschaft gegeben, von der keiner weiss, wer dort arbeitet und wie sie arbeitet. War es bisher schon nicht leicht, beim "Volkseigentum" mitzubestimmen - nunmehr ist es unmöglich gemacht.

Dabei hat diese Treuhandgesellschaft keine geringe Macht: sie darf bestimmen, wer z.B. eine Aktiengesellschaft gründen darf, wer Gesellschafter wird, wem sie die "treu" verwalteten Anteile verkauft. Und wem sie verkaufen wird, ist auch klar. Nämlich dem, der am meisten zahlt. Westunternehmer, 'ick hör dir trapsen'!

Also, auf diese "Volkseigentumsverwalter" haben wir null Einfluss. Kann denn nun die Belegschaft, laut Gesetz, wenigstens ein Wörtchen mitreden, wenn es darum geht, ob aus ihrem Betrieb eine Aktiengesellschaft, eine GmbH oder sonst was werden soll? - Im Gesetz ist es, wen wunderts, nicht vorgesehen, lediglich eine "Stellungnahme" ist erlaubt.

Dennoch gibt es Belegschaften in unserem Land, die sich aktiv gezeigt und mit oder ohne Druck auf die Zeitung, wir wissen es nicht, andere Modelle der Kapitalbeteiligung durchgesetzt haben. Siehe das Sömmerdamodell:

Die gefundene Lösung konzentriert sich auf 3 Eckpunkte:

1. Das Eigenkapital soll zu 75 % von der Belegschaft, zu 25 % als Treuhandvermögen gehalten werden. Das Belegschaftskapital ist "Eigentum zur gesamten Hand". Dadurch wird sichergestellt, dass einzelne Belegschaftsmitglieder ihre Kapitalanteile nicht veräußern können.

2. Für die neue Aktiengesellschaft in Sömmerda ist eine paritätische Mitbestimmung vorgesehen, die am westdeutschen Recht orientiert ist, dieses jedoch in etlichen Punkten modernisiert. Die wichtigsten sind:

- Der Aufsichtsrat besteht aus 17 Mitgliedern;

- Das Vorstandmitglied für Personalwesen kann nicht gegen die Stimme der Arbeitnehmer gewählt werden;

- In der Hauptversammlung Minderheitenschutz und kein Letztentscheidungsrecht.

3. Nach Vollendung dieses 1. Schrittes kann im 2. Schritt über Beteiligung von Westfirmen verhandelt werden. Die Gesamtlösung ist so konzipiert, dass die Attraktivität für das Westkapital erhalten bleibt.

Wenn schon Kapital, dann doch die Form, die für uns vielleicht die günstigere ist, mögen die Kollegen in Sömmerda gesagt haben. Dieses Modell hat allerdings nichts mit einer "Verwandlung in Volkseigentum" zu tun, wie uns Prof. K(...) in der "Tribüne" vom 24.4.90 weismachen will, denn aus den Arbeitern sind lediglich kleine Aktionäre geworden.

Trotzdem sollten wir überlegen, wie wir Einfluss auf die Umwandlung der Betriebe gewinnen. So auch einhellig die Auffassung des Podiums an diesem Abend: Mitbestimmung ist zwar nicht vorgesehen, aber wenn die Belegschaften sich einig sind... Auf keinen Fall können wir zusehen und abwarten!

Uns würde interessieren, wie bei Euch in den Betrieben diese Umwandlung von "Volkseigentum" vor sich geht!

Leonore A(...)/Renate H(...)

Wann kann bei Strukturveränderungen fristgemäß gekündigt werden?

Immer mehr Werktätige erhalten in letzter Zeit einen "blauen Brief". Noch aber, so betont sogar die CDU-Regierung, ist das AGB in Kraft. Danach ist es nämlich den Betriebsdirektoren nicht so einfach gemacht, Entlassungen auszusprechen, zumal sie in der Pflicht stehen, verantwortungsvoll den Betrieb zu leiten. Bevor eine fristgemäße Kündigung infolge Wegfall des Arbeitsplatzes durch Strukturveränderungen erfolgen kann, müssen vorher folgende arbeitsrechtlichen Schritte in Betracht gezogen werden:

1. Der Betrieb bietet dem Werktätigen einen Änderungsvertrag - und zwar mindestens 3 Monate vor Eintritt der Veränderung - an, wobei die gewerkschaftliche Interessenvertretung zu verständigen ist (AGB § 49). Bis zu 3 Monaten nach Aufnahme einer anderen Arbeit kann der Werktätige dagegen Einspruch erheben.

2. Will der Betrieb versuchen, mit dem Werktätigen das Arbeitsrechtsverhältnis mittels Aufhebungsvertrag zu beenden, so ist er gut beraten, das in dieser Zeit nicht zu tun. Hat er sich dennoch zu dieser Willensübereinstimmung bringen lassen und bereut es später, kann er bis zum Ablauf von 3 Monaten nach dessen Abschluss Einspruch einlegen.

3. Der Betrieb versucht sich mittels eines Überleitungsvertrages eines Mitarbeiters zu entledigen. Dieser Vertrag bedeutet die Aufnahme einer Tätigkeit in einem anderen Betrieb - Zumutbarkeit ist Voraussetzung - wogegen der Werktätige ebenfalls innerhalb von 3 Monaten nach Aufnahme dieser Tätigkeit Einspruch einlegen kann.

Erst nach Ablehnung eines Überleitungsvertrages ist der Betrieb berechtigt, dem Werktätigen fristgemäß zu kündigen, wobei die Zustimmung der BGL erforderlich ist (§ 57 (1)). Hat der Werktätige infolge Rationalisierungsmaßnahmen oder Strukturveränderungen bei einer anderen Arbeit Einbußen im Durchschnittsverdienst, erhält er ein einmaliges Überbrückungsgeld in Höhe der Jahressumme der voraussichtlichen Minderung des Durchschnittslohnes.
Als letzter Weg bleibt nur noch der zum Arbeitsamt.

Also aufpassen: erst müssen alle Varianten ausgeschöpft werden, bevor gekündigt werden kann!

Rüdiger I(...)

Kurzinformation - Kurzinformation - Kurzinformation - Kurzinformation

Am 7. u. 8.4.90 fand ein Treffen von Kollegen aus Bochum (u.a. beschäftigt bei Opel), einer Basisgruppe aus dem KWO und Mitgliedern der IUG statt. Von unserer Seite berichteten wir über die derzeitige Situation in den Betrieben, die Ausgrenzung der Werktätigen bei wichtigen Entscheidungen des Betriebes, aber auch der Passivität einer Vielzahl von Kollegen und Belegschaften. Die IG-Metaller/West unterrichteten uns über die Arbeitsweise der Gewerkschaften in den Betrieben und unterstrichen die Notwendigkeit oppositioneller Strömungen in den Gewerkschaften, worüber wir im Einzelnen eine Menge erfuhren. Wir bleiben weiter in Kontakt.

Vom 11.-15.4.90 fand der VII. CNT-Kongress in Bilbao/Spanien statt, an dem 2 Vertreter der IUG auf Einladung teilnahmen (außerdem Vertreter der FAU). Die CNT ist eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft, die in Spanien ca. 60 000 Mitglieder zählt und damit bedeutenden Einfluss hat. Die Mitglieder der IUG nutzten die Gelegenheit, über die derzeitige Situation in unserem Land und speziell in den Betrieben zu berichten und unsere Vorstellungen von Gewerkschaftsarbeit darzulegen, was auf breites Interesse stieß.

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