Es stimmt: Zusammen sind wir viele

Wächst nun zusammen was zusammen gehört - Bündnis90/Grüne und Grüne?

Das mühsam ausgehandelte Bündnis 90/Grüne ist für die nächsten vier Jahre im ersten gesamtdeutschen Bundestag vertreten. Nicht vertreten sind dort aber zu unser beider Unglück des West- wie des Ostpartners die Grünen aus der ehemaligen Bundesrepublik. Über ihre Wahlniederlage müssen sie sich vor allem selbst Gedanken machen. Von hier aus lässt sich zunächst beisteuern, dass sie jene Tatsache nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen wollten, die die Wahl bestimmt hat: Es gibt nicht nur keine DDR mehr, sondern auch keine BRD, ob es ihnen und uns recht ist oder nicht. Obwohl die frühere Bundesrepublik das vereinigte Deutschland in jeder Hinsicht dominiert, wird auch sie durch den von vielen herbeigesehnten, in seinen Folgen aber auch ängstlich beobachteten und schmerzlich erlebten Anschluss der DDR verändert. Diese Veränderungen können auch die Grünen nicht ungestraft ignorieren.

Mit der Klimakatastrophe, so wichtig sie ist, war diese Wahl eben sowenig zu bestreiten wie mit "Nie wieder Deutschland!". Wer jetzt mit politischen Mitteln Veränderungen erzielen will, muss die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Dazu ist die "linke" Schmollecke so untauglich wie etwa die Glorifizierung der "Wachstumsgesellschaft".

Es geht also um Inhalte und Orientierungen. Die von den Bürgerinnenbewegungen der ehemaligen DDR in den Bundestag entsandten Abgeordneten sind dazu verurteilt, zusätzlich zu ihren DDR-Erfahrungen die der bundesdeutschen Partner mit zu vertreten. Eigentlich geht das nicht - die Unterschiede bis hin zur Sprache sind so groß wie die zwischen der Leipziger Oststadt und dem (West-)Berliner KaDeWe. Und was können acht Neulinge aus dem Osten im routinierten Bonner Polit-Profi-Berieb schon ausrichten?

Ohne Unterstützung sowohl durch die Bürgerinnenbewegungen wie die Grünen, ohne kritische Solidarität und vor allem sachliche und themenbezogene Hilfe aus den Organisationen, den Kommunalvertretungen und Landtagsfraktionen kann die winzige Gruppe der Bundestagsabgeordneten im riesigen Parlamentsapparat nicht bestehen. Jedes Thema, von der Ausländer- Politik bis zur Wiederaufbereitungsanlage, erfordert die Kenntnis vor Ort, deren Bündelung und Übersetzung in Positionen bis hin zur Formulierung von Gesetzesvorlagen.

Die Grünen müssen den Verlust ihres eingespielten und hochqualifizierten Fraktionsapparates ausgleichen. Aber auch die Bürgerlnnenbewegungen stehen vor der Aufgabe, außerparlamentarische Aktivitäten und die Arbeit in Kommunalvertretungen und Landtagen in einen konstruktiven Bezug zur Interessenvertretung für die Bewohnerinnen der ehemaligen DDR im Bundestag zu bringen.

Gleichzeitig ist ein enger Kontakt zu den Grünen in Westdeutschland die Voraussetzung für die Überwindung dessen, was beiden fehlt: das Verständnis für die spezifischen Probleme des anderen. Eine gemeinsame Sprache muss entstehen, die eine gemeinsame Politik ermöglicht. Strukturen müssen aufgebaut werden, die den Abstand zwischen Ost und West verringern. Ein nennenswerter Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland ist nur zu erreichen, wenn die zänkische Nabelschau der Grünen ebenso überwunden wird wie die lahmende Zersplitterung der Bürgerinnenbewegungen. Eile tut Not, damit es nicht auch für uns heißt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!

Reinhard Weißhuhn
IFM

aus: PODIUM - die Seite der und für die BürgerInnenbewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, 12.12.1990

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