Die Stunde der Opposition

Die DDR-Opposition demonstriert massenhaft in Leipzig

GASTKOMMENTAR

Zehntausende von Demonstranten auf den Straßen einer Stadt wie Leipzig: Diese DDR ist nicht verloren. Wer dort, vor den Kameras der Staatssicherheit und den Knüppelgarden der Polizei sein Recht auf Freiheit und Menschenwürde verlangte, wird nicht so schnell in die alte Knechtseeligkeit zurückfallen. Mut und Verzweiflung schlagen um in die Entschlossenheit für Reformen zu kämpfen, anstatt weiterhin ohnmächtig darauf zu warten.

Eine Einsicht setzt sich durch. Von ihren Oberen und mit stillen Verhandlungen wird die DDR freiwillig keine Demokratie bekommen. Auch Gorbatschow bringt sie nicht in der Tasche mit. Die Bürger müssen sich ihren runden Tisch schon alleine bauen. Alles hängt jetzt davon ab, was die Opposition aus diesem Druck macht. Sie wird über sich hinauswachsen müssen. Der Prozess braucht viele Stimmen, er braucht die Straße, auch die Betriebe und die Universitäten. Aus Namensschildern müssen Büros von arbeitenden Organisationen werden. Verteidigung gegen Übergriffe und Repression, Rechtshilfe und Solidarität müssen landesweit und über die Landesgrenzen hinaus wirksam werden. In dieser Woche demonstrieren polnische Studenten für die Freiheit in der DDR. Wann kommt es zu Solidarność in der DDR?

Für all das muss sich die Opposition nicht vereinheitlichen, aber sie muss gemeinsame Aktionsformen finden, Handlungsalternativen anbieten und ihre Arbeit koordinieren. Wenn sie jetzt vor der Wirkung ihrer eigenen Initiativen erschreckt, auf den Rücken fällt und sich weiter in Profilneurosen übt, ist es vielleicht doch schon zu spät für die DDR.

Wolfgang Templin, Initiative "Frieden und Menschenrechte",
zur Zeit Bielefeld, ab Februar 1990 Berlin (DDR)

aus: taz, Nr. 2927, 04.10.1989