Initiative Frieden und Menschrechte

Gerd Poppe, geb. 1941, Physiker, Gründungsmitglied und einer der drei Sprecher der "Initiative Frieden und Menschenrechte", lebt in Ost-Berlin.

Frage: Die "Initiative Frieden und Menschenrechte" entstand bereits 1985 als Reaktion auf das Verbot eines Seminars zum Thema "Menschenrechte in der DDR". Wer arbeitet in dieser Initiative mit und wie ist sie organisiert?

Antwort: Wir sind die erste sowohl vom Staat als auch von der Kirche unabhängige Gruppe. Alle Mitglieder waren bereits vorher in der unabhängigen Friedensbewegung engagiert, in der seit jeher der Zusammenhang von Abrüstung mit dem inneren Frieden betont wurde, der die Garantie der Menschenrechte und der inneren Demokratisierung zur Voraussetzung hat.

Die Anzahl der aktiven Mitglieder ist nur schwer zu ermitteln und wird sich in der nächsten Zeit wohl stark erhöhen, weil wir bis Ende Oktober nur in Berlin tätig waren. Gegenwärtig würde ich von etwa 200 Aktiven ausgehen, allerdings von einer weitaus größeren Zahl von Sympathisanten. Die gleichzeitige Mitgliedschaft in anderen Gruppen, Initiativen und Parteien ist möglich. Zur Initiative Frieden und Menschenrechte gehören Intellektuelle, Angestellte, Handwerker und Studenten, aber bisher sehr wenige Arbeiter.

Wir arbeiten als informelle Bürgerinitiative. Die eigenverantwortlich arbeitenden Gruppen sind in zwei gleichrangigen Ebenen strukturiert: Es gibt Regionalgruppen in Berlin, Leipzig, Dresden, Magdeburg und Potsdam sowie etwa zwanzig themenorientierte Projektgruppen. Mindestens einmal jährlich ist eine Vollversammlung oder ein Delegiertentreffen vorgesehen. In der Zwischenzeit wird die Verbindung durch eine Infogruppe und durch ein Netz von Kontaktadressen aufrecht erhalten. Die Außenvertretung geschieht eigenständig durch die Gruppen beziehungsweise für die Initiative insgesamt durch drei Sprecher. Wir verstehen uns nicht als Massenbewegung, vielmehr sollen sich alle Mitglieder nach Möglichkeit auch in den Projektgruppen engagieren.

Hat die Initiative Frieden und Menschenrechte ein Programm?

Es gibt ein Papier zum vorläufigen Selbstverständnis mit folgenden Eckpunkten: Frieden und Menschenrechte sind untrennbar; innerer und äußerer Frieden gehören zusammen und Menschenrechte sind unteilbar. Die Initiative Frieden und Menschenrechte wendet sich gegen die Ausübung von Herrschaft über Menschen, gegen Machtmissbrauch und Diskriminierung. Sie setzt sich für Rechtsstaatlichkeit, politische Gewaltenteilung und für eine demokratische Selbstbestimmung in allen Bereichen ein. Sie unterstützt die Reformen in der DDR und fordert Formen direkter Demokratie.

Zu den Fragen, die von den Projektgruppen bearbeitet werden, gehören die Themen neue Verfassung, Wahlrecht, Wirtschaftsreform, Rechte der Frauen, der Kinder, der alten Menschen, das Recht auf Wehrdienstverweigerung, Situation der Ausländer in der DDR, soziale Verteidigung, gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam. Besonderes Gewicht hat die Untersuchung und Veröffentlichung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der DDR und in anderen Ländern. In solchen Fällen versuchen wir, Solidarität zu üben und, wenn möglich, konkrete Rechtshilfe anzubieten.

Die Gruppen arbeiten öffentlich. Wir gehen von der Legitimität unserer Forderungen aus, das heißt, dass wir Grundrechte so in Anspruch nehmen, als seien sie bereits garantiert.

Der "real existierende Sozialmus" ist gescheitert. Dennoch benutzen auch Oppositionsgruppen den Begriff Sozialismus, wenn sie ihre Forderungen darstellen. Ist für Sie eine andere Form von Sozialismus, die auch persönliche Freiheiten mit einschließt, eine mögliche Perspektive?

Wir sind etwas zurückhaltend mit dem Begriff "Sozialismus", da viele Menschen ihn mit der konkret erlebten Krise gleichsetzen. Für andere bleibt die Verbindung von Sozialismus und Demokratie eine Hoffnung. Am Ende ist jedenfalls der Stalinismus und das mit ihm verbundene Imperium. So gesehen könnte der sogenannte "dritte Weg" zwischen real-existierendem Sozialismus und Kapitalismus nun wieder zum zweiten werden, nämlich zu einem nichtkapitalistischen Weg, der durch das Nebeneinander mehrerer Eigentumsformen, dezentrale Strukturen und eine demokratische Rahmenplanung gekennzeichnet sein könnte. An der Stärkung der parlamentarischen Demokratie führt offenbar kein Weg vorbei. Allerdings müsste sie mit einem hohen Maß an öffentlicher Entscheidungsfindung und -kontrolle und mit Formen direkter Demokratie verbunden werden, so dass insbesondere die Rechte von Minderheiten gewahrt bleiben. Über den Weg, wie dieses Ziel erreicht werden kann, gibt es viele unterschiedliche Positionen: Während die neugegründeten Parteien vorrangig auf die parlamentarische Demokratie zusteuern, wollen wir als Bürgerinitiative weiterhin vor allem außerhalb der Parlamente arbeiten.

Gibt es trotz dieser Unterschiede auch gemeinsame Ziele für die gesamte Oppositionsbewegung?

Die Oppositionsgruppen sind sich in der Notwendigkeit der Durchsetzung der Menschenrechte, der Demokratisierung, der Herausbildung eines Rechtsstaats und der Fortführung der Reformen einig. Unterschiede gibt es vor allem in den Arbeitsformen und -strukturen (von der Massenbewegung ohne deutliches Programm einerseits bis hin zu Parteien mit detaillierten programmatischen Vorstellungen und einer verbindlichen festumrissenen Organisationsform andererseits). In den Zielvorstellungen sind die Unterschiede dagegen gering: Fast alle Gruppierungen und Parteien verwenden die Begriffe sozial, demokratisch, gewaltfrei und ökologisch.

Am 4. Oktober haben wir eine Zusammenarbeit im Hinblick auf die Volkskammerwahlen angekündigt. Ziel ist die Aufstellung gemeinsamer Kandidaten. Ob das gelingen wird, ist nicht abzusehen.

Die "Initiative Frieden und Menschenrechte" sitzt mit am "runden Tisch". Damit haben Sie ein Stück der Verantwortung übernommen, die Stabilität der DQR wiederherzustellen. Welches sind dabei Ihre vordringlichen Ziele?

Zunächst einmal muss der "runde Tisch" seine Kontrollfunktion wahrnehmen und Öffentlichkeit herstellen. Wir verstehen uns nicht als eine Art Schattenkabinett, sondern wir werden Forderungen an die Regierung richten, die wir zur Zeit nur als geschäftsführende Übergangsregierung akzeptieren, die eigentlich keine Legitimation hat, da sie nicht durch freie Wahlen zustande gekommen ist.

In der ersten Sitzung des "runden Tisches" haben wir uns darauf verständigt, dass es am 6. Mai 1990 zu freien Wahlen kommen soll. Die Arbeit am "runden Tisch" wird davon geprägt sein, ob es gelingt, diesen Termin zu sichern und die Voraussetzung zu freien Wahlen zu schaffen. Dazu gehören insbesondere die sofortige Änderung von Teilen der bestehenden Verfassung, damit ein neues Wahlgesetz sowie ein neues Parteien- und Vereinigungsgesetz verabschiedet werden kann. In einem zweiten Schritt soll dann nach den Wahlen eine vollkommen neue Verfassung erarbeitet werden, über die per Volksentscheid abgestimmt werden soll.

Den Teilnehmern an der Opposition geht es vor allem um die Herstellung einer Chancengleichheit für die Teilnahme an den freien Wahlen. Gegenwärtig ist es nämlich so, dass zwar die Führer der alten Parteien ausgewechselt wurden, aber die alten Strukturen noch bestehen geblieben sind. Die alten Parteien verfügen noch immer über ihren Apparat, während die oppositionellen Bewegungen erst im Entstehen sind und sich einen Apparat schaffen müssen.

Dazu gehört auch, dass wir Presse- und Medienfreiheit erreichen müssen, dass wir eigene Zeitungen herausbringen wollen, und dass wir unsere Zeitungen auch in den staatlichen Druckereien herstellen können. Dazu gehört ferner, dass wir eigene Büroräume erhalten, und dass wir unsere eigene Öffentlichkeitsarbeit machen können. Alle diese Fragen werden am "runden Tisch" besprochen.

Der "runde Tisch" steht vor einem zweiten großen Problem. Die wirtschaftliche Zukunft der DDR ist massiv in Frage gestellt. Was kann der "runde Tisch" in dieser Hinsicht leisten?

Eine unserer Hauptforderungen ist, alle ökonomischen, ökologischen, finanziellen Daten offenzulegen und dadurch die Arbeitsfähigkeit des "runden Tisches" erst einmal zu ermöglichen. Bisher ist es so, dass die Regierung in eine hektische Betriebsamkeit verfällt in allen Bereichen, in denen es um die Formulierung neuer Gesetze geht. Wir erhalten ständig Entwürfe von Strafrechtsänderungen, von Veränderungen des Bildungsgesetzes, der Verteidigungsdoktrin und ähnliche Dinge. Wir werden andererseits über das, was sich auf der wirtschaftlichen Ebene abspielt, überhaupt nicht informiert. Hinter dem Rücken der Teilnehmer des "runden Tisches" werden bereits Absprachen über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost getroffen. Andererseits sind auch den Regierungsstellen der DDR, insbesondere dem Außenhandelsministerium und dem Ministerium der Finanzen viele notwendige Daten der DDR-Wirtschaft nicht bekannt, weil ganze Bereiche der Wirtschaft bisher ihrem Einfluss entzogen waren und unter direkter Verantwortung des ehemaligen Politbüros standen.

Wir erwarten, dass zunächst alle Unterlagen über Wirtschaftsverhandlungen öffentlich gemacht werden. Verträge zwischen Firmen der Bundesrepublik und der DDR sollen nicht ohne Kenntnis und Zustimmung der Teilnehmer des "runden Tisches" abgeschlossen werden. Der "runde Tisch" hat eine Kommission zu Wirtschaftsfragen gebildet, die gleichfalls paritätisch besetzt werden soll aus Mitgliedern der oppositionellen Gruppierungen und Parteien und den bisher in der Volkskammer vertretenen Parteien. Dazu sollen Wirtschaftsex­perten geladen werden, und die Ergebnisse dieser Kommission, die dem "runden Tisch" zuarbeiten soll, sollen für die zu treffenden Entscheidungen maßgeblich sein. Wir möchten auf jeden Fall verhindern, dass wir bereits vor der Arbeit dieser Kommission vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Ansonsten wird die Gefahr eines "Ausverkaufs" von der Opposition als sehr groß angesehen.

Die Zukunft der Wirtschaftsstruktur der DDR ist offen. Viele Anzeichen sprechen für eine Wendung zum Markt, für die Umgestaltung des bisherigen Wirtschaftssystems. Ist die Anlehnung an das Industriesystem kapitalistischer Gesellschaften für die DDR eine Entwicklungsperspektive?

Wir sind der Meinung, dass der Markt für die Regulierung der Wirtschaft unverzichtbar ist, dass dem auch ein reales Preisgefüge entsprechen muss, dass Subventionen abgebaut werden müssen, dass auf die Konvertibilität der Währung hingearbeitet werden muss.

Andererseits gibt es in der DDR ein vom Westen abweichendes Sozialgefüge. Für uns ist von besonderer Bedeutung, dass die soziale Sicherung beibehalten wird. Subventionen sollten auf bestimmte Bevölkerungsgruppen verlagert werden. Andererseits könnte der Markt durch bestimmte Planungselemente reguliert werden. Dabei müsste es sich allerdings um eine demokratische Rahmenplanung handeln und nicht um einen zentralistischen Dirigismus wie bisher.

Wie ist der Prozess der Umgestaltung zu organisieren? Viele Beobachter befürchten eine Eskalation. Bei Demonstrationen gibt es Tendenzen zur Gewalt. Droht die bisher friedliche Revolution in der DDR umzukippen?

Zum einen sind seit der Öffnung der Grenzen tatsächlich bei Demonstrationen neue Töne zu hören. Ein Teil der Bevölkerung wäre wohl damit zufrieden, wenn die DDR einfach an den Westen angeschlossen würde. Ein ebenso großer Teil wünscht eine eigenständige Entwicklung der DDR und betrachtet Selbstbestimmung als vorrangiges Ziel. Diese Selbstbestimmung bezieht sich natürlich auch auf die Wirtschaft, die Produktion. Wir müssen weg von dirigistischen, zentralistischen Strukturen hin zu einer größeren Verantwortung im regionalen und kommunalen Bereich und zu einer größeren Eigenständigkeit der Betriebe, ohne dass gleichzeitig soziale Rechte aufgegeben werden. Für notwendig halten wir auch die Stimulierung des Privateigentums. Die Wirtschaft in der DDR könnte davon geprägt sein, dass nebeneinander verschiedene Eigentumsformen bestehen, dass bis zu einer bestimmten Größe der Betriebe das Privateigentum gefördert wird. Das gilt insbesondere für Bereiche wie Dienstleistungsbetriebe, Handwerk, Handel. Oberhalb dieser Größe könnte genossenschaftliches Eigentum gefördert werden, und bestimmte Bereiche sollten weiterhin Staatseigentum bleiben. Alle diese Eigentumsformen schließen sich gegenseitig nicht aus und könnten in ihrer Gesamtheit eine DDR-spezifische Form der Wirtschaft ermöglichen.

In früheren Stellungnahmen der Oppositionsbewegung war die Wiedervereinigung kein Thema. Nun hört man bei den Demonstrationen mehr und mehr die Forderung nach Wiedervereinigung. Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt?

Durch diese Forderung wird der Druck, der ohnehin besteht, erhöht. Wir müssen uns als Oppositionsbewegung auch der "deutschen Frage" stellen, wenngleich die Initiative Frieden und Menschenrechte immer noch der Meinung ist, dass europäische Lösungen angestrebt werden sollten, dass es keine deutsche Sonderlösung geben sollte und dass eine Annäherung bis hin zu einer möglichen Vereinigung nur Bestandteil einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung sein kann. Wir sehen, dass es dafür inzwischen bessere Chancen gibt als noch vor einigen Jahren, und zwar weil der Block, dem wir angehören, im Grunde genommen in der Auflösung begriffen ist: Veränderungen in der Sowjetunion, aber auch in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei haben die Situation in Europa grundlegend gewandelt. Wir denken, dass der Westen jetzt ebenfalls zu gesellschaftlichen Reformen eher in der Lage sein sollte, dass eine militärische Gefahr seitens des Ostens gegenwärtig nicht besteht, so dass von Westeuropa auch Abrüstungsschritte vorangetrieben werden müssen, und dass es dann eine wesentlich größere Chance für eine europäische Einigung gibt. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht auch ein Zusammenwachsen der deutschen Staaten im Sinne einer Konföderation denkbar. Allerdings braucht dieser Prozess Zeit und kann nicht, wie manche Demonstranten fordern, sofort erfolgen.

Sie betonen die Eigenständigkeit der Entwicklung der DDR. Gibt es Möglichkeiten, den Reformprozess in der DDR von außen zu unterstützen?

Wir erwarten keine guten Ratschläge aus der Ferne. Wir hoffen auf Dialog- und Kooperationsbereitschaft mit allen Reformkräften in der DDR, insbesondere auch denjenigen der Opposition. Es gibt in der Vergangenheit einige Beispiele für die Zusammenarbeit: Ich nenne etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die seit etwa einem Jahr versucht hat, mit der entsprechenden Gewerkschaft der DDR Verhandlungen zu führen und zu einem gemeinsamen Konsenspapier zu kommen. Die GEW hat es sich aber andererseits nicht nehmen lassen, auch mit oppositionellen Gruppen Gespräche zu führen, die für eine Bildungsreform eintreten. So könnten wir uns auch die Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften vorstellen.

Ein erstes Gespräch führte Wolfgang Templin am 8. November 1989. Ein zweites Gespräch führte Stephan Hegger am 15. Dezember 1989 in Berlin.

aus: Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 12/1989

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