Der Sozialismus ist ein offener Prozess
Der in der Bundesrepublik lebende DDR-Oppositionelle Wolfgang Templin möchte mehr Austausch zwischen der Linken in der BRD und der DDR, aber keine Bevormundung / Er sieht eine Chance für die Entwicklung eines neuen, demokratischen Sozialismus in der DDR / Die Opposition muss jetzt über sich hinauswachsen
taz: Ihr seid also eine der wenigen Ausnahmen, die zurück in die DDR gehen wollen...
Wolfgang Templin: Ich bin natürlich innerlich hin- und hergerissen. Am stärksten ist das Gefühl, froh zu sein, dass so etwas in der DDR überhaupt begonnen hat. Gleich danach kommt das Gefühl der Trauer, nicht dabei zu sein. Wenn man die ganzen achtziger Jahre damit zugebracht hat, auf einen solchen Moment hinzuarbeiten, solche Ereignisse vor dem Fernseher erleben zu müssen, ist es natürlich eine verrückte Situation. Wir, Lotte, die Kinder und ich sitzen auf den Koffern. Es gibt keine Rechtsgrundlage uns aus der DDR auszusperren.
Ist denn eure Einreise eine Nagelprobe für den Reformprozess?
Das würde ich unbedingt so sehen, wenngleich wir immerhin DDR-Dokumente haben. Doch die aus dem Land getriebenen Freunde von uns, denen man die DDR-Staatsbürgerschaft genommen hat, wären die eigentliche Nagelprobe. Es besteht jetzt die Gefahr, dass mit einer Reiseregelung, wie sie in Aussicht gestellt ist, der Normalbürger bedient und politisch etwas Luft geschaffen wird, während gleichzeitig die engagierten Leute ausgegrenzt bleiben.
Inzwischen kommt ihr in eine veränderte Welt, am Wochenende wurde vielleicht sogar ein neuer Durchbruch erzielt.
Darauf freue ich mich schon. Endlich ist die gemeinsame Grundlage sichtbar geworden, nämlich die, in der DDR bleiben zu wollen und da die Gesellschaft zu verändern. Nicht so sehr deswegen, weil die DDR das bessere Deutschland wäre, sondern aus einer inneren Verbundenheit mit der Gesellschaft heraus. Jetzt könnte sich die DDR-Opposition selbst entkrampfen, könnte einige ihrer alten Denkweisen überwinden, auch gegenüber denen, die gegangen sind. Ich sehe die Entwicklung der letzten Wochen als große Herausforderung. Diese Entwicklung braucht auch Strukturen, es muss gelingen, in einem längeren Zeitraum politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen nicht nur in dem engen Rahmen oppositioneller Tätigkeit. Die Opposition muss jetzt über sich hinauswachsen. Die Kommunikationsstrukturen müssen sich ausweiten, festigen. In den Institutionen spielt sich jetzt schon eine Veränderung ab, wie zum Beispiel in den Blockparteien, die über den anfänglichen Begriff des "Dialogs" weit hinausgehen.
Der instrumentelle Begriff des Dialogs ist offensichtlich überwunden. Die Neudefinition des Dialogs setzt die Überwindung des Machtmonopols der Partei voraus. Andererseits darf sich die Opposition vermutlich auch nicht überfordern.
Sofortige Beseitigung des Machtmonopols ist wahrscheinlich nicht so leicht möglich. Es bedarf des permanenten Drucks auf die Partei, so dass von innen heraus mehr kommt. Es gibt auch überzeugte Sozialisten in der Partei, die begreifen, dass sie sich im Sinne des Sozialismus nicht an das Machtmonopol der Partei, nicht an die Privilegien klammern dürfen. Das ist sicher ein schmerzhafter Prozess, vor allem für die, die gar nicht Nutznießer der Privilegien sind. Die Parteistrukturen doppeln die Machtstrukturen des Staates in der Verwaltung, in den Betrieben, in anderen Institutionen. Es geht jetzt um die Machtpositionen der Partei im Detail.
Gerade deshalb ist es doch notwendig, den Parteileuten, den sogenannten aufrichtigen Sozialisten in der Partei, wenn es die gibt, den Übergang von Seiten der Opposition zu erleichtern.
Die Angst, die du beschreibst, die bei diesen Leuten sicher da ist, ist objektiv nicht begründet. Man hat der Bevölkerung nicht im mindesten zugetraut, dass sie sich verhält wie jetzt. Noch hat man ihr zugetraut, dass sie sich für einen Sozialismus aussprechen könnte. Zu begreifen, dass Leute, die einen demokratischen Sozialismus fordern, der nach der Logik der Partei so gar nicht existieren dürfte, fällt ihnen schwer. Nach der alten Logik ist es ja nicht möglich, einen Sozialismus zu begründen, der die politischen Freiheitsrechte garantiert und das Machtmonopol der Partei negiert, der Demokratie möglich macht und ohne Bevormundung leben kann.
Das ist eine klare Position. Aber gehst du dabei wirklich darauf ein, wie die Brücke gebaut werden kann?
Wer in Zukunft ein möglicher Partner eines echten Dialogs von Seiten der Partei werden wird, der muss sich die Brücken selbst bauen. Doch wir können dazu beitragen. Aber wer sich so in die ideologische und politische Festung eingemauert und zugerammelt hat, muss sehen, jetzt selbst einen Weg da rauszufinden. Denn die Feindbilder, die von dort aus gegenüber der Opposition entwickelt wurden, leben fort. Sie haben uns zwar nicht dauernd ins Gefängnis gesteckt, uns aber als politische Gegner definiert, die in diesem Land keine Existenzberechtigung haben. Sie müssen begreifen, dass man Sozialismus mit gegensätzlichen Standpunkten und Meinungen errichten muss, doch das geht diesen Leuten noch nicht in den Kopf. Doch jetzt werden sie es lernen müssen.
Diese Kritik im Verhältnis von Partei und Gesellschaft, die sich durch die Geschichte der Arbeiterbewegung zieht, die während der Russischen Revolution, in Spanien, auch in der Entwicklung nach 1945 immer eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat, taucht jetzt wieder auf. Würdest du noch weiter gehen und verschüttete Traditionen des Sozialismus wieder ins Spiel bringen?
Gut, dass du diese Frage stellst. Ich sehe das unbedingt. Nicht nur in Bezug auf den historischen Rückblick zur Arbeiterbewegung, in diesen historischen Gestalten liegen ja oftmals ganz konkrete, naheliegende Gedanken. Das was man jetzt in dieser Bewegung entdecken kann, sind doch direkte Rückgriffe auf Elemente des libertären Sozialismus, ohne dass es die Leute, die jetzt auf die Straße gehen, das auch wissen. Dezentralisierung, Selbstbestimmung, dieses Von-unten-Wollen, das sind doch historische Gestalten, die schon im Anarchosyndikalismus angelegt waren. Ich bin mir ganz sicher, dass die Diskussion über sozialistische Traditionen, über die eigene Vergangenheit immer intensiver geführt werden wird. Dann wird das ganze Erbe des Sozialismus, auch die Tradition Rosa Luxemburgs, wieder in neuem Licht erscheinen. Es wird wiederentdeckt werden. Und dafür sehe ich in der DDR ein ganz hervorragendes Feld, weil die Bildungsgrundlage der Leute, auch das noch vorhandene Interesse an linker Tradition und am Marxismus, gute Grundlage für ein Wiederaufleben dieser Traditionen hat. Das ist in anderen Ländern anders.
Welche konkrete Forderungen ergeben sich denn daraus. Was bringen diese Gedanken für die Debatte um eine neue Verfassung?
Denk mal an die Momente der Verbindung von repräsentativer, also parlamentarischer Demokratie, die ja seit 1968 diskutiert wurden. In der DDR wurden diese Erfahrungen immer wieder, ohne sie zu nennen, ebenfalls in die Debatte eingebracht. Ich möchte aber nicht nur in einer Richtung denken. Es muss auch die liberale Tradition, die sich kritisch mit dem Sozialismus in allen seinen Erscheinungsformen, auch den genannten, in der Debatte enthalten sein. Ich denke dabei an die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit, die ist immer noch nicht weit entwickelt. Doch vor allem sollte der Lernprozess an der eigenen Entwicklung, den eigenen Erfahrungen, im Vordergrund stehen.
Und was passiert mit den Konservativen? Was passiert auch mit den Rechtsradikalen, die es doch in der DDR auch gibt? Die müssten dann doch in diesem Pluralismus auch enthalten sein. In der DDR hatte ja die Rechte keine Chance, sich selbst zu zivilisieren, wie es in der BRD seit 1968 immerhin tendenziell geschehen ist.
Ich kann mir nur vorstellen, dass man die Grenze zum Faschismus und zum Rassismus zieht. Die politische Handlungsfähigkeit muss über diese rein sozialistische Perspektive hinausgehen, sie muss auch andere Konzepte für die Diskussion ermöglichen, offen halten, einen anderen Weg sehe ich nicht. Jeder Versuch, jetzt schon wieder einzugrenzen, würde in die alte Zeit zurückweisen.
Rassismus, Faschismus, wie willst du das abgrenzen?
Da hört doch jede Toleranz auf, da muss eine echte Grenze gezogen werden. Wer Gewalt anwendet, darf sich auch in der neuen Gesellschaft nicht behaupten dürfen. Für mich ist das aber etwas anderes als ein politisch zivilisierter Konservativismus. Es gibt noch ein anderes Phänomen zu berücksichtigen. Nämlich das des Regionalismus. Die jetzt geschaffenen Verwaltungsstrukturen sind nämlich nicht den regionalen Traditionen angemessen. In der BRD wurden Landschaften, wurden Städtebilder über die Modernisierung verhunzt, wir jedoch haben die Chance, Ursprüngliches zu erhalten. So beschädigt in vielen Städten die Bausubstanz ist, könnte doch bei einer Umstrukturierung der Politik viel gerettet werden.
Wenn sich das realisieren ließe, dann gäbe es ja eine Wechselwirkung zwischen den beiden deutschen Entwicklungen. Die große Schwester BRD, die den Schleier ihrer Vorstellungen über die DDR ausbreitet, könnte ja durch das Erwachsenwerden des unmündigen Kindes DDR auch profitieren. Es wird sich ein neues Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten herauskristallisieren müssen.
Es gibt für mich hier im Westen eine Tendenz, das Verhältnis der beiden deutschen Staaten von völlig illusionären Voraussetzungen aus zu diskutieren. Die Überlegenheit der BRD, die ökonomisch vorhanden ist, verführt bei den Rechten zur Selbstgefälligkeit und zum Frohlocken über das Scheitern der DDR. Bei den Linken dagegen führt sie zur Befürchtung, die DDR würde zerfallen, wenn sie sich aus der Abschottung löst. Die einen hoffen also darauf, die anderen haben Angst davor. Aber gemeinsam ist den beiden Richtungen jedoch, an diesem Axiom festzuhalten. Und das ist ein ganz mechanistisches Denken, das völlig ausblendet, dass es nicht nur die Leute in der DDR gibt, die von westlichen Konsum angezogen sind, sondern auch noch andere, die nach vernünftigen, selbstbestimmten Lebensverhältnissen streben und keineswegs auf eine Kopie der BRD hinauswollen. In der BRD will niemand wahrhaben, dass es eine Abwehr und einen Trotz gibt gegenüber dieser allmächtigen Schwester. Sicher wollen wir auch unsere materiellen Güter vermehren, wir wollen sie aber selbst erarbeiten, wir wollen nichts geschenkt bekommen. Wir wollen kein abhängiges Schwellenland werden.
Also, du setzt auf den Selbstbehauptungswillen...
Ja, ich denke sogar, dass sich bald etwas verschiebt. Eine DDR, die sich weiter politisch öffnet, wird großes Interesse hervorrufen, auch im Westen. Da wird es sogar welche geben, die von der BRD in die DDR gehen wollen. Es gibt vielleicht dann gar nicht mehr die festgefügten Blöcke Bundesrepublik und die DDR, sondern es gibt unterschiedliche Bestrebungen heterogener politischer Kräfte, die eigene politische Konzepte entwickeln, hin und her. Mich erschreckt eben die Vision der Einheit aller Demokraten von Ost und West. Meine Hoffnung gründet sich auf die Chance der demokratischen Öffentlichkeit der BRD, die vielleicht die Veränderung in der DDR zum Anlas nimmt, über die eigene Entwicklung nachzudenken und vor allem darüber, die DDR nicht in eine neue Abhängigkeit zwingen zu lassen.
Es gibt ja ein eigentümliches Verhältnis in der BRD-Linken zur DDR. Einerseits die Orthodoxen, die DKP-Leute, die dem "Sozialismus unverbrüchlich" die Stange hielten, und andererseits diejenigen Linken, die mit der Kritik an der DKP und dem Stalinismus jegliches Interesse an der DDR verloren hatten. Für beide schwimmen Bezugspunkte weg, kommen auch Weltbilder ins Wanken, denn immer noch wurde bewusst oder unbewusst der Sozialismus in der DDR als gegensätzliches Gesellschaftssystem zum Kapitalismus begriffen. Jetzt kippt dieser scheinbare Antagonismus zum Kapitalismus immer mehr weg.
Was in der DDR entsteht, ist ja ein offener Prozess. Es gibt keine Garantie für die Entwicklung eines demokratischen oder anders gearteten Sozialismus. Die Risiken dieser Öffnung sind gerechtfertigt durch eine Entwicklung, der in die Selbstaufgabe der DDR geführt hätte. Wer jetzt wieder nach Garantien für die Weiterentwicklung des Sozialismus verlangt, wer jetzt ständig vor Fehlentwicklungen warnt, hemmt und verzögert die Diskussion doch nur. Ich kann solche BRD-Linken nicht mehr leiden, mir geht das auf den Wecker. Die sollten besser überlegen, wie in der BRD gegen die rechten Optionen gegenüber der DDR angegangen werden kann. Die Linke hat im eigenen Land nicht die Bedingungen geschaffen, die potenten Kräfte der Rechten zurückzudrängen. Sie sollte schnell begreifen, dass mit der Öffnung in der DDR die Chancen für sie, selbst wieder politisch einzugreifen, in ungeahnter Weise wachsen können. Das würde für die Linke im Westen heißen, sich selbst zu öffnen gegenüber dem Prozess in der DDR und nicht ständig als besserwisserischer Warner herumzulaufen.
Dass es eine neue Dialektik zwischen den beiden deutschen Staaten gibt und geben wird, die auch für die Bundesrepublik von großer Bedeutung ist, das ist für mich ein entscheidender Gedanke. Wie soll denn das aussehen?
Ein Teil der Leute in der DDR reagiert sehr empfindlich darauf, Rezepte von außen zu bekommen. Sie wollen selbständig über die weiteren politischen Schritte entscheiden, doch sind sie an inhaltlicher politischer Kommunikation interessiert, und zwar nicht nur sporadisch. Wenn da mal eine Delegation der Grünen kam, tauschte man zwar Informationen aus, aber das war es dann schon. Es müsste einen organisierten politischen Austausch geben, einen kontinuierlichen und nicht nur einen sporadischen. Gerade in Fragen der Ökologie, über Fragen des Rechtsstaates und Demokratie in der BRD hätten die Ost-Linken einen Diskussionsbedarf. Solche Themen sollten systematischer in den Diskussionsprozess in der DDR miteingebracht werden, als Erfahrungswerte der West-Linken, mit Sachkompetenz, als Diskussion, nicht als Lehrmeisterei oder Bevormundung. Es sollte Foren geben, Diskussionsrunden, mit den neuen Reisemöglichkeiten könnte vieles passieren. Ihr könnt hier Studienaufenthalte ermöglichen, Leute einladen, Projekte an alternativen und ökologischen Einrichtungen schaffen, also die Kontakte vervielfältigen und verstetigen.
Die politische Rechte wird sehr schnell solche Kontakte schaffen und damit Einfluss zu gewinnen suchen. Wenn die Linke zu lange wartet, dann ist das Ergebnis fatal. Wer Kulturarbeit macht, wer in ökologischen Projekten drin ist, wer politische Bildungsarbeit macht etc. hat vielfältige Möglichkeiten, hier in dieser Richtung tätig zu werden. Kurz gesagt, es dürfte keine größeren Projektarbeiten, keine größeren Vorhaben der Linken hier geben ohne die Überlegung, wen können wir aus der DDR dafür heranziehen. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
Interview: Erich Rathfelder
aus: taz-Berlin Nr. 2956 vom 07.11.1989