Rund 130 Bürger der DDR besetzten 1989 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR in Berlin. Während der Besetzung wurde die Ständige Vertretung am 08.08.1989 für den Publikumsverkehr geschlossen. Nach der Zusicherung, die Ausreisewilligen können nach verlassen der Ständigen Vertretung ausreisen, blieb die Ständige Vertretung geschlossen. Offiziell hieß es wegen Renovierung. Es bestand aber die Befürchtung, sofort wieder von DDR-Bürgern besetzt zu werden.
Die Schnell-noch-weg-Stimmung
Bärbel Bohley von der Ostberliner "Initiative Frieden und Menschenrechte" zur Ausreiseproblematik
taz: Wenn du dich in Ost-Berlin umhörst, hast Du dann das Gefühl, dass die Fluchten via Ungarn zur Zeit Thema Nummer eins in der DDR sind?
Bärbel Bohley: Nicht nur via Ungarn. Die DDR-Leute sitzen ja jetzt in mehreren bundesdeutschen Botschaften und versuchen, in den Westen zu kommen. Das gesamte Thema, warum so viele weg wollen, warum gerade jetzt und warum so verstärkt, wird diskutiert.
Und warum wollen gerade jetzt so viele DDR-Bürger weg?
Es gibt so eine Art Endzeitstimmung. Sehr lange wurde in die Sowjetunion geguckt, und es war immer die Hoffnung da, dass sich bei uns auch was bewegt. Jetzt sieht es gar nicht so gut aus, in beiden Ländern nicht: Durch die Streiks in der Sowjetunion ist deutlich geworden, wie schlecht dort die Situation ist und wie gefährdet das ganze Experiment. Da haben die Leute bei uns das Gefühl, es sitzen ganz viele in den Startlöchern und warten, dass das schief geht, um wieder die harte Linie durchzusetzen. Und dann noch die Schließung der ständigen Vertretung. Da entsteht bei den Leuten die Stimmung: schnell noch rechtzeitig weg hier. Natürlich haben die Leute auch Angst, dass die Grenze nach Ungarn zugemacht wird. Aber es weiß auch jeder, dass das nicht helfen, sondern die Situation in der DDR noch zuspitzen wird.
Welche innenpolitischen Auswirkungen hat die momentane Fluchtbewegung?
Ich denke, dass sie dazu beiträgt, dass die Machtverhältnisse bestehen bleiben, dass es innenpolitisch keine große Bewegung gibt und die Fluchten als Ventil benutzt und zugelassen werden.
. . . auch weiterhin?
Na irgendwie muss langsam mal was passieren. Das ist ja eine absurde Situation. Das wird sich nicht nur von der DDR aus ändern, sondern auch von der Bundesrepublik her. Wir wissen ja inzwischen, dass die Leute aus der DDR bei euch gar nicht so gerne gesehen werden. Die ganze Ausländerfeindlichkeit ist ja hier auch bekannt geworden, und dass die DDR-Bürger nicht mehr so aufgenommen werden wie vor 20 Jahren- und schon gar nicht in dieser Zahl. Eines ist klar: Es müsste mal Farbe bekannt werden, von allen Seiten. Das würde bedeuten, dass bei euch deutlich gesagt wird: "Bleibt mal schön drüben."
Du forderst also von der Bundesrepublik, mit der Verlogenheit gegenüber den ausreisewilligen DDR-Bürgern aufzuhören?
Es muss sich auf zwei Seiten was ändern. Bei euch diese Verlogenheit - ob durch Änderung des Grundgesetzes, Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, das weiß ich nicht. Und bei uns: dass die Gesellschaft sich reformiert, dass das System sich verändert, dass die Leute reisen können. Und nicht nur reisen können, wenn jemand eine Tante hat, sondern, dass jeder fahren kann, und wenn's einmal im Jahr ist. Und dann auch genügend Geld dafür umtauschen kann und nicht mehr davon abhängt, dass jemand nett zu ihm ist, im Westen.
Stimmt die Information, dass eine Erweiterung der Reiseregelung geplant ist?
Es wird davon gesprochen, dass der Kreis, der reisen darf, erweitert werden soll - auf diejenigen, die Freunde haben. Aber auch das ist wieder ungerecht, weil natürlich nicht alle Leute Freunde im Westen haben.
Wird über die Fluchtwelle zur Zeit in den Oppositionsgruppen diskutiert?
Ich bedauere, dass da eine starke Antihaltung gegen die Ausreiser da ist und das Problem dadurch ein bisschen weggeschoben wird. Es wird nicht zum eigenen Problem gemacht. In Wirklichkeit ist es aber so, dass von den 16,5 Millionen DDR-Bürger jeder zweite einen Ausreiseantrag hat oder überlegt, ob er einen stellen wird. Und deshalb ist das wirklich unser Problem.
Interview: Clara Roth
aus: taz Nr. 2879 vom 09.08.1989