Programmatische Aussagen zur Volkskammerwahl am 18. März 1990

1. Einheit ja oder nein?

Die Einheit der Nation ist ein natürliches Recht, das auf Dauer auch den Deutschen nicht versagt bleiben kann. Die schreckliche deutsche Vergangenheit verpflichtet uns, die Sorgen der Nachbarnationen ernst zu nehmen. Mit der Zerschlagung des faschistischen Deutschen Reiches sind Tatsachen geschaffen worden, die für mehr als eine Generation gelten. Deshalb kann eine zukünftige Vereinigung nur die beiden deutschen Staaten in den Grenzen von 1949 betreffen. Insbesondere die Oder-Neiße-Grenze zu Polen muss ausdrücklich garantiert bleiben.

Die so unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme haben sehr verschiedene wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Strukturen hervorgebracht. Ein längerer Zeitraum und Veränderungen auf beiden Seiten werden erforderlich sein, um einen Prozess der Annäherung zu erreichen, der das globale Gleichgewicht zwischen den Blöcken in gleichberechtigtes Zusammenleben ohne Blockgrenzen verwandelt. Die mitten durch Deutschland verlaufende Blockgrenze ist immer noch sehr empfindlich.

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten muss im Zusammenhang mit der Annäherung aller europäischen Staaten gesehen werden. Für den Prozess des Zusammenwachsens der europäischen Nationen ist der Abbau der Blockgrenzen unerlässlich. Die Blöcke müssen aufgelöst, die europäischen Grenzen durchlässig werden. Wir glauben, dass erst dadurch gegenseitige Ängste und Vorurteile abgebaut werden können, ein friedliches Zusammenleben auf Dauer möglich wird.

2. Markt oder Planwirtschaft?

Die "sozialistische Planwirtschaft" ist erfolglos geblieben. Sie hat die Motivation durch Wettbewerb durch Dirigismus ersetzt. Das Ergebnis ist das Zurückbleiben hinter der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung.

Die ökonomischen Gesetze dürfen nicht länger ignoriert werden. Deshalb halten wir es für notwendig, die Marktmechanismen zuzulassen, statt sie zu unterdrücken. Weil diese aber auf Wachstum beruhen, besteht die Gefahr der weiteren Zerstörung der Umwelt, der weiteren Ausplünderung der unterentwickelten Länder und der Verschärfung sozialer Spannungen in der DDR.

Deshalb müssen nach unserer Meinung demokratische und plenarische Mechanismen entwickelt werden, die diese Gefahren bannen oder zumindest mildern. Das heißt, es müssen sozialpolitische Sicherungen wie Umschulungsprogramme, Ruhestandsregelungen mit flexiblen Altersgrenzen und garantierte Krankenversorgung unabhängig vom Einkommen entwickelt werden. Arbeitsloseneinkommen, Renten und Kindergeld sowie Mindestlöhne müssen an den Lebenshaltungsindex gebunden werden. Der Lebensstandard sozial schwächerer Menschen darf dabei nicht sinken. Ein soziales Existenzminimum muss festgestellt und garantiert werden. Die Großbetriebe müssen auch praktisch in Volkseigentum übergehen und demokratischer Selbstverwaltung der dort Arbeitenden unterliegen. Mittlere und Kleinbetriebe müssen aufgebaut werden. Dabei sind alle Eigentumsformen denkbar und notwendig.

3. Für oder gegen eine Währungsreform?

Im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Marktwirtschaft in der DDR muss diese sich auf dem Weltmarkt bewähren. Dazu müssen das Außenhandelsmonopol aufgehoben und die Währung konvertierbar gemacht werden. Die verdeckte Inflation in Gestalt von Warenmangel wird zur offenen werden. All dies wird mittelfristig eine Währungsreform erfordern. Wir sind der Auffassung, dass diese nur ein möglicher Schritt im Prozess der wirtschaftlichen Umgestaltung sein kann. Je effektiver die Wirtschaft wird, desto stabiler wird die Mark sein. Das Ziel muss die Befriedigung der Bedürfnisse aus eigener Kraft sein, nicht die Unterwerfung unter die Wirtschaft der BRD und die D-Mark.

4. Rein in die EG?

Die DDR ist wirtschaftlich eng verflochten mit den Ländern des RGW. Auch dort werden Schritte zur Wirtschaftsreform unternommen. Die vorhandene Verflechtung fördert die Koordinierung der wirtschaftlichen Umgestaltung und macht sie gleichzeitig notwendig. Alle RWG-Länder können so gemeinsam ihre ökonomischen Reserven mobilisieren. Der RGW wird dabei umstrukturiert und zu einer funktionierenden Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt.

Auf dieser Grundlage wird natürlich auch die Beziehung zur EG ausgebaut. Dabei kann die DDR eine hervorragende Rolle spielen. Ihre Stellung als RGW-Mitglied und zugleich ihr besonderes Verhältnis zur EG ermöglicht eine günstige Funktion als Vermittler zwischen beiden europäischen Wirtschaftsgemeinschaften. Dadurch gewinnt die DDR herausragende Bedeutung auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Wirtschaftsunion. Unser Standpunkt ist, dass nicht der Übertritt vom RGW zur EG, sondern die Vermittlung zwischen beiden bis zu ihrer Vereinigung den größten Nutzen verspricht.

5. Raus aus dem Warschauer Pakt?

Wir erleben gegenwärtig den Zerfall des sowjetischen Imperiums, was de facto einer wesentlichen Schwächung des Warschauer Paktes gleichkommt. Handlungsbedarf besteht unseres Erachtens nun vor allem auf Seiten der NATO-Staaten. Unser Ziel ist nicht der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt, sondern die Auflösung der Blöcke.

Wir halten die vollständige Entmilitarisierung Europas für möglich. Sie könnte in mehreren Schritten erfolgen: Abbau der Massenvernichtungswaffen, Truppenreduzierung, Abbau der offensiven Doktrinen und Verteidigungssysteme. Schließlich könnte dann auch die defensive militärische Verteidigung durch soziale Verteidigung ersetzt werden. Der Erfolg des gewaltlosen Widerstandes in der DDR und anderen Warschauer Pakt-Staaten macht auf überzeugende Weise ein solches Konzept denkbar.

6. Wer schützt den Staat?

Demokratie hat hierzulande nur eine Chance, wenn der alte Repressionsapparat vollständig verschwindet. Die besonderen Erfahrungen in der DDR mit der Staatssicherheit verbieten aber auch die Neuentstehung eines Amtes für Verfassungsschutz. Es wird weder vor noch nach den Wahlen am 18. März benötigt. Es müssen Konzepte entwickelt werden, mit denen die Polizei den durch die Grenzöffnung entstandenen Problemen besser gerecht werden kann.

Wichtiger als die Stärkung des Polizeiapparats ist es aber, die Wurzeln des Totalitarismus zu beseitigen. Eine kritische Öffentlichkeit muss entstehen, die an sich schon einen gewissen Schutz vor extremistischen Kräften darstellt.

7. Wie wird die Umwelt wieder sauber?

Wir unterstützen alle Konzepte, die der Bewahrung der natürlichen Umwelt dienen. Gerade auch die neue marktwirtschaftliche Orientierung erfordert zwingend eine radikal veränderte Umweltpolitik. Wir sind für den sparsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen, den Einsatz "sanfter" Technologien, den Abbau der Massenproduktion und die Rückkehr zum menschlichen Maß.

Kernenergie ist keine Alternative zur Verschwendung fossiler Brennstoffe. Statt dessen sollten Energiesparprogramme, Solartechnologien und dezentrale Produktionsstrukturen gefördert werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung darf nicht zu Lasten der weniger entwickelten Länder und der nachfolgenden Generation gehen.

8. Sind die Städte noch zu retten?

Viele Städte, besonders Klein- und Mittelstädte in der DDR sind durch die falsche Baupolitik der letzten Jahrzehnte schwer zerstört. Viele Gebäude, ganze Viertel sind nicht mehr sinnvoll zu erhalten. Notwendig ist eine sofortige radikale Umstrukturierung des Bauwesens. Unsere Meinung ist: Die großen Wohnungsbaukombinate mit ihren Plattenwerken müssen aufgelöst werden, soweit sie nicht für die Erhaltung der vorhandenen Plattenbauten notwendig bleiben. Statt dessen müssen kleine und mittlere Baubetriebe entstehen, die sowohl mit traditionellen Mitteln als auch unter Anwendung moderner Technologien die Altbausubstanz sanieren und durch Gebäude, einzeln oder in kleinen Komplexen, ergänzen können. Die Innenstädte müssen durch Dienstleistungsbetriebe belebt werden. Mit dem Bauland muss sparsam umgegangen und Schluss mit der Zersiedlung gemacht werden. Dazu gehört, dass die öffentlichen Nahverkehrssysteme verbessert und attraktiver gemacht werden. Der Autoverkehr darf die Städte nicht erdrücken und verstopfen. Deshalb muss die Planung des städtischen Verkehrs entsprechend ausgerichtet werden. Wirtschaftliche Steuerungsmechanismen des Staates zugunsten der intensiven Baulandsubstanz und der Förderung der Sanierung vorhandener Bausubstanz müssen diese Umorientierung von Bauwesen und Stadtplanung unterstützen.

9. Was soll vom Sozialismus bleiben?

Die Menschen in der DDR haben 40 Jahre lang ein System erlebt, das unter der Bezeichnung "Sozialismus" ihre Bedürfnisse nicht befriedigen konnte, ihre Entfaltung behinderte und ihnen elementare Menschenrechte verweigerte. Sie haben genug davon. Was immer der ursprüngliche Sinn des Begriffs "Sozialismus" enthalten hat, er ist durch die Realität zerstört worden. Geblieben ist das Gefühl einer gewissen sozialen Sicherheit und das Bewusstsein vergleichsweise geringer sozialer Unterschiede. Die notwendigen Veränderungen des ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems dürfen deshalb diese schon selbstverständlichen Werte nicht vernichten. Deshalb ist ihre Erhaltung durch wirksame soziale Sicherung auch in der Marktwirtschaft erforderlich. Ebenso muss die demokratische Kontrolle der politischen und der wirtschaftlichen Entscheidungen garantiert werden. Dazu bedarf es neben politischen Parteien auch Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, Konsumentenverbänden und anderen Organisationen. Die Ergänzung traditioneller parlamentarischer Demokratie durch verschiedene Elemente direkter, außerparlamentarischer Kontrolle ist für unser Demokratieverständnis wesentlich. Ob für die Gesellschaft, die wir uns vorstellen, der Begriff "Sozialismus" zutrifft oder ein anderer, erscheint uns weniger wichtig.

10. Abrechnen oder vergessen?

Mit dem Abbau des alten Sicherungsapparates muss die konsequente Entstalinisierung einhergehen. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen; die Demokratisierung ist gebunden an die historische Aufarbeitung des Geschehenen. Dem "verordneten Antifaschismus" darf jetzt nicht der "verordnete Antistalinismus" folgen. Dogmen, Mythen und Denkschablonen, die totalitäre Strukturen immer wieder reproduzieren, müssen verschwinden. Für uns erhält in diesem Zusammenhang die Bildungsreform ein besonderes Gewicht. In ihr müssen schließlich auch die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aufgehoben sein, denn wenn sie zum sozialen Problem werden, ist die Demokratie in Gefahr.

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