Ohne Huckepack ins Parlament
Plädoyer für eine parteiübergreifende Zusammenarbeit: Kohl ist im Wort und Biedenkopf muss in die Pflicht genommen werden.
Nach der vierten Wahl in diesem Jahr lautete die erste Frage der Journalisten an mich wie bei der Volkskammerwahl: Sind Sie vom Ergebnis enttäuscht? Mein Nein hat viele überrascht. Natürlich waren auch meine Wünsche höher gesteckt als das, was man nach nüchterner Analyse erwarten durfte. Sieben bis acht Prozent waren mein Traumziel für Thüringen. Die erreichten 6,1 Prozent waren dann immerhin das zweitbeste Ergebnis für Bündnis 90/Grüne in den neuen Bundesländern - und das in einer CDU-Hochburg.
Mein Leitsatz während des Wahlkampfes war: Wenn wir über die fünf Prozent kommen, haben wir die Wahl gewonnen. Wir haben die Hürde genommen und stehen plötzlich als Fähnlein der acht Aufrechten allein im ersten frei gewählten Parlament. Die uns Huckepack nehmen wollten, sind abgewählt worden. Nun hätten wir sie Huckepack nehmen können, aber an eine solche Situation vorher auch nur andeutungsweise zu denken, es war absurd erschienen.
Die Auseinandersetzungen um die Schuld an der Niederlage der Grünen sind bereits in der Wahlnacht entbrannt und werden mit Unerbittlichkeit falsch geführt. Die Ursachen werden überall gesucht, aber nicht dort, wo sie anzutreffen sind: innerhalb der Grünen selbst. Die Tragik der Grünen beweist noch einmal, was sie eigentlich schon wussten und was sie als Erkenntnis verbreiten wollten: die Zeit der Parteien und der Parteipolitik ist vorüber. Parteien ist auch mit basisdemokratischer Erneuerung nicht beizukommen. Ideologien werden zu unerträglichen Schranken - auch das haben die Grünen bis zum Rande ihres Unterganges noch einmal bewiesen. Dem basisideologischen Moloch wurden die besten Köpfe geopfert, man zermürbte sich im Streit darum, wer fundamentaler als fundamental und realistischer als real war. Parteiloyalität wurde weder zum Wert an sich. So wurden die wertvollsten Kräfte geschunden und verzettelt statt auf die Lösung der Sachprobleme konzentriert.
Ich will mich aber an dieser Stelle nicht in die grüne Parteianalyse begeben ‚ sondern nur gegenüberstellen, was Bündnis 90/Grüne einzubringen hat. Bei den Wahlen hat sich gezeigt, wie sehr das kurze Politikleben der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne von den Wählern honoriert wurde. Die Politik der Fraktion hat offenbar so sehr überzeugt, dass selbst die unsäglichen Debatten unserer Neuideologen vor der Wahl darüber, ob man sich überhaupt an der Wahl beteiligen darf oder lieber die "Reinheit der Bürgerbewegung" wahrt, ob man mit oder ohne Vereinigte Linke, für oder gegen PDS antritt, nicht ab schreckend genug wirkten. Wahlbehindernd wirkte auch ein von Funktionären aller beteiligten Gruppierungen gebildeter "Zentraler Koordinierungsrat", der an einem Tisch in Berlin fern der Realitäten in den Landesverbänden Entscheidungen fällte, die für viele Basisgruppen schwer zu ertragen waren und manche aus dem Bündnis trieb.
Wieder waren es hausbackene Ideologen und ihre Verfechter, die Unheil anrichteten. Der Funktionärsapparat steht quer zum Anspruch der grünen bürgerbewegten Basisbewegungen: unideologisch, parteiübergreifend, problembezogen wirksam zu werden.
Tatsächlich ist es so, dass keines der auf uns zukommenden ökologischen, wirtschaftlichen oder sozialen Probleme mehr von einer Partei oder Parteienkoalitionen zu lösen ist. Nur eine parteiübergreifende Zusammenarbeit lässt uns die Chance, der selbsterzeugten ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Misere zu entrinnen. Die Golfkrise zeigt überdeutlich, dass die traditionelle Politik in einer tödlichen Sackgasse ist. Mit dem eventuellen militärischen Einsatz am Golf wird eine ökologische Katastrophe globalen Ausmaßes in Kaut genommen, die das gesamte westliche Wirtschaftsgefüge zum Zusammenbrechen bringen kann. Trotzdem wird an den alten Mustern weitergestrickt, als wäre die Welt noch in Ordnung. Dass sie es nicht mehr ist, wird die eigentliche Wahlsiegerin, die CDU, nur allzu bald zu spüren bekommen.
Wir haben nach den Landtags- uni Bundestagswahlen die interessante Konstellation, dass die Opposition in die Regierungsetagen Einzug genommen hat„ selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Wenn Ministerpräsident Biedenkopf die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Interessen der von ihm gierten Sachsen vertreten will, gerät er zwangsläufig in Opposition zu Kohl. Und er weiß es. Er kommentierte den Wahlsieg seiner Parteifreunde sinngemäß so: Kohl habe in Görlitz gesagt, dass er sich nach der Herstellung der äußeren Einheit auch für die innere Einheit, also eine Angleichung des Lebensniveaus einsetzen werde. Dafür sei er gewählt worden.
Kohl ist im Wort und muss von Biedenkopf in die Pflicht genommen werden. Aus dieser vorprogrammierten innerparteilichen Auseinandersetzung, die durch die von den neuen Bundesländern ausgehende politische Dynamik immer wieder genährt wird, erwachsen neue Chancen für die von den Bürgerbewegungen angestrebte überparteiliche Zusammenarbeit.
Mit Sicherheit wird sich das Parteiengefüge in den nächsten vier Jahren verändern. Wie sehr und wohin, darauf dürfen wir gespannt sein.
Vera Wollenberger wurde als Abgeordnete in den Bundestag gewählt.
Freitag Wochenzeitung, Nr. 50, Fr. 07.12.1990