Müssen wir am Auto ersticken?
Alternatives zum Verkehrs-Chaos
Es gibt auch andere Möglichkeiten / Mancherorts ist man weiter als in Berlin
Nun haben wir die von vielen gewünschte Marktwirtschaft. Und mit ihr auch Probleme in etlichen Bereichen. Stabile Verkehrstarife waren eines der Aushängeschilder des Sozialismus. Noch gelten sie, aber wohl nicht mehr lange. Doch auch die billigen 20-Pfennig-Nahverkehrstarife haben hierzulande den Vormarsch des Autos nicht zu bremsen vermocht. Billige Tarife und z. T. schlechte Qualität hier, hohe Tarife und z. T. sehr gute Qualität im anderen Teil Deutschlands - beide Konzepte allein gingen nicht auf. Die umweltfreundlichere Alternative zum Auto-Chaos, der öffentliche Nahverkehr, muss günstige Tarife mit guter Qualität verbinden, um eine Chance zu haben.
Zürich: Umweltkarten für die Belegschaft
Wir haben in der Grünen Partei der DDR im Herbst 1989 die Forderung nach dem Nulltarif aufgestellt. Der Nulltarif schien die einzig reale Alternative zum 20-Pfennig-Tarif, der kaum die durch die Abrechnung entstehenden Kosten deckt. Mit dieser Forderung sind wir an den Runden Tisch Berlins gezogen. Erreicht haben wir dort eine zweite Verhandlungsrunde zwischen Senat und Magistrat, deren Ergebnis die Umweltkarte war. Ein wichtiger Schritt, so glauben wir. Die Umweltkarte sollte jedoch mehr werden als eine Monatskarte im herkömmlichen Sinne. Eine erfolgereiche Strategie, die Umweltkarte zu einem Katalysator des öffentlichen Nahverkehrs zu machen, hat Zürich entwickelt. Die Arbeitgeber stehen vor der Alternative, für die Pkw der Mitarbeiter Stellplätze in Arbeitsplatznähe zu schaffen, oder, was viel billiger ist, Umweltkarten an die Belegschaft zu verteilen.
In Zürich hat man erkannt, dass auch der öffentliche Personennahverkehr des Marketings bedarf. Will man Stammkunden halten, so muss man sie über Angebote informieren. Kartenabonnenten erhalten Fahrplanhefte und Zusatzinformationen zugeschickt. Sie müssen sich nicht danach an stellen, und sie dann auch noch bezahlen. Bei geplanten Netzveränderungen werden die Bewohner durch Postwurfsendungen informiert. Hinweise der potentiellen Kunden werden durchaus ernst genommen. Scheinbare Kleinigkeiten wie Umweltkarten mit Stadtansichten zum Sammeln. Verlosungen usw. sollten in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden, denn wer die Karte gekauft hat, will sie auch benutzen. Einen ganz wesentlichen Vorzug bietet der Züricher Nahverkehr außerdem: In dünn besiedelten Randgebieten und insbesondere in den Abendstunden fahren von Straßenbahn- und S-Bahn-Stationen aus Kleinbusse oder Pkw, die die Kunden innerhalb des Einzugsgebietes bis vor die Haustür bringen, ein Service, der zum Leistungspaket der Umweltkarte gehört. Trotz dieses zusätzlichen, nicht billigen Services ist die Kostendeckung der Züricher Verkehrsbetriebe ("Züri-Linie") in den letzten Jahren ständig gestiegen.
Eine andere Stadt mit Vorbildwirkung ist Stockholm. Hier ist der Erwerb der Umweltkarte auch für den Nur-Autofahrer wichtig, denn nur mit dieser Karte darf er ins Stadtzentrum einfahren. Da er dort darüber hinaus noch mit Parkgebühren zu rechnen hat, ist so eine Fahrt in die City mit dem Auto ein teures Vergnügen, mit der U-Bahn dagegen im Prinzip umsonst.
Dieses Prinzip könnte wegweisend sein. Zur Finanzierung eines Nulltarifs wäre von allen Bewohnern einer Region eine Verkehrssteuer zu zahlen. Besser als diese anonym einzuziehen, scheint es, an die Umweltkarte so viele Leistungen zu hängen, dass sie für nahezu jeden unentbehrlich wird. Für Berlin könnte das bedeuten, dass die Einfahrt in den Bereich innerhalb des S-Bahn-Ringes sowie die Zentren weiterer Stadtbezirke und Vororte den Besitz der Umweltkarte voraussetzt. Weiterhin sollte es bedeuten, dass Betriebe und Institutionen im eigenen Interesse die Umweltkarte zum Bestandteil ihrer Sozialleistungen machen. Tages- und Wochenkarten für Besucher sind eine notwendige Ergänzung.
Fahrpreise müssen bezahlbar bleiben
Wichtig ist, dass der Preis, der für den öffentlichen Personennahverkehr zu zahlen ist, auch zukünftig in angemessener Relation zur Einkommensentwicklung steht und die Situation der sozial schlechter Gestellten berücksichtigt. Dies wird in einem vereinten Berlin eine komplizierte Aufgabe. Unerlässlich ist außerdem, dass nur Werbung gemacht werden kann für ein Produkt, das ausreichend angeboten werden kann. Die Kapazität des öffentlichen Personennahverkehrs muss daher unbedingt erweitert werden durch die schnelle Wiederherstellung aller stillgelegten S-Bahnstrecken, durch die schnelle Entwicklung des Straßenbahnnetzes insbesondere Richtung City und Richtung Westen sowie durch unkonventionelle Lösungen fürs Randgebiet (siehe Zürich).
Wir alle brauchen eine derartige Entwicklung, denn wir brauchen Luft zum Leben.
Burkhard Dierk
Grüne Partei
PODIUM – Die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, Nr. 225, Mi. 26.09.1990