Nachdenken über neue Lebensqualität

Mit Jürgen Israel, Spitzenkandidat des Oderbezirkes, sprach Silvia Fichtner

Sie sind der Spitzenkandidat der Grünen Partei des Oderbezirkes für das zu wählende Parlament. Bitte sagen Sie etwas zu Ihrer Person.

Ich bin 45 Jahre alt, Literaturwissenschaftler, freischaffend, weil ich mich um unsere drei Kinder, 13, 15 und 16 Jahre, kümmern wollte. Ich bin verheiratet mit einer Ärztin, in erster Ehe, wie man so schön sagt, und lebe seit zwei Jahren in Neuenhagen bei Berlin. Wir sind aus Leipzig hier hergezogen, weil meine Frau nach Berlin berufen wurde.

Wenn Sie jetzt in Wahlveranstaltungen auftreten, welchen Eindruck haben Sie, wer sich für Ihr Programm interessiert bzw. wer sich als Mitglied der Grünen Partei engagiert?

Zuerst zu den Sorgen, die ich diesbezüglich habe. In der Grünen Partei sind bisher zu wenige Arbeiter und Bauern engagiert, eher Intellektuelle, Künstler. Gewiss ist das von Ort zu Ort verschieden. In Müncheberg z.B. sind erfreulich viele Bauern Mitglied unserer Partei. Angesichts der anstehenden Probleme wünschte ich mir ein breiteres Spektrum. Vielleicht wird's ja auch noch.

Positiv ist, vor allem zu vermerken: In unserer Partei finden sich kompetente Fachleute zusammen, die uns dank ihrem Wissen und Können in die Lage versetzen, Probleme fundiert zu benennen und gleichzeitig Vorschläge für deren Lösung zu unterbreiten. Wir sind also keine Partei illusionistischer Meckerer, sondern durchaus selber handlungsfähig. Deshalb will ich an dieser Stelle hervorheben, dass die Grüne Partei der DDR keine Umweltschutzpartei allein ist, sondern weitreichende politische Fragen zu verhandeln gedenkt, was ich noch belegen werde im Verlaufe dieses Gesprächs.

Von welcher politischen Grundsituation geht die Grüne Partei in ihrem Parteiprogramm aus?

Als sich die Grüne Partei gründete, hatte sie ein Wirken in der DDR im Sinne. Das hat sich ja nun geändert, weil unsere wirtschaftliche Lage wohl kaum ohne fremde Hilfe zu verbessern ist. Ich denke, die sozialistische Planwirtschaft scheiterte vor allem, weil sie nicht flexibel war. Somit bleibt nur der Weg der sozialen Marktwirtschaft, wobei wir für ein bedachtes Zusammengehen beider deutscher Staaten sind. Wir hoffen, dass sich die DDR-Bürger noch einmal motivieren lassen, engagiert zu arbeiten, vorausgesetzt, sie spüren wofür. Wir sind allerdings zudem angetreten, über eine neue Lebensqualität nachzudenken, wozu gehört, Konsumideologie nicht zum Maßstab zu machen. Dabei sind wir uns im klaren, dass Appelle allein nichts bewirken.

Wir meinen, dass ökonomische Hebel angesetzt werden müssen. Dabei haben wir nicht den Wegfall von Subventionen derzeit oft diskutierter Art im Auge. Wir denken z. B. an ein Gesetz, das wir gern in die Volkskammer oder nennen Sie es Parlament einbrächten, das durchaus eitlen subventionierten Strompreis zulässt. Schließlich soll keiner im Dunkeln oder Kalten sitzen aus falsch verstandener Energiesparsamkeit. Aber man kann genau abgestimmte Limits festsetzen. Wer diese dann bewusst überschreitet, weil er unbedingt seine 29 Grad Wärme haben möchte, der muss sie eben teuer bezahlen. Ebenso ließe sich das mit dem Wasserverbrauch regeln. Auch sparen dieser Art muss sich lohnen.

Die Grüne Partei definiert sich als ökologisch, solidarisch, basisdemokratisch, gewaltfrei. Was heißt für Sie basisdemokratisch? Meiner Meinung nach gibt es Demokratie, oder es gibt sie nicht ...?

Da stimme ich Ihnen zu. Aber der Begriff demokratisch ist durch die vergangenen Jahre in unserem Lande negativ belastet, deshalb wohl suchte man nach neuer Besetzung des Wortes. Basisdemokratisches Wirken denken wir uns sowohl in der Parteistruktur als auch in der Gesellschaft. In unserer Partei soll nicht die Spitze bestimmen, sondern die Mitglieder in den künftigen Landesverbänden.

Kann das aber nicht zu kommunaler Engstirnigkeit führen?

Das wollen wir vermeiden, indem wir den Landesdelegiertenrat als Kontrollinstanz fungieren lassen. In ihm arbeiten Mitglieder unseres sechsköpfigen Sprecherrates mit, der bei uns anstelle eines zentralen Parteivorstandes steht. Natürlich müssen wir Demokratie zu handhaben lernen und uns davor hüten, von einem Extrem ins andere zu fallen.

Gesellschaftlich sehen wir Basisdemokratie als Selbstverwaltung der Kommunen untereinander. Nicht alle Länder wirtschaften ja zu gleichen Bedingungen. Wir haben noch unter einer verfehlten Standortpolitik zu leiden. Dezentralisierung, Neuansiedlungen werden nötig sein.

Was fassen Sie als solidarisches, gewaltfreies Wirken Ihrer Partei?

Wir streben solidarisches Verhalten. mit schwächeren Gruppen der Gesellschaft an, z.B. mit Behinderten, Kranken, Alten, Kindern . . . Kinder können sich nicht selbst schützen, sie sind auf Erwachsene angewiesen. Annahme und Geborgenheit sind für Kinder lebensnotwendig, wie auch für die anderen hier Angesprochenen. Ich glaube, außer uns ist die PDS die einzige Partei, die DDR-weit Plätze für die Kandidatur Behinderter zur Verfügung stellt. Solidarisch bezieht sich ebenso auf das Verhältnis zur dritten Welt, denn wir sehen die Welt ganzheitlich und nicht nur Europa. Es sollte uns interessieren, auf wessen Kosten wir wohl leben. Wir streben eine KSZE-Konferenz und eine ökologische Sicherheitskonferenz an.

Sie haben vorhin betont, dass Sie sich für ein bedachtes Zusammengehen beider deutscher Staaten einsetzen. Welche Befürchtungen bestimmen Ihr Engagement?

Wenn ich verfolge, mit welchen Methoden Wahlkampf importiert wurde in den vergangenen Wochen, befürchte Ich, dass wir ein Parlament haben werden, wie es sich die Bundesregierung vorstellt, nicht aber das Volk der DDR erhofft. Ich denke, dass wir trotz der misslichen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns befinden, einen kühlen Kopf bewahren müssen und nicht eher in eine Wiedervereinigung einwilligen, bevor nicht bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Ich habe z.B. speziell den Berufsstand der Bauern im Blick, der unserer Partei begreiflicherweise nahe steht, die Bauern sind naturgemäß auf eine intakte Umwelt angewiesen ... Es ist bekannt, dass unsere Hektarerträge weit unter denen der BRD liegen, somit die Produkte teurer produziert werden. Wie sollen sie in Zukunft abgesetzt werden? Schutzmechanismen werden nötig, eine Spezialisierung auf biologischen Anbau allein ist nicht ausreichend. Als Portugal der EG beitrat, wurden die Bauern stark subventioniert, um sie konkurrenzfähig zu machen.

Ein weiteres Problem ist das der wirklichen Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die BRD ist auf den starken Mann als Ernährer der Familie eingeschworen und fixierte damit auch die Rolle der Frau ziemlich eindeutig. Wir meinen, dass die Familie ohne ökonomische Zwänge entscheiden können muss, wer die Hauptlast der Erziehung trägt. Warum kann das nicht der Mann sein? Und warum bekommt im Scheidungsfall meist die Frau das Sorgerecht? Übrigens würde ich im Parlament sehr gern Fragen der Familienpolitik übernehmen wollen und nicht - wie meistens vermutet wird - den Umweltbereich . . .

Ökologie als Stichwort findet sich in den meisten Parteiprogramm. Was verheißt die Grüne Partei darunter?

Wenn Sie sich die Programme der anderen Parteien genau ansehen, so werden Sie erkennen, dass sie sich nur verwirklichen lassen, wenn die Ökologie außer acht gelassen wird, denn Ökologie hat etwas mit den von uns angesprochenen Veränderung der Lebensqualität zu tun. Wir versprechen nichts, was wir hinterher nicht halten können.

Wir sind zweitens nicht der Rufer in der Wüste, sondern machen dank unseren sachkompetenten Mitgliedern praktische Vorschläge, über die man ganz konkret debattieren kann. Wir lassen uns damit beim Wort nehmen.

aus: Neuer Tag, Nr. 57, 08.03.1990, 39. Jahrgang, Herausgeber: Verlag Neuer Tag

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