Vereinigungstaumel - und das Ende?
Grüne Partei meldet Bedenken an
Nun hört man es aus allen Richtungen: Deutschland einig Vaterland. Wer ist es, der da so lautstark ruft, wer ist es, der im Hintergrund steht, die Stimmung anheizt und sich heimlich die Hände reibt? Nicht jene Kräfte rufen nach der schnellen Einheit, die unter Einsatz ihres Lebens im Herbst 1989 auf die Straße gingen, um für Demokratie und Selbstbestimmung in diesem Land zu streiten.
Ist es vielleicht die Mehrzahl der Frauen? Viele Frauen ahnen jetzt (manche spüren es schon am eigenen Leibe), dass sie mit der kritiklosen Übernahme des westlichen Modells ihre Arbeitsplätze gefährden. Was wird aus den Anfängen weiblicher Selbständigkeit - das Ende am Herd? Wie schützen sich Frauen demnächst davor, selbst zur Ware herabgewürdigt zu werde?
Es können nicht unsere Kinder sein, die umgehend westliche Verhältnisse fordern - um den Preis ihrer Kindergartenplätze, die drüben 20mal mehr kosten als bislang hierzulande.
Auch die Bauern sind es nicht, die laut tönend nach dem EG-Anschluss rufen, denn damit wäre durch Billigimporte ein Bauernsterben vorbestimmt, wie es nebenan auf der Tagesordnung steht.
Nicht die Benachteiligten, die Kranken und Behinderten wollen jene Verhältnisse, die nur dem Starken einen Platz sichern, den Schwachen aber am Rande liegen lassen und ihn ohne Aussichten auf ein sinnvolles und menschenwürdiges Dasein mit ein paar Geldscheinen abspeisen.
Es sind wohl nicht die Rentner, die da einig Vaterland rufen, denn wer soll ihre Renten in DM bezahlen?
Nein, es sind die Starken, die Mächtigen, die unser Land unter Druck setzen. Jene, die gut verdienen und noch besser verdienen wollen. Dabei könnten auch sie schon morgen zu den Kranken und Behinderten zählen, die auf Hilfe angewiesen sind.
Nein, für Gleichmacherei sind wir wahrhaftig nicht. Aber wenn nur jener menschenwürdig leben kann, der leistungsstark ist, wird das Prinzip der Gerechtigkeit massiv verletzt.
Nicht nur unsere sozialen Vorteile stehen jetzt auf dem Spiel. Unsere Umwelt, so belastet sie in der Tat ist, hat auch noch andere Seiten als Espenhain und Bitterfeld (wo schnellstens Entscheidungen über Stilllegung oder Modernisierung zu treffen sind).
Wir haben noch eine Natur, die an vielen Orten sehenswert ist, ja, die in Mitteleuropa Seltenheitswert hat. Nicht umsonst gieren schon französische, japanische und bundesdeutsche Unternehmen danach, auf unseren Grund und Boden Hotelketten zu setzen. Wir haben noch Seeadler und Großtrappen, wir haben noch langgestreckte Alleen mit alten Bäumen. Wollen wir dieses Stück Heimat niedermachen für die Autolawine, die doch für jeden sichtbar im Westen die Straßen der Städte verstopft, die Landschaft zerschneidet und entwertet?
Wollen wir künftig jenen Giftmüll, den unsere alten Führer für ein paar Westmark eingeholt haben, nun im Lande selbst produzieren? Werden wir innerlich glücklicher sein, wenn wir endlich nicht nur zwischen Golf und Fiat, sondern auch zwischen drei Dutzend verschiedenen Zahnpastasorten wählen können?
Natürlich wurden wir Jahrzehntelang belogen. Aber müssen wir nun alles zwangsläufig zu Schrott erklären, was ja wir uns selbst gebaut und eingerichtet haben?
Viele von uns lassen sich vom westlichen Glanz betören. Dahinter steckt das Verbluten der Natur und ihrer einmaligen Vorräte, dahinter steckt die gnadenlose Ausbeutung der Menschen in den Entwicklungsländern, die für ihr Tagwerk in den Bananen- und Kaffeeplantagen nur ein paar Hungerpfennige erhalten. Dahinter steckt ein Wohlstand auf Kosten unserer Kinder. Wer kann das alle Ernstes für gut und richtig halten?
Kein Taumel, kein Rausch hält ewig an. Irgendwann kommt das Erwachen. Hoffentlich nicht, wenn alles zu spät ist.
Ernst und Marianne Dörfler
aus: Neuer Tag, Nr. 54, 05.03.1990, 39. Jahrgang, Herausgeber: Verlag Neuer Tag