Vor einem Jahr begann in Dresden die Wende

Von 20, die aufstanden, eine Welt zu verändern

Die "Gruppe der 20" - ihr Werden, Wachsen und Vergehen - Versuch eines Porträts

Sonntagnachmittag gegen drei. Ich bin gerade dabei, die Kaffeetafel zu decken, da klingelt es. Draußen steht ein Kollege: Alle Redakteure sollten sofort ins Haus der Presse; in der Stadt braue sich was zusammen. Während einige Reporter später ins Zentrum steuern, arbeite ich mit anderen an einem Bericht über die letzten Tage in Dresden. Die Leser sollten erfahren, dass der Protest nach anfänglicher Gewalt nun ein anderer war und dass es neben einigen wenigen Steinewerfern Tausende gab, die friedfertig gegen die Situation im Lande demonstrierten. Unser Bericht landet letztlich im Papierkorb. Stattdessen erscheint ein Beitrag, der auf direktem Wege aus dem nahen Hause der SED-Bezirksleitung kam.

Die Nacht verbringe ich in Lauerstellung auf einer Liege in der Redaktion. Doch es bleibt ruhig. Erst am folgenden Tag erfahre ich, was sich am Abend dieses 8. Oktober 1989 auf der Prager Straße zugetragen hat. . .

"Keine Gewalt" - ein Ruf bricht sich Bahn

Dunkelheit hat sich über der Stadt ausgebreitet. Am Altmarkt trifft Dieter Brandes auf eine Menschenmenge, die in Richtung Prager Straße zieht. Rufe wie "Keine Gewalt!", "Bruder schlag mich nicht!" und "Wir bleiben hier!" treffen seinen Nerv. Die Erinnerung an den 3. und 4. Oktober ist hellwach: das umgestürzte, brennende Polizeiauto, die fliegenden Steine, der Wasserwerfer . . . Am Eingang der Prager Straße werden die Demonstranten von Polizisten mit Helm und Schild empfangen, und die ersten scheren aus. Doch die Masse lässt sich nicht aufhalten. In Höhe des ersten Springbrunnens, neben dem Hotel "Newa", setzen sich die Menschen spontan auf die Platten. Lieder erklingen: "We shall overcome", "Völker hört die Signale" . . . Da setzen die Polizisten, die mittlerweile einen Kessel gebildet haben, plötzlich die Helme ab. In Dieter Brandes steigt ein Gefühl auf: War das der ersehnte Moment, die Wende zur Gewaltlosigkeit? Rasch ist der 58jährige, Katechist auf den Beinen, als Bürger gesucht werden, die zu einem Gespräch bereit wären. Weder er noch die rund 20 anderen, die kurz darauf der Menge als deren Vertreter vorgestellt und von ihr bestätigt werden, kann das historische Ausmaß dieser abendlichen Stunde ahnen...

Langsam kommt der Dialog in Gang

Am nächsten Morgen, 9 Uhr, treffen sich die Demonstranten und deren kirchlichen Begleiter mit dem Dresdner Oberbürgermeister. Der hört sich die Forderungen in Ruhe an: sachliche Darstellung der Ereignisse der letzten Tage; Klärung der Probleme, die mit den Inhaftierten zusammenhängen; Reise- und Demonstrationsfreiheit; Fortsetzung des Dialogs . . . Insgesamt neun Punkte kommen zur Sprache. Wolfgang Berghofer weiß: Das meiste davon steht nicht in seiner Macht, und alles übrige kann ihm das Genick brechen. Er hat sich schon weit vorgewagt, weiter als irgendein anderer in seiner Position. So verlässt die Gruppe das Rathaus mit magerem Erfolg. Die einzigen verbindlichen Zusagen: Der Dialog wird fortgesetzt. Und alle Inhaftierten, die keine Gewalt angewendet oder Polizisten beschimpft hatten, sollten frei kommen.

Vom zweiten Versprechen will man zwei Tage später schon nichts mehr wissen. Ulrich Baumgart, der neben zwei weiteren Gruppenmitgliedern mit Vertretern von Rat, Staatsanwaltschaft und Polizei die Einzelheiten besprechen will, ist verwirrt: Was sollte man den Menschen sagen, die am Abend in der Versöhnungskirche auf konkrete Ergebnisse warteten? Der laut ausgesprochene Gedanke erweist sich als Druckmittel. Nach langem Hin und Her kann eine Mitschrift des ersten Rathausgesprächs aufgetrieben werden, die den Bürgervertretern Recht gibt. Die Zusage wird bestätigt - und erfüllt. Am Freitag sind im wesentlichen alle "Zugeführten" wieder auf freiem Fuß.

Für Ulrich Baumgart sollte sich das Thema damit aber längst nicht erledigt haben. Als sich am 7. Dezember in Dresden eine Unabhängige Untersuchungskommission konstituiert, gehört auch der 45jährige Katholik dazu. Mehrere Monate lang werden Akten gewälzt, Beteiligte angehört, Tatorte besichtigt. Nur schwer lässt sich das Geschehen vom 3. bis 10. Oktober aufhellen, als Angehörige der Schutz- und Sicherheitsorgane den Zugeführten Gewalt antaten. Zumal - so scheint es der Kommission - einige Leute die Untersuchung bewusst in die Irre führen. Am Ende steht dennoch ein ausführlicher, detaillierter Abschlussbericht und für Ulrich Baumgart die Erfahrung, dass sich Hartnäckigkeit lohnt.

Aus den Kirchen, auf die Straßen

Eine Woche nach dem ersten Rathausgespräch treffen sich die "Gruppe der 20", wie sie sich inzwischen offiziell nennt, und das Stadtoberhaupt zum zweiten Mal. Noch immer betrachtet Berghofer die Gruppe als zufällig zusammengewürfeltes Häuflein: "Was sind denn 20 gegenüber 500 000 Einwohnern?" Zusätzliche Spannung kommt auf, als die Bürgervertreter fortan die Bekanntgabe der Ergebnisse der Rathausgespräche auf öffentlichen Plätzen fordern. In diesem Moment reicht man dem OB einen Zettel herein - Tausende Menschen würden vor dem Rathaus stehen und Auskunft fordern: heute und hier. Die Beratung wird unterbrochen. Kirchenjurist Steffen Heitmann, der der Gruppe seit dem 9. Oktober beratend zur Seite steht, versucht währenddessen die Wogen innerhalb der Gruppe glätten. Er bewundert die Courage, mit der sich diese Menschen einer völlig neuen Verantwortung stellen. Und sieht doch die Unfertigkeit und den Mangel an Erfahrung, der Hilfe von außen notwendig macht, wenn das Ganze nicht scheitern sollte. Der erste Erfolg stellt sich bereits an diesem Abend ein. Sein Kompromissvorschlag wird sowohl von der Gruppe als auch von Berghofer akzeptiert: Morgen letztmalig Informationsveranstaltungen in fünf Dresdner Kirchen, dann nur noch öffentlich und für jedermann zugängig.

Bestellte Pfiffe

Am 11. November erscheint in der SZ folgende Erklärung: "Nach den Erfahrungen der Kundgebung vom letzten Montag hat sich die 'Gruppe der 20' entschlossen, künftige Kundgebungen nicht mehr gemeinsam mit dem Rat der Stadt vorzubereiten . . ." Was war geschehen? Nach dem sogenannten Massendialog auf der sogenannten Cocker-Wiese hatte man für den 6. November erstmals zu einer Kundgebung am Fucíkplatz aufgerufen. Die 18 Diskussionsredner sind abgestimmt; auf der einen Seite u. a. Hans Modrow, Wolfgang Berghofer und Axel Viehweger, auf der anderen z. B. Herbert Wagner, Friedrich Boltz und Frank Neubert. Die Vertrauenskrise zwischen Regierung und Regierten besteht fort, die Wellen der Erregung schlagen in der Masse der 70 000 trotz Dauerregens hoch. Frank Neubert, von Hause aus Schichtleiter in einer Brauerei, tritt als zweiter Redner ans Mikrofon. Er plädiert für die Gleichberechtigung aller gesellschaftlichen Gruppen und für einen erneuerten Sozialismus. Als er jedoch über die Übergriffe und die verschleppten Untersuchungen sprechen will, kommt er kaum zu Wort. Immer wieder gellen ihm aus den Vorderreihen Pfiffe entgegen. Ähnlich ergeht es den anderen Vertretern der Gruppe. Für sie besteht kein Zweifel, dass diese Skandalierer bestellt sind. Um künftig Ähnliches zu vermeiden, kommt es schließlich zu der eingangs zitierten Erklärung. Der Rat der Stadt, der die organisierten Störungen zunächst bestreitet, kehrt später zur Wahrheit zurück. Beim 4. Rathausgespräch entschuldigt sich Berghofer bei der Gruppe. Wieder ist ein Stück Demokratie hart erkämpft worden.

Welchen Auftrag hat die Gruppe noch?

Friedrich Boltz steht vor der Tür, während drinnen in der Dompfarrei die Gruppenmitglieder entweder eine weiße oder eine schwarze Kugel in die Mütze stecken. "Demokratisch" soll entschieden werden, ob er, nachdem persönliche Anschuldigungen gegen ihn bekannt geworden sind, weiter in der Gruppe verbleiben darf. Boltz versteht: Das Ansehen der ganzen Gruppe steht auf dem Spiel, wenn der Schatten auch nur auf ein Mitglied fällt. Aber ist es eigentlich nicht eher ein willkommener Anlass, sich von einem unbequemen Mitglied zu lösen? Mit Methoden, die eigentlich der Vergangenheit angehören?

Unbequem war der "Rucksackberliner", wie er sich selbst bezeichnet, schon lange. Er gehörte zu jenen Genossen, die ungehemmt den Mund aufmachten, auf die aber keiner hörte. Die Chance, die der 8. Oktober bot, war in seinen Augen anfangs nur klein: eine Eskalation der Gewalt verhindern, den Dialog mit denen "da oben" einleiten, der Demokratie auf die Beine helfen. Der erste Aufruf der Gruppe vom 15. Oktober trägt im wesentlichen seine Handschrift. Die Arbeitsgruppen, die wenige Tage später von Bürgern und Stadtverordneten gebildet werden, sind für ihn demokratische Institutionen im besten Sinne des Wortes. Man spürte förmlich, wie die Ideen frischen Wind in das Stadtparlament brachten. Hat sich aber damit nicht der Sinn der Gruppe erfüllt? Wenn sich die Gruppe erklärtermaßen keiner Partei verpflichtet fühlt - sollte sie sich, da es nun um Inhalte ging, nicht besser zurückziehen?

Die Mehrheit der Gruppe sieht es zu diesem Zeitpunkt - Mitte November - anders. Sie arbeitet weiter, und zwar fortan ohne Friedrich Boltz, der später in die PDS eintritt.

Wählervereinigung tritt Erbe an

Am 8. Oktober, auf der Prager Straße, steht er zu weit hinten, als dass er überhaupt mitkriegt, was da vorn zwischen Demonstranten und Polizei ausgehandelt wird. Dafür gehört er eine Woche später zu den ersten, die sich nach der Informationsveranstaltung in der Versöhnungskirche in eine der ausliegenden Listen eintragen und damit sein Interesse für die Arbeitsgruppe Wirtschaftsentwicklung bekundet: Klaus-Dieter Scholz. Es ist die Zeit, als die meisten noch hoffen, mit Reformen das festgefahrene Wirtschaftsgefüge auf neuen Kurs zu bringen.

Später, im Februar 1990, spricht ihn Herbert Wagner an. Ob er, Scholz, nicht der "Gruppe der 20" beitreten wolle, nachdem die Gruppe arg geschrumpft ist und das Statut Neueintritte gestatte. Klaus-Dieter Scholz sagt zu und wird am 7. März offiziell aufgenommen. Er kommt zu den Beratungen der Gruppe im Büro in der Kreuzstraße, hat aber mehr und mehr ein ungutes Gefühl, weil nicht hier, sondern vorrangig in den Arbeitsgruppen und in der Basisdemokratischen Fraktion die eigentliche Arbeit geleistet wird. Zudem sind die Spannungen nicht mehr zu überspielen, nachdem Herbert Wagner, Frank Neubert und Arnold Vaatz ziemlich spektakulär der CDU beitraten. So unterstützt Klaus-Dieter Scholz den Vorschlag, die Idee der Gruppe in eine "Freie Wählervereinigung parteiloser Dresdner Bürger" münden zu lassen, die zu den Kommunalwahlen am 6. Mai antreten soll. Von den 40 Kandidaten sind nur vier aus der "Gruppe der 20", und so kommt es unter den anderen Mitgliedern der Gruppe zunächst zum Streit, ob die Wählervereinigung mit dem Namen der Gruppe werben darf. Der endgültige Bruch vollzieht sich am 29. April. Ihrem Verständnis von Parteiunabhängigkeit folgend, will die Wählervereinigung weder Herbert Wagner als Spitzenkandidaten der CDU noch Roland Nedeleff als ebensolchen der SPD unterstützen. Sie stellt Klaus-Dieter Scholz als ihren Bewerber für den Posten des Oberbürgermeisters auf.

Am 16. Mai fassen die Mitglieder mit einigen Stimmenthaltungen den Beschluss, die "Gruppe der 20" zum 31. Mai 1990 aufzulösen. Man sehe ihren Auftrag nach Wahlen, bei denen Dresden erstmals wieder eine demokratisch legitimierte Stadtverordnetenversammlung erhielt, als erfüllt an, heißt es in dem Papier.

P.S.: Die Geschichte der "Gruppe der 20" kann hier nur unvollständig wiedergegeben werden. Ebenso wie die Charakterisierung ihrer Mitglieder nur in Ansätzen möglich ist. Nicht alle, die am 8. Oktober den gewaltfreien Dialog einleiteten, konnten bei meinen Recherchen berücksichtigt werden. Manche waren auch nicht zu Aussagen bereit und vier leben seit längerem in der Bundesrepublik.

Steffen Klameth

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 234, 06./07.10.1990, 45. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport

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