"Für uns steht jetzt alles auf dem Spiel"
Rund 800 Teilnehmerinnen aus der DDR und der BRD trafen sich am Wochenende in Berlin zum ersten Ost-West-Frauenkongress / Als Strategiedebatte geplant, war das Treffen eher ein Forum für Informations- und Erfahrungsaustausch / Geringe Beteiligung enttäuschend
Aus Ost-Berlin Ulrike Helwerth
Eigentlich stand eine Strategiedebatte auf dem Programm. Entworfen werden sollten die Grundlinien einer gemeinsamen Ost-West-Frauenpolitik, um dem "gesamtdeutschen Zug, der droht, uns zu überrollen", so der Aufruf, ein paar Brocken auf die Gleise zu werfen. Doch der erste landesweite Ost-West-Frauenkongress am Wochenende in Berlin zeigte, dass sich die Schwestern noch ziemlich fremd sind, dass der schnelle Familienanschluss bei den Frauen eben nicht so klappt wie bei den Parteien. Informations- und Erfahrungsaustausch rangierten also vor der Strategie. Fast zwei Tage lang debattierten die Teilnehmerinnen - manchmal auch aneinander vorbei - über die Frauenbewegung in Ost und West, ihre aktuellen Themen und Probleme.
Gleich zu Anfang gab es heftige Kritik an den Organisatorinnen, dem unabhängigen Frauenverband der DDR, dem Westberliner Frauennetzwerk "Goldrausch" und autonomen Münchener Frauen. Das Thema "Ausländerinnen" tauchte nämlich im ganzen Programm nicht auf. "Typisch", beklagten sich "In und Ausländerinnen" über die Ignoranz der "weißen" Frauenbewegung und setzten das neue BRD-AusländerInnengesetz ganz oben auf die Tagesordnung. Eine Referentin aus der DDR berichtete von der Diskriminierung und den Anfeindungen gegenüber den "Gastarbeitern" in der DDR aus Mosambik, Kuba, Vietnam. Eine Chilenin beschrieb den Rassismus in der DDR, der den „bunten Kindern” (sie meinte die nicht-weißen), aber auch ihren weißen Müttern entgegenschlägt. Vor dem "rasanten DM-Nationalismus" warnte Birgit Cramon-Daiber. Die Europa-Abgeordnete der AL malte ein düsteres Bild: Ein bis drei Millionen Arbeitslose stünden der DDR bald ins Haus. Durch den Zusammenschluss werde der BRD-Wirtschaft plötzlich ein Überangebot der von ihr bevorzugten Arbeitskräfte offeriert: männlich, deutsch, weiß, unter 30 Jahren und mit einer Hausfrau im Hintergrund. Frauen fielen dem Verdrängungsprozess als erste zum Opfer. "EG-weit leben über 40 Millionen Menschen unter dem Existenzminimum. Das ist der Goldene Westen", so die Euro-Parlamentarierin.
Halina Bendkowski von der Westberliner "FrauenfrAktion" begann ihr Referat über Gewalt und Pornographie mit einer "Entwarnung vor dem Feminismus" - als Replik auf die Autorin Freya Klier, die unlängst in einem Aufsatz (siehe taz vom 24. März) behauptete, diese "Gruselvokabel" (Feminismus) schreckte Frauen in der DDR nachhaltig ab. "Nicht der Feminismus, sondern der Antifeminismus des weltweiten Patriarchats verursacht Gruseln", konterte Halina Bendkowski unter Beifall. Sie spannte den Bogen von der strukturellen Männergewalt über die Pornographie zur konkreten körperlichen Gewalt. Mit Vergewaltigung beschäftigt sich bereits seit Jahren eine Frauengruppe in Weimar. Da das Thema bislang in der DDR tabu und offizielles Material dazu nicht aufzutreiben war, entwickelten die Frauen einen Fragebogen dazu und verteilten ihn an Freundinnen und Bekannte. 154 Antworten kamen zurück. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben eine oder gar mehrere versuchte oder vollendete Vergewaltigungen an. Doch kaum eine wurde je angezeigt, geschweige denn verurteilt, berichtete Heidi Malz aus Weimar.
Gegen Pornographie haben inzwischen die Erfurter "Frauen für Erneuerung" mobil gemacht. 30 Videotheken sind innerhalb von sechs Wochen in ihrer Stadt eröffnet worden. Die Frauen fanden heraus, dass dort neben Action- und Gewaltfilmen auch Hardcore-Pornos verkauft und verliehen werden, obwohl Pornographie in der DDR immer noch als "Verbrechen gegen Freiheit und Würde des Menschen" gilt und verboten ist. Sie erstatteten, wie die Mitgründerin der Gruppe, Kerstin Schön, erzählte, gegen einen dieser Läden inzwischen Anzeige. Die Polizei leitete das Verfahren auch an die Staatsanwaltschaft weiter und stellte Antrag auf Beschlagnahme. Die Staatsanwaltschaft allerdings winkte zunächst ab. Begründung: Zuerst müsse ein Gutachter oder eine Gutachterin feststellen, ob es sich bei den Videos tatsächlich um Pornographie handele. Nur: Eine solche Fachkraft konnte bisher nicht aufgetrieben werden.
Die Auseinandersetzungen um den Paragraphen 218 machten die Kluft und die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen BRDlerinnen und DDRlerinnen vielleicht am deutlichsten. 20 Jahre feministische Diskussion lässt sich eben nicht in einem Crashkurs nachholen. Viele Ost-Frauen fühlen sich von den redegewandten und erfahrenen Westlerinnen überfahren, pochen auf Autonomie. Entsetzen bei den Westlerinnen, milde Ablehnung bei den Ostlerinnen löste der Beitrag von Karin Raab von der "Fraueninitiative Leipzig" aus. Die Leipzigerin forderte nämlich - unter Beibehaltung der Fristenregelung eine Beratungspflicht für alle Frauen. Karin Raab beklagte, dass die Frauen in der DDR mit ihrer Entscheidung ganz alleine gelassen würden. "Wollen sie das Kind - ja oder nein", sei die einzige Frage, die Arzt oder Ärztin einer schwangeren Frau stellten. Der Eingriff selbst sei häufig schmerzhaft; junge Frauen bekämen bei ihrer ersten Abtreibung oft Prostaglandine gespritzt, die Behandlung sei meist "kalt" und entwürdigend. Über ihre psychischen Probleme könnten die Frauen mit niemandem reden. Dass die zweifelsohne frauenfeindliche Abtreibungspraxis durch eine Beratungspflicht schwerlich verbessert wird, wollte die Kritikerin kaum einsehen - trotz Hinweise auf die erschwerte Abtreibungsituation in Bayern und Baden-Württemberg und das auf Eis gelegte Beratungsgesetz in der BRD. Mehr als eine stöhnte heimlich über das "feministische Entwicklungsland" DDR. West-Frauen riefen dazu auf, gemeinsam am 16. Juni zur Demonstration gegen den Paragraphen 218 nach Bonn zu fahren.
Zum Schluss des samstäglichen Vortrags- und Diskussionsmarathons meldeten sich die Lesben zu Wort. Es ging um Verfolgung, Unterdrückung und Ausgrenzung von Homosexualität und die Organisierung lesbischer Frauen hüben und drüben. Auch in der DDR sind Lesben wichtiger Motor der autonomen Frauenbewegung. Bereits seit Jahren gibt es Gruppen im ganzen Land, vor einem Jahr erschien die erste kleine Lesbenzeitung, 'Frau anders'. Obwohl die Nachfrage groß ist, wird das Blatt in kleiner Auflage nach wie vor auf Matrize hergestellt. Es findet sich nämlich keine Druckerei, die den Auftrag annehmen will.
Homosexualität zwischen Erwachsenen ist in der DDR kein Strafdelikt mehr. 1968 wurde der Paragraph 175 gestrichen. Im Entwurf des Runden Tisches "Neue Verfassung DDR" von Anfang April wird die Gleichstellung aller Lebensweisen als Grundrecht formuliert. Eine Forderung, die von der grünen "Bundesarbeitsgemeinschaft Lesben" aufgegriffen wurde. Sie sammeln zur Zeit Unterschriften für die Änderung des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dort soll künftig stehen: "keine Person (darf) wegen ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt oder bevorzugt werden."
Ein großer, offener Kongress hätte es werden sollen, denn schließlich geht es jetzt "ums Ganze". Aber das Interesse war enttäuschend gering. Zwar wurden 800 Eintrittskarten verkauft. Aber mehr als 500 Frauen saßen nie gleichzeitig in der riesigen Ostberliner Dynamo-Sporthalle. Zwei Drittel, so die Schätzungen, kamen aus der Westberliner und westdeutschen Frauenszene, ein Drittel aus Ost-Berlin und der DDR. Die Westlerinnen hatten absichtlich nur die "autonomen Frauen" aufgerufen, viele DDRlerinnen aber vermissten die „normalen” Frauen, aus Gewerkschaften, Parteien. Denn die unabhängige Frauenbewegung in der DDR und ihr Verband, der UFV, sind seit den Wahlen am 18. März fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Strukturen sind geschrumpft, manche Aktivistinnen der ersten Stunde haben sich aus der Organisationsarbeit zurückgezogen, ausgepowert. Viele Frauen, weiß Kerstin Schön aus Erfurt, stehen jetzt selbst vor der existenziellen Krise und suchen nach Lösungen für ihr eigenes Leben. Dennoch hat der Unabhängige Frauenverband ein paar Pflöcke eingeschlagen. Landauf landab wurden Frauenzentren eröffnet, zahlreiche kommunale Gleichstellungsbeauftragte nahmen ihre Arbeit auf. Ob diese Einrichtungen jedoch die Kommunalwahlen am 6. Mai überleben, ist ungewiss. Wie sagte eine DDRlerin mit Blick in die Zukunft? "Für uns steht jetzt alles auf dem Spiel."
taz, Mo. 30.04.1990