Kein Haus Europa ohne Frauenzimmer
Von CHRISTIANE HELLING, Bonn
Vergangene Woche gehörte das Gästehaus der Bundesregierung rund 250 Teilnehmerinnen aus Ost und West, die sich hier zur "1. gesamtdeutschen Frauenkonferenz" trafen. Die Politikerinnen, Gewerkschafterinnen, Kirchenfrauen, Wissenschaftlerinnen,Gleichstellungs- und Ausländerbeauftragte die Künstlerinnen und Unternehmerinnen waren gekommen, um Gedanken, Tatsachen und Entwicklungen zu sortieren und zu werten. Nicht nur über Deutschland, sondern auch für Deutschland nach- und vorauszudenken, und das über parteipolitische und weltanschauliche Grenzen hinaus, war das Ziel in einem sehr breiten politischen Spektrum.
Es hätte vollständiger sein können, wenn zum Beispiel auch eine Vertreterin der PDS, die aber nicht eingeladen war, ihre Positionen eingebracht hätte. Neue Bundestagsabgeordnete der Grünen/Bündnis 90 Übernahmen es, viele Fragen zu beantworten über das, wie es scheint, etwas verlorengegangene Selbstbewusstsein der ehemaligen DDR-Frauen, über den Verbleib der Bürgerbewegungen aus dem Herbst 89, zu speziellen Befindlichkeiten der neuen Bundesbürgerinnen. Marianne Birthler (Initiative für Frieden und Menschenrechte) warnte davor, Unsicherheiten mit Minderwertigkeitsgefühlen zu verwechseln. Scharfen Widerspruch löste die ehemalige Volkskammerpräsidentin und jetzige Bundesministerin Sabine Bergmann-Pohl mit ihrer Einschätzung aus, zahlreiche DDR-Bürger seien "deformiert". So fürchtete eine Pfarrerin, dass nun "alle, die in der DDR lebten, abgewertet werden". Die "neue Zeit" sei für sie schwierig genug, schilderten viele Ex-DDR-Frauen. Sorge um den Arbeitsplatz, um die Zukunft der Kinder, finanzielle Unwägbarkeiten, Wohnungsnöte werden von ihnen anders erlebt, stellen sich viel existentieller.
Sehr deutlich wurde, dass weder Währungsunion noch staatliche Vereinigung für die Frauen irgendwelche Probleme gelöst haben. Im Gegenteil. Es überwog bei aller Freude, das Alte hinter sich zu haben, zumindest bei den Gästen in Bonn das Gefühl "ganz brutal zurückgedrängt zu sein." Nicht wenige wandten sich deshalb von den etablierten Parteien ab und sprachen sich für eine große außerparlamentarische Opposition aus, selbstverständlich durch Frauen in bisher nicht gekanntem Maße mitgetragen.
Dieses sich gegenseitig gegebene Versprechen, gemeinsam im neuen Deutschland zu kämpfen, resultiert aus der Einschätzung, dass Frauen gegenwärtig viel mehr als Männer unter einer unerträglichen Diskrepanz zwischen politischem Denken, Reden und Handeln leiden, die Politik und Politiker häufig unglaubwürdig macht. Zu vieles bleibe auf der Strecke - Vertrauen, Fairness, Geduld, Rücksichtnahme und Ehrlichkeit vor allem. Deshalb sei es wichtiger denn je, ein eigenes Politikverständnis zu entwickeln und durchzusetzen. Das dürfe sich nicht auf die "Spielwiese Frauenpolitik" beschränken, sondern müsse alle Bereiche politischer Männerdomänen einbeziehen. Folgerichtig deshalb auch die sehr wohl als Drohung gemeinte Feststellung: Ohne viele Frauenzimmer wird es ein bewohnbares Haus Europa nicht geben. Und dass die Frauen nicht in den Keller, sondern nun endlich in die Beletage wollen, daran ließen sie keinerlei Zweifel.
Neue Deutschland, Mo. 05.10.1990