DDR 1989/90 Brandenburger Tor

Frauenaktionsprogramm der PDS

Frauen unseres Landes stehen heute an einem Wendepunkt. Gerade haben sie begonnen, ihre Interessen zu erkennen und aktiv zu vertreten, sich der Stagnation und Rückschritte im Prozess ihrer Gleichstellung im Sozialismus stalinistischer Prägung bewusst zu werden und sich für echte Chancengleichheit beider Geschlechter stark zu machen. Gerade haben sie begonnen, alte Fesseln abzustreifen, da drohen neue Gefahren.

Es mehren sich Anzeichen dafür, dass mehr Frauen als Männer zu den Verlierern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen gehören. Sicher geglaubtes geht verloren. Von der sich ausweitenden Arbeitslosigkeit sind Frauen stärker als Männer betroffen. Erste Kinderkrippen und -gärten werden geschlossen. Das System der Dienstleistungen wird zusehends schlechter. Der Abbau von Subventionen begann ausgerechnet bei Kinderbekleidung. Angriffe auf das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch sorgen nachhaltig für Beunruhigung. Pornographie und Sexismus werden hoffähig gemacht. Angetreten waren wir, den Patriarchensozialismus und seine von oben verordnete Frauenpolitik zu überwinden. Nun sehen wir uns unversehens konfrontiert mit einem Patriarchat, in dem das große Kapital das Sagen hat.

Kein Zweifel: Wenn wir Frauen nicht beginnen, um unsere Interessen, um bereits Erreichtes und um weitergehende Ziele hier und heute zu kämpfen, dann haben wir schon verloren.

Fraueninteressen - gibt es sie?

Obwohl Frauen in der Realität schon zu den am meisten Betroffenen der gesellschaftlichen Veränderungen gehören, sind sich noch immer viele ihrer ureigensten Interessen nicht bewusst. Eine häufige Frage ist: Gibt es denn besondere Fraueninteressen? Die Antwort lautet: Ja.

Besondere Interessen von Frauen gegenüber den Männern resultieren daraus, dass Frauen bis heute im Vergleich zu Männern gesellschaftlich benachteiligt sind. Die historisch überkommene und längst überlebte gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist - trotz in der Vergangenheit immer wieder verkündeter „realer Gleichberechtigung" - keineswegs überwunden. Nach wie vor wird ihnen die Hauptverantwortung für Haushalt, Kindererziehung und Familienglück zugeschrieben, obliegt es den Frauen, Beruf und Familie zu vereinbaren. Die Kehrseite ist: Frauen gelten in Beruf, Politik und im gesellschaftlichen Leben als weniger belastbar und weniger entwicklungsfähig. In Zeiten drohender Massenarbeitslosigkeit fliegen sie als erste auf die Straße. Fraueninteressen sind vielfältig und differenziert. Das Interesse der Arbeiterin in sogenannten frauentypischen Berufen, die bei geringem Einkommen häufig schwere körperliche Arbeit leistet, unterscheidet sich von dem der Wissenschaftlerin, die meist von Spitzenpositionen ausgeschlossen bleibt, das der Bäuerin, die durch Beruf, individuelle Hauswirtschaft und Familie dreifache Last trägt, von dem der Lehrerin. Gemeinsam aber haben Arbeiterin und Wissenschaftlerin, Bäuerin und Lehrerin

- das Interesse an einem eigenen Arbeitseinkommen, das ihnen eine selbständige, vom Mann unabhängige ökonomische Existenz sichert;

- das Interesse an funktionierenden Dienstleistungen, an ausreichenden Kindereinrichtungen in guter Qualität;

- das Interesse an solchen sozialpolitischen Maßnahmen, die nicht nur ihnen, sondern auch dem Mann die Vereinbarkeit von beruflicher Entwicklung und Familienleben ermöglichen;

- das Interesse an einer gerechten Verteilung von Last und Lust zwischen Männern und Frauen in Haushalt und Familie.

Schließlich wächst das Interesse von Frauen, in Beruf, Politik und im gesamten gesellschaftlichen Leben nicht schlechthin gleichberechtigt, sondern wirklich gleichgestellt zu sein. Davon zeugt der Aufbruch der Frauen in der neuen Frauenbewegung unseres Landes.

Für die Bewahrung des Rechts auf Arbeit und echte Chancengleichheit im Beruf

Die ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann auf der Grundlage eines eigenen Arbeitseinkommens ist und bleibt die entscheidende Voraussetzung für alle weiteren Schritte zur realen Gleichstellung der Geschlechter. Deshalb treten wir dafür ein, auch unter künftigen marktwirtschaftlichen Bedingungen das Recht auf Arbeit für Frauen und Männer zu gewährleisten. Echte Chancengleichheit im Beruf wie in der gesamten Gesellschaft erfordert die Überwindung der realen Ungleichstellung der Frauen.

Obwohl mehr als 90 Prozent von ihnen berufstätig sind und damit nahezu die Hälfte des gesamten gesellschaftlichen Arbeitsvermögens ausmachen, obwohl sie in Bildung und Qualifikation den Männern nicht nachstehen, arbeiten drei Viertel aller berufstätigen Frauen in schlechter bezahlten, sogenannten frauenspezifischen Tätigkeiten im Handel, im Dienstleistungs- und im Gesundheitswesen, in Industrie und Landwirtschaft. Wir treten dafür ein, die Arbeit dieser Frauen gesellschaftlich neu zu bewerten und sie nach dem Prinzip der Gleichheit gerecht zu entlohnen. Nur so kann angesichts der bevorstehenden Veränderungen im Preisgefüge und bei Mieten die ökonomische Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Frauen erhalten werden.

Trotz angeglichener Bildung und Qualifikation sind Frauen in attraktiven, zukunftsweisenden Berufen und in Leitungsfunktionen weithin unterrepräsentiert. Prägendes Kennzeichen unserer Männergesellschaft ist: Je höher die Funktion, um so weniger Frauen. Deshalb treten wir speziell in diesen Bereichen für wirkliche Chancengleichheit von Frauen und Männern ein. Das erfordert den quotierten Zugang zu entsprechenden Ausbildungs- und Arbeitsplätzen ebenso wie zu Leitungsfunktionen.

Bevorstehende Strukturveränderungen in der Wirtschaft bringen für Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Ungleichstellung ernst zu nehmende Gefahren mit sich. Zu erwarten ist, dass sie von der drohenden Massenarbeitslosigkeit überproportional betroffen sein werden. Deshalb fordern wir nachdrücklich, die in der Verfassung garantierten Rechte für Frauen, insbesondere ihr Recht auf Arbeit, auch künftig zu sichern und die sie betreffenden Bestimmungen des gegenwärtigen Arbeitsgesetzbuches in dem neu zu erarbeitenden fortzuschreiben. Sozialer Abstieg von Frauen infolge wirtschaftlicher Umstrukturierung ist durch volle finanzielle Sicherung bei Arbeitslosigkeit sowie staatlich bzw. betrieblich finanzierte Umschulungsprogramme und -maßnahmen zu verhindern.

Besonderer Fürsorge und besonderen Schutzes - Kündigungsschutz eingeschlossen - bedürfen Schwangere, Alleinerziehende, Mütter mit behinderten Kindern und berufstätige Frauen im Vorrentenalter. Während des Babyjahres muss der Anspruch auf den Arbeitsplatz erhalten bleiben.

Für die gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten, für eine progressive Sozialpolitik

Die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen im Beruf resultiert in hohem Maße aus der überkommenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und dem traditionellen Rollenverständnis. Frauen wird durch die Gesellschaft nach wie vor die Hauptverantwortung und -last für Kindererziehung, Hausarbeit, Familie und Partnerschaft zugeschrieben. Eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter erfordert, dass familiäre und häusliche Pflichten zwischen Frauen und Männern gerecht verteilt werden, dass nicht nur Frauen ihr Recht auf Mutterschaft, sondern auch Männer ihr Recht auf Vaterschaft verwirklichen können.

Deshalb treten wir dafür ein, dass bisher nur für berufstätige Mütter geltende sozialpolitische Leistungen wie Babyjahr, verkürzte Arbeitszeit bei zwei und mehr Kindern unter 16 Jahren, Haushaltstag, Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder auch auf Väter übertragen werden können.

Wir fordern die Sicherung der gesellschaftlichen Kinderbetreuung in Krippen, Kindergärten und Schulhorten zu tragbaren Preisen für Familien und Alleinerziehende. Schulspeisung und Trinkmilchversorgung dürfen nicht Opfer des Rotstifts werden.

Künftig zu garantieren ist Wohnen zu erschwinglichen Preisen und Mieterschutz.

Wir setzen uns dafür ein, dass Frauen, die die Last des Neubeginns nach dem Kriege trugen, einen würdigen und ruhigen Lebensabend verbringen können und fordern die Sicherung ihrer Renten sowie deren Angleichung an wachsende Lebenshaltungskosten, besonderen Schutz hinsichtlich ihres Rechts auf Wohnen und kostenlose medizinische Versorgung.

Wir setzen uns ein für besondere soziale Sicherung von Alleinerziehenden.

Für die politische Gleichstellung von Männern und Frauen

Auch und besonders für den politischen Bereich gilt, dass der Frauenanteil zu den oberen Entscheidungsebenen hin drastisch abnimmt. Daraus erwächst ein ernstes Defizit an gleichberechtigter demokratischer Mitsprache und Mitgestaltung der einen Hälfte der Bevölkerung. Alle bisherigen Emanzipationsversuche innerhalb der traditionellen gesellschaftlichen und arbeitsteiligen Strukturen konnten politische Gleichstellung nicht wirklich voranbringen. Im Gegenteil: Gerade in den beiden letzten Jahrzehnten wurde sie durch eine Vielzahl verfehlter frauenpolitischer Maßnahmen weiter behindert.

Deshalb bedarf es jetzt grundlegender Schritte auf dem Weg zur politischen Gleichstellung, darin eingeschlossen grundlegende strukturelle Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Als notwendiges und zeitgemäßes Mittel dafür betrachten wir die Quotierung in allen politischen Funktionen und Mandaten. Was kann, was soll Quotierung leisten?

1. Quotierung soll Druck schaffen, damit Fraueninteressen in Politik und Gesellschaft endlich anerkannt und durchgesetzt werden.

2. Quotierung soll als ein Mittel dazu beitragen, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das reale und umfassende demokratische Mitentscheidung von Frauen auch im Bereich der Politik ermöglicht.

3. Quotierung soll - gekoppelt mit anderen Maßnahmen, wie einem funktionierenden Dienstleistungssystem, mehr freie Zeit für Männer und Frauen u.a. - Unterrepräsentation und Diskriminierung von Frauen dadurch beseitigen, dass ihren Lebensvorstellungen gleiche Möglichkeiten und gleiche Bedingungen gegeben werden. Quotierung bietet damit auch die Chance, zu einer neuen Form von Politik zu gelangen, die aktiv und gleichberechtigt von Frauen und Männern gestaltet wird.

Die Glaubwürdigkeit dieser Grundsätze einer neuen Frauenpolitik der PDS wird daran gemessen, wie sie in ihren eigenen Reihen Genossinnen und Genossen gleichstellt. Deshalb sind wir für

- eine Quotenregelung in gesellschaftlich bedeutenden Bereichen, wobei für unsere Partei eine 50-Prozent-Quote in allen Leitungsfunktionen und Mandaten angestrebt wird;

- eine feste Verankerung von Fraueninteressen in Programm und Statut der Partei.

Für die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper Gegen Gewalt und Sexismus

Zum Selbstbestimmungsrecht der Frau gehört, dass sie entscheiden kann, ob und wann sie ein Kind austragen will. Die PDS setzt sich dafür ein, dass dieses Recht erhalten bleibt und vor Angriffen von rechts geschützt wird. Sie setzt sich zugleich dafür ein, dass auch künftig Schwangerschaftsabbruch und Pille für Frauen kostenlos sind und die medizinische Versorgung staatlich finanziert bleibt.

Die Achtung der Persönlichkeit der Frau schließt den Kampf gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen und Kinder, gegen Sexismus und gegen die Vermarktung des weiblichen Körpers ein. Die wichtigste Voraussetzung, diesen Entwürdigungen zu begegnen, ist die Durchsetzung des Rechts auf Arbeit und die Sicherung der materiellen Unabhängigkeit der Frauen. Zugleich sind Möglichkeiten zu schaffen, die von Gewalt bedrohten Frauen und Kindern Schutz und Unterstützung bieten (z.B. Frauenhäuser).

Für eine breite Öffentlichkeit

Eine neue Frauenpolitik durchzusetzen, erfordert eine breite Öffentlichkeit für die Gleichstellungsproblematik: Öffentlichkeit im Sinne von Information und Sensibilisierung, basierend auf wissenschaftlichen Daten zur Geschlechterproblematik, Öffnung der Medien und des gesamten Bildungsbereiches für die Frauenfrage.

Zum anderen verlangt Öffentlichkeit im Sinne von Politikfähigkeit:

- eine starke unabhängige Frauenbewegung und die Realisierung konkreter Projekte (Frauenzentren, -clubs, -häuser, -zeitungen usw.);

- die Schaffung staatlicher Instrumente, wie eines Staatssekretariats für Frauenfragen mit entsprechenden Kompetenzen und analogen Einrichtungen (Gleichstellungsstellen) auf allen Ebenen;

- die Erarbeitung eines Gleichstellungsgesetzes, Quotenregelungen in attraktiven und zukunftsweisenden Berufen sowie in Leitungs- und Entscheidungsfunktionen auf allen Ebenen, verbunden mit speziellen Frauenförderprogrammen;

- die Stärkung gesellschaftlicher und betrieblicher Interessenvertretungen für Frauen durch Frauen;

- eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen und Basisinitiativen, die unmittelbar im Territorium wirken.

Die PDS setzt sich für die Schaffung einer solchen breiten Öffentlichkeit für Gleichstellung der Geschlechter ein, unterstützt die Forderungen des Unabhängigen Frauenverbandes und arbeitet solidarisch mit allen politischen Kräften und Bewegungen zusammen, die sich für die Durchsetzung von Fraueninteressen in der Gesellschaft und für eine demokratische, sozial verpflichtete linke Politik einsetzen.

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