Wir wollen keinen Streik, aber starke Gewerkschaften
Fragen an Karl-Heinz Fengler, stellv. Vorsitzender des Bezirksvorstandes, Gewerkschaft Handel, Nahrung, Genuss
ND: Am Mittwochmorgen konnte man in der "Berliner Zeitung" lesen, Ihr Bezirksvorstand hat für Donnerstag zu einem Warnstreik aufgerufen. Ein paar Stunden später dann verkündete der Rundfunk die Rücknahme des Streiks. Was ist der Hintergrund?
Karl-Heinz Fengler: Ursprünglich hatte der Zentralvorstand unserer Gewerkschaft für den 21. Januar zu Demonstrationen in der ganzen Republik aufgerufen, um den Forderungen unserer Mitglieder Nachdruck zu verleihen. Diesem Aufruf stimmten zwei Berliner Kreisvorstände, der von Mitte und von Lichtenberg, nicht zu, weil in Berlin ja schon für den 20. Januar eine Gewerkschaftsdemonstration geplant ist. Eine weitere am Folgetag könnte als Spaltung ausgelegt werden. Die Diskussion dieser Frage am Montag in unserem Bezirksvorstand spitzte sich aber unversehens zu, auch aus dem Grund heraus, dass sich westliche Handelsfirmen schon in unseren Kaufhäusern befinden sollen und die Werktätigen davon nichts wissen. Heraus kam dann der, wie wir heute sehen, sehr spontane Entschluss: Warnstreik.
ND: Warum nun die Rücknahme?
Karl-Heinz Fengler: Der Streik wurde vom überwiegenden Teil der Kollektive nicht mitgetragen. Vom Grundanliegen her sollte er sich auch nicht gegen die Regierung richten, aber in der jetzigen Lage wirkt sich ein Streik in der Endkonsequenz so aus. Das Wollen wir nicht. Wenn wir jedoch vergessen, einen kühlen Kopf zu behalten, dann besteht die Gefahr, dass uns vieles aus der Hand gleitet. Wir bevorzugen andere Methoden, unseren Forderungen Gehör zu verschaffen - wie die Demonstration am 20. Januar, an der wir uns entgegen einer gestrigen BZA-Meldung auf jeden Fall beteiligen. Was wir wollen, sind starke Gewerkschaften, aber keinen Streik.
ND: Was sind die wichtigsten Forderungen?
Karl-Heinz Fengler Uns geht es kurz gesagt um eine Neueinordnung des Handels in das volkswirtschaftliche Tarifsystem, um Garantien für reale Pläne, um eine Investitions- und Strukturpolitik für moderne Betriebe, damit sich die Arbeitsbedingungen unserer Kollegen entscheidend verbessern. Allein bei den Tarifen hat sich in den letzten zwanzig Jahren wenig getan. Unser Zentralvorstand strebt hier mit dem Minister ernsthafte Lösungen an.
Für ND fragte Jörg Staude
Neues Deutschland, Jahrgang 45, Ausgabe 15, 18.01.1990, Sozialistische Tageszeitung. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.
[BZA - Berliner Zeitung am Abend, erschien am Nachmittag, heute Berliner Kurier]