Mit INGRID BOCHE von der IG Bau/Holz sprach Hannelore Hübner

Solidarität mehr denn je gefragt

Ingrid Boche ist Sprecherin des Rates der BGL-Vorsitzenden, im Wohnungsbaukombinat Berlin. Die engagierte Gewerkschafterin, verheiratet und Mutter dreier erwachsener Kinder, wird auf der Maikundgebung auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag als eine Vertreterin der DDR-Gewerkschaften das Wort nehmen. Wir fragten Ingrid Boche:

Wie kam's dazu? Wer hat Sie gewählt, oder sind Sie ausgewählt?

Gewählt, und zwar einstimmig, wie man mir sagte. Als klar war, dass die Berliner Gewerkschafter den 1. Mai gemeinsam feiern, stand die Frage: Wer redet? Die 16 IG-Vorsitzenden haben sich zusammengesetzt, und raus kam, ich soll's machen. Sicher hat eine Rolle gespielt, dass mich viele kennen, ich habe ja erst neulich auf der Kundgebung vor dem Schauspielhaus gesprochen.

Der 1. Mai ist in diesem Jahr für viele ein besonderer Tag. Für Sie auch?

Ja, natürlich. Aber nicht nur, weil es der hundertste ist. Die Gewerkschaften bei uns haben in ganz kurzer Zeit eine völlig neue Qualität erfahren, stehen vor völlig neuen Aufgaben. Nehmen Sie unser WBK. Was aus dem Kombinat wird, aus seinen Betrieben, entscheidet sich erst noch. Aber, wir Gewerkschafter sitzen mit am Tisch. Drängen darauf, dass Umschulungsmöglichkeiten geschaffen werden, haben selbst Kontakt zu den Leipzigern aufgenommen, wo es solche Programme fürs Bauwesen schon gibt. Ein Sozialpaket ist in Arbeit . . .

Die Probleme müssen jetzt gelöst werden. Langsames Hineinwachsen in die neuen Aufgaben ist nicht möglich. Es geht darum, selbstbewusst für die Interessen der Arbeitnehmer zu streiten: für die Einhaltung geltenden Rechts, für die Erarbeitung ordentlicher Entwicklungs- und Sozialkonzepte, für eine aktive Beschäftigungspolitik. Wir sollten gar nicht erst zulassen, dass Massenarbeitslosigkeit zur Realität wird Die Marktwirtschaft ist nämlich nicht von Natur aus sozial, wir Gewerkschafter müssen sie sozial machen. Deshalb ist mir dieser 1. Mai so wichtig.

Solidarität sichert unsere Zukunft, so lautet das Motto des morgigen Tages. Klingt das nicht ein bisschen abgegriffen?

Ganz im Gegenteil! Solidarität ist mehr denn je gefragt - untereinander und gegenüber den arbeitslosen Kollegen; überhaupt mit allen, die des besonderen Schutzes bedürfen und die - wie sich jetzt auch hier bei uns zeigt als erste auf der Strecke bleiben. Wenn Egoismus und Herzlosigkeit unser Miteinander bestimmen, werden auch Gewerkschaften und Betriebsräte Wenig ausrichten. Gemeinsames Handeln ist oberstes Gebot. Nach innen wie nach außen. Wir müssen zusammenhalten und zeigen, dass wir stark sind, nur dann wird unser gewerkschaftlicher Kampf erfolgreich sein.

Mit dem Zusammenhalten ist es ja nicht ganz einfach. Wen erwarten Sie denn morgen im Lustgarten?

Es ist einfacher, als Sie denken. Jeder, der sich mit unserem gewerkschaftlichen Anliegen verbunden fühlt, ist herzlich willkommen. Wir sind überzeugt, es sind viele.

Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 100, 30.04.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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