Gespräch mit der Schauspielerin Walfriede Schmitt
ICH BAUE AUF UNSERE LERNFÄHIGKEIT
Sie sind Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst zu einer Zeit geworden, in der das Vertrauen der Mitglieder durch die Machenschaften einiger Funktionäre des Bundesvorstandes arg gebeutelt war, viele die Reihen der Gewerkschaft verlassen haben. Pflicht oder Neigung? Was gibt ihnen die Kraft, gerade jetzt ein so arbeitsaufwendiges Amt "nebenbei" zu bewältigen? Welche Hoffnungen auf Veränderungen setzen Sie in Ihre Arbeit?
Meine Eltern haben mich in diesem Land so erzogen, dass ich mich schon immer nicht nur für mein eigenes Befinden interessiert habe, mich auch verantwortlich fühle für gesellschaftliche Prozesse. Es scheint mir wichtig, sich auch um Übergreifendes als politischer Mensch zu kümmern. Diese Art zu denken und zu handeln verliert man nicht. Auch nicht in Krisensituationen.
Schließt das Kritik an vorhandenen Zuständen und Strukturen ein?
Es ging und geht nicht anders, als dabei wach und kritisch zu bleiben. Als praktischer Mensch kann ich nur Dinge tun, die auch einen Sinn haben. Der war in den letzten Jahren immer schwerer zu erkennen, weil sich Gremien, in denen man mitarbeiten wollte, immer mehr verhärtet haben, alles immer mehr zentralisiert wurde. Die Loslösung meiner Parteigruppe beispielsweise vom Arbeitsprozess am Theater und die Unfähigkeit, sich produktiv einzubringen, dass der Weggang so entscheidender Theaterleute wie Besson, Karge/Langhoff und Marquardt nicht verhindert werden konnte das und anderes waren die Anstöße, mich von der unmittelbaren Parteiarbeit zu lösen. Es folgte eine Zeit der Resignation und Lethargie. In dieses Vakuum hinein fragte mich die Gewerkschaft - das war nach dem Fernsehfilm "Das zweite Leben der Pauline Oswald", für den wir den Kunstpreis erhielten ob ich nicht in der Frauenkommission mitarbeiten wolle. Damals meinte ich, wie viele Frauen heute noch, dass es keine spezielle Frauenfrage gibt, dass ich als Frau alle Rechte und Pflichten aller Mitglieder der Gesellschaft habe, gleich welchen Geschlechts. In der Frauenkommission merkte ich immer mehr, was ich eigentlich in der gesellschaftlichen Praxis schon erlebt, mir nur nicht stets bewusst gemacht hatte: dass auch in unserem Land die Gleichstellung der Geschlechter im tiefsten Sinne noch nicht stattgefunden hat. Und ich engagierte mich für dieses Thema. Aber das ist bis zur Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes - Gegenstand eines anderen Interviews ...
Die Betrügereien des Bundesvorstands, besonders die Veruntreuungen der Soligelder, die Haltung von Harry Tisch, machen es schwer, gerade jetzt ein Plädoyer für die Gewerkschaft zu halten. Dafür, dass wir uns dieses wichtige Machtinstrument für die Arbeitnehmer, eine starke Gewerkschaft, nicht aus den Händen schlagen lassen dürfen. Aber dafür zu kämpfen, ist der eigentliche Grund, warum ich diese Funktion übernommen habe. Im Sekretariat der Gewerkschaft Kunst arbeiten Menschen, von deren Integrität ich mich überzeugen konnte, die aber durch die harte Vormundschaft des Bundes oft zur Erfolglosigkeit verurteilt waren. Sie haben Einblick in die Strukturen, kennen die Gesetze und die Möglichkeiten ihrer Anwendung, sie wissen, wo die Behinderungen bisher gelegen haben. Ich baue auf ihre und unser aller Lernfähigkeit. Unsere wichtigste Aufgabe wird jetzt sein, ohne Auflösungstendenzen die Zusammenarbeit mit der Basis - als Beispiel die Arbeit der Initiativgruppe Berliner Theaterleute zur Vorbereitung der Demo am 4. November mit dem Sekretariat zu erhalten. Wenn es uns gelingt, die neuen Strukturen wirklich von der Basis her aufzubauen, die Eigenverantwortlichkeit der Grundorganisation zu sichern, die "übergeordneten Organe" klein und wirklich kompetent zu halten, wenn wir wachsam bleiben, dann können wir etwas bewirken ...
Die Initiativgruppe, die seit dem 7. Oktober kontinuierlich zusammenarbeitet und Veranstaltungen organisierte, wie den 15. Oktober im Deutschen Theater, den 4. Dezember im Friedrichstadtpalast, den 21. Dezember im Berliner Ensemble gegen den Stalinismus, vor allem die gewaltfreie Demo am 4. November, zeugt davon, wie viele unserer hervorragenden Künstler bereit sind, über ihre Arbeit auf der Bühne, im Film und Fernsehen hinaus, politische Verantwortung zu übernehmen. In dieser Zeit wurde deutlich, welches Potential hier brachlag oder unmündig gehalten wurde. Ihren Anfang nahm diese Initiative in den Gewerkschaftsgruppen ...
Ja, die Initiative Berliner Theaterschaffender begann auf einer Gewerkschaftsveranstaltung der Volksbühne, wo wir meinten, dass wir, die wir mit unserer Theaterarbeit schon lange für Veränderungen im Land eingetreten sind, uns direkt einmischen sollten. Nicht isoliert als Ensemble der Volksbühne, sondern gemeinsam mit anderen Theatern. Das war spontan, dennoch von der Gewerkschaft organisiert. Unabhängig davon, ob der einzelne nun meinte, dass Gewerkschaft einen oder keinen Sinn mehr habe - oder gerade jetzt. In der ersten gemeinsamen Veranstaltung am 7.Oktober haben wir unsere Spartenvertreter beauftragt, Vorschläge für Initiativen zu formulieren. Alles was folgte, entstand plötzlich aus den verkrusteten Strukturen, aus der Organisation heraus. Also muss da ein Element sein, das den Erziehungsprozess zur Verantwortung, zur Mitbestimmung ermöglicht hat, das deformiert und uns deshalb gar nicht mehr so bewusst war. Jetzt, unter dem Eindruck der großen Enttäuschungen, der ungeheuren Verletzungen wagt man kaum darüber zu reden, dass da in unserer Entwicklung auch viel Positives war und noch vorhanden ist. Die Verantwortlichkeit und Disziplin des 4. November hat uns gezeigt, dass das Gefühl, sich um das Gemeinsame zu kümmern, viel stärker ausgeprägt ist, als wir das in Zeiten der Resignation und Hilflosigkeit vermuteten. Es geht um Aufklärung und Information über die Fehlentwicklung der Vergangenheit, und es geht um Konzepte für unser Land, mit denen wir uns wehren gegen den Ausverkauf unserer Ideen.
Die Gewerkschaft Kunst gewinnt in diesen Wochen über die Möglichkeit hinaus, Künstler zusammenzuführen und gemeinsame Perspektiven zu beraten, eine ganz gegenwärtig praktische Funktion. Neue Gesetze, die beispielsweise die Verantwortung über Gedeih und Verderb von Theatern voll den Kommunen übertragen, von denen einige nicht ungern die subventionierten "Ärgernisse" aus dem arg belasteten Sozial-Topf streichen möchten, lassen soziale Ängste bei Theaterleuten aufkommen. Die lange geforderte Selbstbestimmung der Intendanten über Spielpläne und Fonds, befristete Verträge, die einer Verkrustung der Ensembles entgegenwirken sollten - unter neuen gesellschaftlich ökonomischen Prämissen wird befürchte, dass eine Diktatur der Ideologie durch eine Diktatur der Finanzen ersetzt werden könnte ...
Eine Pressemitteilung der Gewerkschaft Kunst geht darauf ein, bestätigt den nach wie vor gültigen Rahmenkollektivvertrag für Theater und Orchester, der 1988 zwischen Ministerium für Kultur und Gewerkschaft Kunst abgeschlossen wurde. Juristische Schritte werden angekündigt. Wie lange reichen die noch aus?
Sicherlich gibt es gegenwärtig nicht wenige Theaterleute, die froh sind, dass unsere Gesetze noch intakt sind, die Gewerkschaft sie vor willkürlichen übergriffen staatlicher Leiter schützen kann. Das könnte der gerade immer wieder von jungen Theaterleuten geforderte unabhängige, von der Gewerkschaft losgelöste Theaterverband in dieser Notsituation - denn in der befinden wir uns ganz offensichtlich - nicht, er könnte rechtlich nichts verhindern. Der zur Zeit noch existierende Zentralvorstand hat sich entschlossen, die Interessen für alle Mitglieder in der Übergangsphase zu vertreten. Deshalb auch die Mitteilung, der Aufruf, sich bei Übergriffen an uns zu wenden. Wir werden mit aller Kraft zu verhindern suchen, dass über die Köpfe der Menschen, die es betrifft, entschieden wird. Es müssen Maßnahmen gefunden werden, die soziale Unsicherheit oder gar Verelendung verhindern. Ich halte es trotz - oder gerade wegen der Notsituation für notwendig, nicht nur mit dem Hintergrund der Gesetze und unserer finanziellen Mittel als Gewerkschaft zu operieren, sondern inhaltliche Grundfragen zu klären: Was wird mit unserer Gesellschaft, welche ihrer Ideale werden wir erhalten? Und dazu gehören die Aufgaben der Kunst, des Theaters. Wie wird seine Perspektive aussehen? Das müssen wir jetzt entschiedener als bisher definieren und uns dazu verhalten.
Sicher ist in dieser Situation der Konsens zwischen Gewerkschaft Kunst und Theaterverband mehr als bisher vonnöten. Die Kriegsbeile um die vor Jahresfrist vorgelegte Theaterperspektivkonzeption müssen begraben werden. Das vom Arbeitsausschuss vorgelegte Papier für den Ende Januar stattfinden den Theaterkongress "Für das Theater - für unser Land" (siehe Sonntag 52/89) scheint mir eine geeignete gemeinsame Diskussions- und Verständigungsgrundlage.
Es ist problematisch, dass die vielen Gruppierungen im Land gegenwärtig nebeneinander her arbeiten, der immense neue Arbeitsaufwand macht die Information untereinander so schwer. Der Perspektivplan von Ministerium und Theaterverband schien mir zu zerfahren und unschlüssig, er gab zu wenig Auskunft über die Inhalte, auf deren Grundlage erst über Verträge, sozialen Schutz und anderes geredet werden kann. Seitdem hat sich die gesellschaftliche Situation in unserem Land tiefgreifend verändert, beginnen die Folgen politischer und ökonomischer Maßnahmen grundsätzlich auf unsere Kultur, auf unsere bisher reiche Kunstszene einzuwirken. Unsere Ästhetik hat sich immer auf Inhalte bezogen, um sie haben wir gerungen. Erst wenn es uns nicht mehr gelingen sollte, die Dinge zu erhalten, die sich als gut erwiesen haben, Neues hinzuzusetzen, erst dann sollten wir zu einer Gewerkschaft werden, bei der die Finanzen wichtigstes Instrument sind, um soziale Härten zu vermeiden. Aber eigentlich ist eine Rückkehr in bürgerliche Theaterstrukturen für mich undenkbar. Der Gedanke, mit einer Fotomappe unterm Arm zur Agentur zu gehen, um sich meistbietend auf dem Markt zu verkaufen, das ist eine schreckliche Vision. Jetzt erst mal werden wir innerhalb der Gewerkschaft Kunst viele autonome Gruppen bilden, darunter auch die der Theaterleute, die vor der außerordentlichen Delegiertenkonferenz am 19. März ihre inhaltlichen und rechtlichen Forderungen unterbreiten werden. Unser gewerkschaftliches Engagement für soziale Sicherheit könnte in der Zusammenarbeit dem Theaterverband den Kopf frei halten für wesentliche inhaltliche Überlegungen.
Was bringt Ihnen, einer namhaften und vielbeschäftigten Schauspielerin, der gegenwärtig wahnwitzige Kraftaufwand, dieser Schub an gesellschaftlichem Wissen und politischer Informiertheit unmittelbar für Ihre Kunst? Bemerken Sie über das Maß an sozialer Genauigkeit, die Ihre Interpretationen schon immer bemerkenswert machten, neue Qualitäten?
Die Art und Weise wie ich jetzt Fragen für mich beantworten muss, die ich früher im Ungefähren lassen konnte, macht mich reicher. Der Kräfteverschleiß ist sehr groß, die Konzentration liegt jetzt auf vielen anderen Problemen. Dabei stoße ich öfter als bisher an Grenzen von Inszenierungen - und ich arbeite im Augenblick schlechter auf der Bühne. Aber das Ziel der Arbeit, der ganzen Veränderungen, kann doch nur sein, besser und genauer als bisher in allen Bereichen zu arbeiten, Verantwortung zu tragen. Unser und also mein neues Bewusstwerden demokratischer Prozesse muss schließlich und endlich auch in der Kunst wirken. Nur dann macht das alles für mich Sinn.
Das Gespräch führte Ingrid Seyfarth
Walfriede Schmitt, Jahrgang 1943, studierte von 1963-66 an der Staatlichen Schauspielschule Berlin. Es folgten Engagements in Parchim, Halle und Meiningen. Seit 1972 ist sie Mitglied des Ensembles der Berliner Volksbühne.
Sonntag, Nr. 3, So. 21.01.1990