In die Stiefel von Stalin gestiegen

Gespräch mit Harry Tisch über die Rolle des FDGB

Frage: Herr Tisch, Sie wurden 1975 FDGB-Vorsitzender. Was hat sich durch Ihren Amtsantritt in der Organisation verändert?

Tisch: Die Gewerkschaft hatte vorher keinen besonderen Stellenwert bei uns. Früher konnte ihr jeder, der wollte, ans Bein pinkeln. Es wurde nicht die Partei kritisiert, sondern die Gewerkschaft. Ich hatte mir vorgenommen, die Rolle der Gewerkschaften mehr ins Spiel zu bringen, als Interessenvertreterin der Arbeiterklasse und der Werktätigen.

Können Sie das genauer ausführen?

Nach dem VIII. Parteitag wurde die Gewerkschaft dadurch hervorgehoben, dass die Beschlüsse über sozialpolitische Maßnahmen immer gemeinsame Beschlüsse der Partei, der Gewerkschaft und der Regierung wurden. Es konnte praktisch nichts mehr geschehen im Lande, ohne dass die Gewerkschaften gefragt wurden oder eine Stellungnahme dazu abgaben.

Aber die Reihenfolge blieb unverändert: Die Entscheidungen wurden innerhalb der Partei getroffen und von der Gewerkschaft nachvollzogen?

Na, eins ist doch klar, dass alle entscheidenden Fragen im Politbüro entschieden wurden. Die Gewerkschaft hatte kein eigenes Entscheidungsrecht. Wir haben als FDGB die führende Rolle der Partei akzeptiert, und wir haben es auch praktisch so verwirklicht. Es geschah in der Gewerkschaft nichts, was nicht mit der Partei abgesprochen war. Im Parteistatut steht, dass jeder Genosse verpflichtet ist, dort, wo er arbeitet, die Beschlüsse der Partei umzusetzen. So war ich auch als Politbüromitglied verpflichtet, in der Gewerkschaft die Beschlüsse der Partei umzusetzen.

Es gab in den fünfziger und auch noch Anfang der sechziger Jahre eine Reihe von Reformversuchen - hin zu einer unabhängigeren, an den Interessen der Mitglieder orientierten Gewerkschaft. Weshalb haben sie nicht gefruchtet?

Die Partei hatte die absolute Macht, und sie wurde von allen akzeptiert als die führende Kraft. In der Verfassung steht, dass die Gewerkschaften eine unabhängige Organisation sind, denen niemand reinzureden hat. Das stand in der Verfassung, das war aber im praktischen Leben nicht so.

Aber Sie haben das noch in der "Einheit" vom Oktober 1989 so dargestellt, als habe der FDGB eine wichtige Funktion.

Ja, sicherlich. Wir haben das theoretisch immer wieder so zum Ausdruck gebracht, aber in der Praxis sah das ja nicht so aus. Wenn ich eine Rede gehalten habe, dann musste ich schon darauf achten, dass mindestens einmal gesagt wurde: "unter der Führung der Partei".

Was wäre denn passiert, wenn Sie das nicht gesagt hätten?

Ja, was wäre passiert? Vielleicht gar nichts, ich kann es heute nicht sagen. Es war schon in Fleisch und Blut übergegangen, dass es dazugehörte zu betonen, dass wir unter der Führung der Partei gearbeitet haben.

Herr Tisch, nachdem Sie aus ihrem Amt gedrängt worden waren und auch Ihre Nachfolgerin das Handtuch geschmissen hatte, hat sich ein Untersuchungsausschuss mit Ihrer Amtszeit befasst und kam zu folgendem Ergebnis: "Kernstück dieses Systems war die von Tisch betonte und unnachgiebig praktizierte Unfehlbarkeit und Unantastbarkeit seiner Person. Sich auf die Mitgliedschaft im Politbüro berufend, unterdrückte er jeden Zweifel und jede Kritik an seiner Person, an seinen Entscheidungen und seinen Handlungen. Er degradierte die Mitglieder des Präsidiums und des Sekretariats zu Erfüllungsgehilfen seines Willens. Die Mitglieder des genannten Gremiums fügten sich ausnahmslos dem Willen Tischs." Ist diese Einschätzung richtig?

Ich kann diese Einschätzung überhaupt nicht akzeptieren. Dabei ging es darum, irgendwem die ganze Last zuzuschieben. Da war ich die Person, die die ganze Last zu tragen hatte. Dieses Bild ist völlig verkehrt. Es war auch nie meine Absicht, so zu handeln oder so zu wirken.

Da kann einem der kalte Kaffee hochkommen, wenn man heute das Buch des früheren Tribüne-Chefredakteurs liest. Der Mann, der zehn Jahre mit am Tisch gesessen hat, der nie ein Wort gesagt hat, war der erste, der das Buch herausgebracht hat. Der hat aber nie im Widerstreit mit mir gelegen. Wir hatten manchmal Streit über Veröffentlichungen in der Tribüne, da hat er auch seine Positionen vertreten, aber in politischen Grundfragen oder in praktischen Gewerkschaftsfragen ist es nie der Fall gewesen, dass er mal eine andere Meinung geäußert hätte.

Hätte er sie denn äußern können?

Sicher hätte er sie äußern können. Dieses Lied, das da dauernd gesungen wird, das auch von der Untersuchungskommission dargestellt wird, ist doch völlig falsch. Es wurde doch diskutiert im Präsidium, es konnte doch jeder seine Meinung sagen. Ich möchte das Präsidiumsmitglied wissen, das mal etwas gegen mich gesagt hat und dadurch Nachteile gehabt hätte.

Gab es denn welche, die etwas gegen Sie gesagt haben?

Natürlich gab es die. Wenn wir über bestimmte Probleme diskutiert haben, haben die doch ihre Meinung gesagt und waren nicht nur konform, und es ist denen nie etwas passiert. Natürlich werden sie als Vorsitzender, wenn sie eine gefasste Meinung haben, versuchen, diese durchzusetzen. Wozu ist man denn Leiter? Entweder leitet man, oder man leitet nicht. Aber es ist falsch, wenn das jetzt so dargestellt wird, als ob ich keinen Widerspruch geduldet hätte oder alles darauf angelegt hätte, dass nur meine Meinung durchgeht.

Das hört sich so an, als sei alles streng demokratisch abgelaufen. Aber offenbar funktionierten diese ganzen Mechanismen nicht. Irgendwo muss es doch geklemmt haben?

Tja, aus der heutigen Sicht gesehen, würde ich sagen, es hat an allen Ecken und Kanten geklemmt. Besonders, was den Führungsstil anbetraf. Es wurde sich von jedem in der Republik immer auf Politbürobeschlüsse berufen. Es galten schon kaum Ministerratbeschlüsse, es galten kaum Beschlüsse des FDGB-Bundesvorstandes. Ich will schon einräumen, dass meine Rolle als Politbüromitglied von den Präsidiumsmitgliedern akzeptiert worden ist. Wenn ich etwas dargelegt habe, gingen sie oft davon aus, dass das mit Sitzungen des Politbüros in Zusammenhang zu bringen war, und haben oft gar nicht mehr diskutiert. Aber dass ich mich verhalten habe wie ein Diktator, das ist aus den Händen der Untersuchungskommission entstanden.

War es nicht Ihre Aufgabe, offensichtliche Widersprüche zuzukleistern und die Führungsgremien des FDGB in eine stromlinienförmige Richtung zu bringen?

Ja sicher, das war meine Funktion als Mitglied des Politbüros: zu sichern, dass in der Gewerkschaft die Linie der Partei durchgeführt wird. So bin ich natürlich in den Leitungsgremien aufgetreten, auf der Grundlage der Politbürobeschlüsse und dessen, was im Politbüro diskutiert worden ist. Ich habe natürlich auch keine Zweifel daran gelassen, dass das so richtig ist. Somit habe ich auch versucht, das ganze Kollektiv zu disziplinieren.

Sie sagten, es gab kontroverse Diskussionen im Bundesvorstand und im Sekretariat. Können Sie sich denn an Fälle erinnern, wo Sie auch mal überstimmt worden sind?

Das ist eine Frage! Es gab ja nie eine Abstimmung bei uns, per Handheben oder was weiß ich. Wenn man einverstanden war, dann war man einverstanden. Es gab auch Vorlagen, die gar nicht zur Beschlussfassung kamen, weil kontrovers diskutiert wurde oder manche im Präsidium dagegen waren. Dann wurde der Beschluss zurückgegeben. Der musste dann überarbeitet werden, oder es wurde eine Orientierung gegeben, was man sich wünschte.

Wie sehen Sie das aus heutiger Sicht, dass keine Abstimmungen stattgefunden haben?

Ich weiß ja nicht, ob es im DGB Praxis ist, dass über jeden Beschluss abgestimmt wird. Wenn sich keine Widersprüche erhoben haben, brauchte man auch nicht abzustimmen.

Die Geschichte zeigt, dass die Meinungen doch nicht so übereinstimmend waren, wie es bei Sitzungen des FDGB schien.

Das zeigt sich heute alles. Im damaligen Leben zeigte sich das nicht so. Den Eindruck, dass der Bundesvorstand nicht einverstanden sei mit der Politik des Präsidiums, den konnte man nicht haben, bis zum Schluss nicht.

Als Anfang der achtziger Jahre in Polen Solidarność entstand, hat das zu irgendwelchen Diskussionen innerhalb des FDGB geführt?

Ja, sicher. Wir waren einhellig der Meinung, dass das nicht geht mit Solidarność. Bei uns war eine einheitliche Meinung, dass eine Solidarność-Bewegung dem Sozialismus nur schaden kann.

Gab diese Entwicklung in Polen Ihnen nicht noch mal einen Schub, intensiver darüber nachzudenken, wie der FDGB stärker seine Position darstellen kann?

Doch, doch, zu solchen Diskussionen hat das schon geführt. Aber das ist im praktischen Leben nicht zur direkten Umsetzung gekommen.

Gab es Befürchtungen, dass die Arbeiter in der DDR diesem polnischen Beispiel möglicherweise nacheifern würden?

Aufgrund unserer Informationen, die wir aus den Betrieben bekamen, gab es diese Befürchtung eigentlich nie. Es gab auch Leute, die gesagt haben, wir müssten eine Solidarność haben, dann würde sich die Lage hier vielleicht doch etwas ändern. Aber einen größeren Umfang hat das nie angenommen, jedenfalls nach unseren Informationsberichten nicht. Heute weiß ich, dass draußen ganz anders diskutiert worden ist, als es uns in unseren Informationsberichten zugegangen ist.

Wie weit hatten diese Stimmungsberichte denn etwas mit der Realität zu tun? Auf welchen Ebenen wurden solche Berichte gefiltert?

Ich gehe davon aus, dass uns das, was auf einer Versammlung im Betrieb diskutiert wurde, nie zugegangen ist. Das wurde wahrscheinlich schon von der Betriebsgewerkschaftsleitung etwas gefiltert, dann von dem Kreis weiter gefiltert und vom Bezirk an die Zentrale wieder gefiltert. Das, was die Versorgungslage anbetrifft oder Probleme mit der Volksbildung, das ging uns schon zu. Das lag uns schon auf den Tischen. Wir haben daraus auch Konsequenzen gezogen. Wir haben den Abteilungen des ZK direkt Vorschläge unterbreitet, haben auch der Plankommission Vorschläge unterbreitet.

Wie das dann zum Tragen gekommen ist, das ist schwer zu sagen.

Da hätten Sie ja zu mindestens seit Mitte der achtziger Jahre auch merken müssen, dass eine Veränderung der Stimmung im Gange ist, dass sich da etwas zusammenbraut.

Wir hatten über Versorgungsfragen immer Diskussionen. Ich wüsste gar nicht, wann wir in der DDR mal keine Diskussion darüber hatten. Aber sie haben sich dann Mitte der achtziger Jahre zugespitzt. Fragen der Versorgung, zum Beispiel mit Frauenunterwäsche oder mit Bettwäsche, gingen bis ins Politbüro. In einem normalen Staat dürften solche Diskussionen gar nicht bis in die Spitze kommen. Das ist ja eigentlich beschämend, dass sich das Politbüro mit solchen Fragen beschäftigt hat. Aber sie waren so brennend, dass sie bis in die Parteiführung kamen, und dann wurden Beschlüsse gefasst. Das eine Loch wurde gestopft, und das andere tat sich auf.

Wie war denn die Rolle von Günter Mittag, wenn solche Diskussionen auf die Tagesordnung kamen?

Ich will ihnen ein Beispiel nennen. Wir erhielten eine ernsthafte Information aus dem Kreis Eberswalde im Bezirk Frankfurt/Oder. Es wurde der Bezirksrat beauftragt, es wurde der Minister beauftragt, die Fragen sofort zu klären. Dann hat Mittag kraft seines Amtes eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die all das überprüft hat, was dem Politbüro vorgelegen hat. Deren Bericht sah dann ganz anders aus. Der sah so aus, dass die unten Schuld hätten, dass alles genügend da war, aber der Transport nicht geklappt hat. Das war Praxis bei ihm, dass er bei Berichten durch seine Abteilung Gegenberichte machen lies. Die sahen dann alle positiv aus.

Also Mittag selber war aus seiner Sicht unfehlbar?

Aus seiner eigenen Sicht sicher. Es hat dazu auch viele Ungereimtheiten im Politbüro gegeben. Es waren lange nicht alle einverstanden, aber es hat damals keiner gewagt, gegen ihn aufzutreten. Wer gegen ihn auftrat, trat auch gegen Honecker auf.

Bei der Frage nach der Stimmung in den Betrieben ging es nicht nur um die Versorgung, sondern auch um die politische Grundstimmung, die sich Mitte der achtziger Jahre, auch durch die Entwicklungen in der Sowjetunion, geändert hat.

Im Politbüro ging es immer darum, dass sich die Grundstimmung nicht negativ verändern durfte. Aber sie hat sich seit 1985 negativ verändert. Besonders nach Gorbatschows Perestroika und Glasnost gab es mehr und mehr die Diskussion, warum wir nicht versuchen, hier und da etwas zu ändern. Dann gab es das berühmte Schlagwort: "Wir müssen den Anfängen wehren. Wir liegen an der Trennlinie zwischen Imperialismus und Sozialismus, wenn wir wackeln, wackelt das ganze sozialistische Lager."

Die Veränderung des politischen Klimas an der Basis, in den Betrieben, war das ein Bestandteil der Berichte, die zu Ihnen gelangt sind?

An den Berichten spürte man schon, dass sich das Klima Schritt für Schritt veränderte.

War dieser Wandel nie Gegenstand von Diskussionen im Politbüro?

In der letzten Zeit wurde ja unsere Unsicherheit, unsere Nicht-Aktionsfähigkeit immer deutlicher. Besonders als Honecker im Krankenhaus gewesen ist, als diese Ausreisewelle über Ungarn sich vollzogen hat, da hat das Politbüro die ganze Zeit geschwiegen, und unsere Meldungen gingen nur über den Genossen ADN. Es gab auch Politbüromitglieder, die den Antrag gestellt haben, wir müssten uns äußern. Dann wurde von Genossen, die heute Bücher schreiben, gefragt, wie wir uns denn äußern sollen. Wir könnten uns doch dazu gar nicht äußern. Das wurde sogar abgeblockt.

Sie waren in ihrer Eigenschaft als FDGB-Vorsitzender häufig direkt in den Betrieben. Wie haben Sie diese Besuche empfunden?

Es wird ja heute viel darüber philosophiert, was alles vorbereitet wurde, wenn wir in die Betriebe gingen. Ich habe mich an solche Vorbereitungen selten gehalten, ich bin von der Protokollstrecke weggegangen und bin zu Kollegen gegangen, die gar nicht für Gespräche vorgesehen waren. Ich habe sogar nach persönlichen Dingen gefragt: "Wie geht's Euch, wie geht's der Familie?" Vielleicht war es Höflichkeit von den Kollegen, aber es war nicht zu merken, dass sich unten in den Produktionsbetrieben eine solche Grummelstimmung entwickelte.

Meinen Sie nicht, dass das auch etwas mit Angst zu tun hatte?

Vielleicht auch, ich will das heute nicht ausschließen. Damals hätte ich das ausgeschlossen, weil nach meiner Auffassung das Vertrauensverhältnis zwischen mir und den Kollegen so war, dass sie den Mut hätten haben können, etwas zu sagen.

Sind Sie nicht irgendwann auf den Gedanken gekommen, dass Sie an den entscheidenden Fragen sowieso nichts ändern können und deshalb lieber das Handtuch werfen sollten?

Ich war der Überzeugung, dass wir nach 1945 ein neues Deutschland schaffen mussten, ein besseres Deutschland, und die Kapitalmacht zu beseitigen hatten. Ich bin in die 40 Jahren so hineingewachsen, dass ich mich zum Schluss selber nicht mehr lösen konnte, sondern der Überzeugung war, dass das richtig ist, was wir machen, dass die sozialistische Demokratie sogar in der Aktion klappt. Aber es zeigt sich heute, dass es so nicht geklappt hat, dass wir große Illusionen hatten, die sich einfach nicht verwirklichen ließen.

Ich habe das in den letzten Jahren gemerkt. Wir haben immer davon gesprochen, dass es bei uns keinen Generationskonflikt gibt. 1945 gab es den nicht, da hatten die Alten und die Jungen die einheitliche Auffassung jetzt anzupacken, jetzt etwas Neues, etwas Besseres zu schaffen. Aber dass die Jugendlichen, die erst nach 1960 geboren sind, ganz andere Dinge im Kopf hatten als wir, die über 60 waren, das ist ein bisschen an uns vorübergegangen. Wir haben mit den FDJ-Liedern von 1945 operiert, aber die interessierten die Jugend von heute gar nicht mehr. Man merkte ja, dass die FDJ in den Betrieben kaum noch Resonanz hatte, dass die Jugend die FDJ-Hemden nur anzog, wenn sie musste. Ich habe darüber mit der FDJ gesprochen, aber an Honecker heranzukommen und den zu beeindrucken, das ging nicht. Man wurde abgeblockt, und man wurde sogar als realitätsfremd bezeichnet, wenn man so etwas äußerte.

Ich habe die Frage angeschnitten, dass es doch nicht geht mit drei verschiedenen Preisen bei uns, die Normalpreise, die Exquisitpreise und den Intershop. Was meinen Sie, was ich da zu hören bekommen habe, als ich sogar gesagt habe, dass wir zwei Währungen hätten, DDR-Mark und D-Mark? Da kriegte ich zurück, wir brauchten das Geld. "Hast Du was dagegen, dass wir das Geld nehmen?", hieß es da. Ich hatte natürlich nichts dagegen, ich kannte ja die Valutalage bei uns.

Es lässt sich heute vieles sagen über die Fehler der damaligen Zeit. Der Ausgangspunkt ist immer wieder 1945. Da sind wir eben, um es lax zu sagen, in die Stiefel von Stalin gestiegen. Da sind wir nie herausgekommen, bis zum Schluss nicht. Wir haben nicht mit den Methoden von Stalin, nicht mit der Massenvernichtung gearbeitet, das nicht, aber mit der Art des Modells. Wir waren nicht gleichgeschaltet und mussten nicht alles genauso machen wie die, aber etwas ganz anders zu machen als sie, ging auch nicht. Das wollten wir auch gar nicht.

Wir möchten auf ein anderes Thema kommen, das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften in beiden deutschen Staaten. Welche Bedeutung hatten für den FDGB die Kontakte mit dem DGB?

Sie waren von eminent wichtiger Bedeutung, weil auf diesem Wege die Gewerkschaften mitwirken konnten bei der Politik der friedlichen Koexistenz. Das ist auch geschehen, sowohl vom DGB als auch vom FDGB. Es gab viele Meinungsverschiedenheiten, es gab aber auch viele Anknüpfungspunkte, wo wir gemeinsame Gedanken hatten. Dass die freie Marktwirtschaft nicht das Allheilmittel sein kann, das haben auch die westdeutschen Gewerkschafter gesagt, das war nicht nur eine Erfindung von uns.

Hat sich das Verhältnis gegen Ende nicht verschlechtert? Sie waren ja Ende September 1989 zum letzten Mal in der Bundesrepublik.

Das war die schlimmste Reise, die ich durchführen musste. Die Vereinbarung, dass ich im September komme, die war schon Anfang des Jahres getroffen worden. Da hat niemand gedacht, dass sich über Ungarn eine solche Situation entwickelt. Als ich im September rüber musste, und als der Termin stand, hat sich sogar im Politbüro die Frage gestellt, ob ich fahre oder nicht. Da habe ich gesagt: "Warum soll ich nicht fahren? Das sieht ja aus, als ob ich mich fürchte, ich fahre schon." Aber natürlich nicht mit einem guten Gefühl. Als wir die erste Beratung mit den Kollegen des DGB hatten, hatte ich von der Lage bei uns angefangen. Dann sind die Kollegen des DGB mit Fragen, auch mit Vorwürfen, darauf eingegangen.

War es eine gespannte Atmosphäre bei diesem Treffen?

Die Lage ergab einfach eine gespannte Atmosphäre. Ich wurde gefragt, ob ich nicht drüben mit den Leuten, die abgehauen sind, Gespräche führen möchte. Das war hier so besprochen, dass ich das nicht mache. Erstens hätte niemand gewusst, was in der Situation dabei herauskommt. Auf mich gehört hätten die sowieso nicht. Das wäre nicht fruchtbar gewesen. Hätte ich das damals schon so gesehen, wie ich es heute sehe, hätte ich es machen müssen.

Inwieweit waren, aus Ihrer Kenntnis heraus, der DGB und die Einzelgewerkschaften ein Objekt für das Ministerium für Staatssicherheit?

Ich weiß, dass es Anfang der siebziger Jahre zwei Fälle gegeben hat, wo Funktionäre des DGB als Spione entlarvt worden sind. Ich habe in meiner Amtszeit mit Honecker gesprochen und habe darum gebeten, dass das MfS die Finger raus lassen möge und nicht zu DGB-Kreisen Kontakte aufbauen sollte, weil uns das in den Beziehungen zum DGB nur schaden könnte. Ich habe darauf keine Reaktion bekommen, aber auch festgestellt, dass niemals wieder solche Dinge aufgedeckt wurden. Ich nehme an, dass man sich ein bisschen daran gehalten hat.

Ich bin aber davon überzeugt, dass die Staatssicherheit ihre inoffiziellen Informanten auch bei uns sitzen hatte. Das habe ich sogar zweimal aufgedeckt. Es haben auch Leute von uns, aus der Kaderabteilung, offiziell mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet und die Papiere zur Überprüfung rübergegeben. Heute wollen sie alle mit der Staatssicherheit nichts zu tun gehabt haben.

Sie haben an anderer Stelle einmal gesagt, dass Sie spätestens ab 1985 wussten, dass es wirtschaftlich mit der DDR bergab ging, dass der Abstieg nicht mehr aufzuhalten war. Können Sie erläutern, woran sich das festgemacht hat?

Als wir Ulbricht abgelöst haben, also auf dem 16. Plenum, da hatten wir zwei Milliarden Westschulden, und zum Ende unserer Ära waren es über 40 Milliarden. Wir kriegten ja durch den Minister der Finanzen und die Staatliche Plankommission monatliche Informationsberichte über die Finanzlage. Wenn von Monat zu Monat in der letzten Zeit die Schuldenlast um eine Milliarde stieg und trotz der ständigen Beschlüsse, das umzukehren, die Schuldenlast immer mehr zunahm, war doch klar, dass es eines Tages gegen den Baum gehen musste.

Waren Sie mit dieser Einschätzung allein im Politbüro?

Nein, ich bin überzeugt, ich stand damit nicht allein. Es gab mehrere Politbüromitglieder mit dieser Auffassung, aber das öffentlich zu äußern, wäre damals Hochverrat gewesen. Unter Honecker wäre das gar nicht denkbar gewesen. Er und Mittag haben alles abgeblockt.

Wäre es denn so undenkbar gewesen, im Politbüro andere Mehrheitsverhältnisse herzustellen?

Ich glaube schon, es wäre möglich gewesen, früher andere Mehrheitsverhältnisse herzustellen. Aber es gab eine Reihe von Genossen, die waren, wenn man mal so untereinander gesprochen hat, der Meinung, es sollte sich alles biologisch lösen. Die hatten die Hoffnung, dass sich schon zum XII. Parteitag eine Reihe von Fragen biologisch gelöst hätten.

Sie haben einmal sinngemäß gesagt, die Parteiführung hätte in den letzten Jahren keine Rettung aus dem Osten erwartet, sondern eine Rettung aus dem Westen. Man hätte vor Jahren schon den Gedanken einer Konföderation geäußert. Auf welcher Ebene wurde darüber gesprochen?

Das waren meistens Vier-Augen-Gespräche, auch mal Sechs-Augen-Gespräche. Offiziell war es schon sichtbar, dass die Geschäfte mit den RGW-Ländern immer schwächer wurden. Besonders in der Sowjetunion war schon in den letzten Jahren abzusehen, dass die Regierung nicht mehr die Möglichkeit hatte, solche globalen Geschäfte zu machen, etwa mit dem Schiffsbau. In den Ostblockländern zeigte sich, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt noch weit hinter uns lag. Also gab es nur die Möglichkeit der Beziehung mit dem Westen.

Aber es ging ja besonders um die politische Entwicklung. Als die Frage des europäischen Hauses aufkam, ging es in Einzelgesprächen darum, wie wir uns da zur BRD verhalten werden. Da kam natürlich der Gedanke, dass nur über den Weg der Konföderation etwas möglich ist.

Aber Konföderation von zwei so wirtschaftlich ungleichen Staaten heißt natürlich auch, dass der wirtschaftlich Stärkere die Politik bestimmt.

Das wussten wir auch, dass wir ohne Reformen nicht zu einer Konföderation kommen konnten. Wieweit die Reformen gehen müssten, darüber wurde nicht konkret diskutiert.

Von wem kam diese Diskussion über eine Konföderation?

Das waren keine Einzelgespräche, das wurde öfter behandelt. Was später von Modrow vorgeschlagen wurde, ist als Idee schon viel früher entstanden.

Ist das den westdeutschen Politikern oder der Bundesregierung auch so deutlich vermittelt worden, dass es diese Diskussion gab?

Vermittelt worden schon, aber wie deutlich, das kann ich nicht sagen. Ich glaube, dass Honecker den Gedanken der Konföderation nicht ins Auge fasste. Aber lanciert worden ist das schon, zu mindestens an die Konzerne. Wir hatten ja genügend Verbindungsmänner zu den westdeutschen Konzernen.

Wenn man sich rückblickend die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR anschaut, könnte man zu dem Schluss kommen, da sei auch sehr vieles planmäßig in den Abgrund gefahren worden.

Aber nicht bewusst.

Das würden Sie ausschließen?

Nein. Aber dann müssten in der Spitze Verräter gesessen haben, und das möchte ich erstmal ausschließen. Bewusst Industriezweige in Grund und Boden zu fahren, das halte ich für überzogen.

Wo sehen Sie denn die Gründe dafür, dass gerade diejenigen aus dem Politbüro oder der inneren Führung, die für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich waren, wie Mittag, Schalck, Beil und andere, bisher ungeschoren blieben?

Das können Sie vielleicht bei der BRD-Regierung nachfragen. Ich kann das nicht beantworten. Was sich gegenwärtig zeigt, ist doch unerklärlich: Wie manches bei der Treuhandanstalt läuft, wie man davon spricht, dass alte Seilschaften aufrecht erhalten bleiben, wie man jetzt einen Untersuchungsausschuss des Bundestages für Schalck-Golodkowski einsetzt. Das scheint ja eine sehr interessante Person zu sein. Aber man sagt schon, das wird zwei, drei Jahre dauern. Das heißt, in der Zeit passiert überhaupt nichts mit dem Mann.

Es fällt auf, dass eine Reihe von ehemaligen Ministern, Mitarbeitern aus der Plankommission, inzwischen nahtlos übergegangen sind zur Treuhandanstalt. Wie erklären Sie sich deren raschen Wandel vom Planwirtschaftlicher zum Marktwirtschaftler?

Das sind vorwiegend jüngere Leute, die Arbeit brauchen. Dass die jetzt versucht haben, sich irgendwo selbst unterzubringen, und auch bestimmte Funktionen gefunden haben, in der Treuhandanstalt, in den Betrieben, die noch geblieben sind, wer will denen das völlig verübeln? Wir hatten ja auch Könner, die etwas von Wirtschaft verstanden. Sollen die denn heute auf der Straße liegen? Wenn sie von den Westlern als Partner angenommen werden, warum sollen sie es nicht tun? Aber man hat leider auch belastete Leute, und das verstehe ich nicht. Es sind Leute dabei, die auch eine Vergangenheit mit der Staatssicherheit haben.

Wie erklären Sie es sich rückblickend, dass die Wende in der DDR im wesentlichen durch Intellektuelle, durch Künstler eingeleitet worden ist und nicht durch Demonstrationen und Streiks der Arbeiter?

Sie wissen, dass Intellektuelle in solchen Situationen immer an der Spitze stehen. Die Arbeiter, die in den Betrieben gearbeitet haben, die waren über manches nicht zufrieden, aber an einen Umsturz des Landes haben die wohl nicht gedacht. Ich nehme auch an, dass diese Intellektuellen auch damals nicht den Umsturz der DDR im Auge hatten. Selbst das Neue Forum wollte ja nicht die DDR beerdigen. Aber die Arbeiter haben dann geschrieen "Wir sind ein Volk". Das war dann schon mehr eine Bauchentscheidung, das ging dann nicht mehr über den Kopf. Das war die Massenpsychose: Jetzt kriegen wir die DM, und jetzt wollen wir schnell ran an die BRD.

Sie haben jetzt Ihre Strafe abgesessen. Wie stellen Sie sich Ihr weiteres Leben vor?

Ich lebe ja noch, aber im Grunde genommen ist mein Leben abgeschlossen. Was habe ich für eine Perspektive in der BRD? Politisch habe ich keine mehr. Tiefer als ich gefallen bin, kann man nicht fallen. Das Vertrauen im Volk ist weg. Ich habe keine Illusionen. Politisch kann ich mich also überhaupt nicht mehr betätigen. Beruflich brauche ich mich nicht mehr zu betätigen, ich könnte es auch nicht mehr. Heute wieder als Bauschlosser zu arbeiten, dazu wäre ich mit meinen 64 Jahren gar nicht mehr in der Lage. Ich baue jetzt darauf, dass ich im März nächsten Jahres, wenn ich 65 werde, die Rente bekomme, und dass wir dann beide noch davon leben können. Womit ich mich mal beschäftigen werde, vermag ich heute nicht zu sagen. Ich sitze zu Hause und weiß nicht, was ich anfangen soll.

Wie ist das für Sie, wenn Sie heute in Berlin auf der Straße sind, im Kino, in der Kneipe?

Ich gehe nicht oft aus dem Haus. Aber wir waren zweimal auf dem Arbeitsamt. Das war knüppeldicke voll. Ich wurde dort sogar namentlich aufgerufen. Die Leute haben sehr interessiert geguckt, als sie meinen Namen hörten, aber es hat niemand etwas gesagt. Ich wurde nicht angepöbelt. Es gab sogar einige, die lächelnd gegrüßt haben.

Ob die Leute nun soviel mit sich selbst zu tun haben, dass das Interesse an uns verklungen ist, das weiß ich nicht. Ich nehme an, dass da was dran ist. Denn dort wo wir wohnen, ist die höchste Arbeitslosenzahl. Da wohnen viele junge Leute mit kleinen Kindern. Die haben alle jetzt selber ihre Probleme. Das habe ich auch auf dem Arbeitsamt gemerkt. Die hatten alle ihren Kopf so voll.

Es gibt SED-Funktionäre wie Schabowski oder Otto Reinhold, die ziemlich früh gesagt haben, der Sozialismus auf deutschem Boden sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Glauben Sie, dass die Idee des Sozialismus irgendwann noch einmal eine Chance hat?

Ich vermag das nicht zu sagen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass Marx und Engels für ewig aus der geschichtlichen Betrachtung verschwunden sein werden. Dass der Kapitalismus, die freie Marktwirtschaft, der Schluss der gesellschaftlichen Entwicklung sein soll, vermag ich nicht zu glauben. Ich habe früher DGB-Funktionäre, die fast alle auch Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei sind, gefragt, wie sie sich denn den demokratischen Sozialismus vorstellen. Ich habe den DGB-Funktionären noch bei meinem letzten Besuch die Frage gestellt, wie man sich in der BRD die Entwicklung eines demokratischen Sozialismus vorstellt. Man konnte mir darauf keine Antwort geben.

Das Gespräch führten Andreas Hamann und Klaus Klöppel am 16. Juli 1991 in Berlin.

Harry Tisch, geb. 1927 in Heinrichswalde, war vom April 1975 bis zu seinem erzwungenen Rücktritt im November 1989 Vorsitzender des FDGB in der DDR. Er war Mitglied des Politbüros der SED und des Ministerrates der DDR. Anfang 1991 wurde er als erster führender Politiker der ehemaligen DDR vor Gericht gestellt und im Juni wegen Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern zu einer 18-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

VIII. Parteitag der SED 15.-19.06.1971. Der XII. Parteitag der SED sollte vom 15.-19.05.1990 stattfinden. Ablösung Walter Ulbrichts auf der 16. Tagung des ZK der SED am 03.05.1971, sein Nachfolger wird Erich Honecker. Walter Ulbricht wird Vorsitzender der SED.

Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 10, 1991, Herausgeber: Bundesvorstand des DGB

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