Antwort auf Fragen von Gewerkschaftern, Vertrauensleuten und anderen Funktionären der Organisation

Von HARRY TISCH, Vorsitzender des Bundesvorstandes des FDGB

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den letzten Tagen und Wochen erreichten den Bundesvorstand des FDGB und mich persönlich zahlreiche Briefe. Arbeitskollektive und einzelne Werktätige brachten darin ihre Meinung zur gegenwärtigen Situation und zur weiteren Entwicklung unseres Landes zum Ausdruck. Sie erklärten ihre Bereitschaft und ihre Entschlossenheit, alles in ihren Kräften stehende zu tun, um die entwickelte sozialistische Gesellschaft in der DDR auszugestalten. Sie verhehlen aber auch nicht ihre Besorgnis über ungelöste Probleme. Sie äußern ihre Wünsche und Erwartungen. Ich sehe darin einen Beweis des Vertrauens und der schöpferischen Kraft, mit der die Arbeiterklasse und alle Werktätigen unseres Landes in das fünfte Jahrzehnt der Republik gehen.

In vielem teile ich Eure Sorgen. Ihr werdet aber verstehen, dass es mir nicht möglich ist, auf jede Anfrage im Detail zu antworten oder persönlich in jedes Kollektiv zu kommen. So möchte ich unsere TRIBÜNE nutzen, um auf einige Eurer wesentlichsten Fragen einzugehen. Sie ist ja am besten geeignet, um einen öffentlichen Gedankenaustausch zu führen. Lasst mich zuerst folgendes sagen: Wir haben in 40 Jahren Gemeinsames geschaffen, auf das wir stolz sein können. Wir konnten eine wirklich gute Bilanz ziehen. Das widerspiegelt sich ja auch in den meisten Eurer Briefe. Dafür haben die 9,6 Millionen Gewerkschafter des FDGB einen eigenständigen Beitrag geleistet. Bewahrheitet hat sich die Devise, dass es ohne starke freie Gewerkschaften keinen starken Sozialismus gibt. Unser FDGB ist stark, weil er einig und geschlossen handelt. Diese Erfahrung - von der Arbeiterbewegung in den Kämpfen vieler Jahrzehnte erworben - werden wir niemals außer acht lassen. So wie bisher werden wir auch künftig unsere gemeinsamen Interessen gemeinsam vertreten, unsere Probleme gemeinsam bewältigen.

Liebe Kollegen!

Alle Ergebnisse unseres Aufbauwerkes sind doch buchstäblich mit den Händen zu greifen. Ich denke dabei an die auf den Trümmern des zweiten Weltkrieges erbaute Industrie, an die leistungsfähige Landwirtschaft, an die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik, an die über drei Millionen Wohnungen, die seit 1971 errichtet wurden, um nur einiges zu nennen. Mögen das viele inzwischen als selbstverständlich ansehen - aber es ist doch da.

Das Fundament, auf dem wir stehen, ist das Fundament eines guten Hauses der Arbeiter-und-Bauern-Macht. Daran dürfen wir niemanden rütteln lassen. Denn wir wissen sehr wohl: Trägt das Fundament nicht, gerät das Haus ins Wanken. Wir Gewerkschafter aber wollen es auch in den 90er Jahren mit der Kraft und dem Engagement aller stabiler ausbauen und verschönern. Ich denke, darin sind wir uns - wie Eure zahlreichen Zuschriften zeigen - einig.


Neue Fragen, die die Zeit stellt


Voranzuschreiten, auch das ist sicher unbestritten, heißt doch zum einen, auf dem, was wir haben und was sich bewährt hat, aufzubauen. Es heißt aber ebenso, auf neue Fragen, die die Zeit stellt, neue Antworten zu finden. Die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist ja, wie wir sagen, ein langfristiger Prozess tiefgreifender politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wandlungen. Dass dabei nicht alles geradlinig verläuft, nicht alle Wünsche gleich erfüllbar sind, dürfte auch unbestreitbar sein.

Es wäre weltfremd, die Augen vor den zahlreichen Problemen zu verschließen, die wir zu bewältigen haben. Hier muss man die Sache jedoch differenziert betrachten. Es gibt objektiv wirkende Dinge, auch im internationalen Rahmen, die nicht von heute auf morgen zu lösen sind. Es gibt aber auch Erscheinungen subjektiver Natur, die - wenn wir es richtig anpacken - schnell verändert werden können. Solche Fragen wurden von Euch angesprochen. Sie beziehen sich auf die Weiterführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, auf den Ausbau der sozialistischen Demokratie, auf die Bewältigung von Ersatzteil- und Versorgungsfragen, auf die Arbeit von Presse. Rundfunk und Fernsehen, auf Reisemöglichkeiten und eine Umwelt, an der auch noch unsere Kinder und Enkel Freude haben werden. Antworten müssen und können nur im breiten demokratischen Dialog mit allen Werktätigen ausgearbeitet werden.


Klassenkampf ist nicht passé


Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Kraft und die Fähigkeiten besitzen, selbst die besten Wege zur Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben zu finden. Die Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen haben auch uns Gewerkschafter mit aller Schärfe und Eindeutigkeit gezeigt: Der Klassenkampf ist nicht passé. Antisozialistische Attacken mehren sich. Sie sind hartnäckig und oft heimtückisch. Alle Register der psychologischen Beeinflussung, der Desinformation und Verschleierung werden gezogen, um die von uns geschaffenen Werte zu verunglimpfen. Die heuchlerischen, mit Krokodilstränen durchtränkten Rezepte, wie sie uns vielfach von der imperialistischen Bundesrepublik serviert werden, ordnen sich dort ein. Sie sind deshalb untauglich. Nehmen wir die Aussagen des Herrn Bundeskanzlers Kohl. Er sagte kürzlich ganz unverblümt: Die DDR solle solche "Reformen" einleiten, die den Vorstellungen Bonns entsprechen. Im Falle des "Gehorsams" werden "Belohnungen" in Aussicht gestellt. Ansonsten werde man den Druck auf uns weiter erhöhen. In das gleiche Horn stoßen die Dregger, Waigel und Hennig.

Unser Vorwärtsschreiten und unsere konsequent marxistisch-leninistischen Positionen sind ihnen, den Gegnern des Sozialismus, nie passend.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lasst uns bedenken, dass sich die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR unter weltoffenen Bedingungen und in einer Zeit verschärfter Auseinandersetzungen zwischen beiden Gesellschaftssystemen vollzieht. In dieser Situation ist es den Initiatoren der Anti-DDR-Kampagne gelungen, in vielen Köpfen, vor allem junger Menschen, Verwirrung zu stiften. Mit ihrem Weggang stürzten sie sich ins Ungewisse, in die kalte Welt kapitalistischen Gebarens.

Bei allen Einflüssen, die von außen da sind, sind wir - da pflichte ich Euch zu - angehalten, darüber nachzudenken, weiche Ursachen bei uns selbst zu suchen sind.

Ich möchte jedoch nachdrücklich feststellen: In unserem Staat arbeiten, lernen und leben Millionen Menschen bewusst und selbstbewusst. Sie geben ihr Bestes für den Sozialismus in der DDR. Von ihnen wird verstanden, dass ein jeder, der sich engagiert, auch gute Möglichkeiten für seine Persönlichkeitsentfaltung hat. Das ist unser Fundus. Dieses Potential an Kraft, Einsatzbereitschaft, Ideenreichtum und Kreativität noch umfassender zu nutzen, bleibt eine ungeheure Herausforderung.

Kollegen, es bleibt eine Wahrheit: Der Sozialismus ist so gut, wie wir ihn selbst gestalten. Der Betrieb ist für uns Gewerkschafter das wichtigste Wirkungsfeld. Breit ist die Palette vorhandener Formen und Foren sozialistischer Demokratie. Sie zu nutzen, noch umfassender auszuschöpfen, ist eine Aufgabe für gewerkschaftliche Leitungen aller Ebenen.

In den Mitgliederversammlungen werden die Stimmen jeder Kollegin und jedes Kollegen, werden ihre Entscheidungen gebraucht. Bei der Erarbeitung der Wettbewerbsbeschlüsse darf keine nützliche Idee verlorengehen. In den Plandiskussionen muss der Grundstein für einen anspruchsvollen, aber realen Plan gelegt werden. Der Betriebskollektivvertrag muss weiter an Bedeutung gewinnen. Überall soll er ein verbindlicher Vertrag zwischen BGL und Betriebsleiter sein. An ihn hat man sich zu halten.

Genauso wichtig ist, dass demokratisch gefasste Beschlüsse nicht nur auf dem Papier stehenbleiben. Jedem Beschluss müssen notwendige Aktionen folgen. Seien es die von der Vertrauensleutevollversammlung verabschiedeten Stellungnahmen zum Plan, seien es die Initiativen zur Verwirklichung von Vorschlagen und Hinweisen oder zur Beseitigung von Kritikpunkten und Mängeln, überall ist gewerkschaftliche Entschiedenheit gefragt.

Jeder hat das Recht, Fragen zu stellen und seine Meinung zu sagen. In diesem Sinne sind wir sehr dafür, dass das Leistungsprinzip konsequent genutzt wird, Ringen wir doch darum, Leistung und Lohn in Übereinstimmung zu bringen. Nutzen wir in den Betrieben alle dafür gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten. Wer hindert uns denn daran?

Lasst mich dazu einen weiteren Gedanken sagen: Leistungsbereitschaft ist die eine Seite der Medaille. Eine korrekte Leistungsbewertung durch den staatlichen Leiter sowie eine kontinuierliche Produktion - ohne Warte- und Stillstandszeiten - die andere. Für die Gewerkschaften verstärkt sich die Notwendigkeit, ihren Einfluss geltend zu machen, damit überall solche Bedingungen entstehen, unter denen die Kollektive höchste ökonomische Ergebnisse erzielen können. Vielfältige Rechte sind uns garantiert. Wir müssen sie besser nutzen.

Liebe Kollegen!

Allen von Euch aufgeworfenen Fragen werden wir uns stellen. Wir werden sie als Interessenvertreter der Arbeiterklasse beantworten und sie lösen helfen. Jetzt gilt es, in einem vertrauensvollen, überlegten, vernünftigen Dialog mit allen Werktätigen die vorhandenen Probleme zu erörtern. Schon immer haben wir Eure Sachkunde gespürt und geschätzt. Ihr könnt ans genauesten einschätzen, worauf es in Eurem Bereich ankommt, um uns in der Perspektive voranzubringen. Nur wenn wir täglich im Gespräch bleiben, können wir dafür sorgen, dass Wort und Tat, Theorie und Praxis übereinstimmen.


Kritik dort, wo es notwendig ist


Kritik muss geübt werden, wo Kritik notwendig ist. Kritik muss aber auch zur Kenntnis genommen werden. Widersprüche dürfen nicht zugedeckt, sie müssen in geeigneter Weise produktiv gemacht werden. Sie bedürfen in stärkerem Maße der offenen und gründlichen Erläuterung. Wir sind aufgefordert und bereit, kühne und mutige Entscheidungen zu treffen. Schnelle und umfassende Informationen auf allen Ebenen sowie in den Medien sind dafür unverzichtbar Nur so kann unsere parteiliche Wertung die öffentliche Meinung eher und wirkungs­voller prägen als die Beeinflussung durch den Gegner.

Gerade jetzt, in Vorbereitung des XII. Parteitages der SED, sind alle Gewerkschafter aufgefordert, sich am Gedankenaustausch für qualitativ neue Schritte in unserer Entwicklung zu beteiligen. Dies ist auch aus Euren Stellungnahmen deutlich zu entnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unternehmen wir daher alles, setzen wir als Gewerkschafter all unsere Kräfte dafür ein, um unter Führung und fest an der Seite der Partei der Arbeiterklasse mit Herz, Hand und Verstand die sozialistische Entwicklung der DDR im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz noch zielstrebiger und ergebnisreicher voranzubringen. Das wollte ich Euch als eine erste Antwort sagen. Gemeinsam wünsche ich uns allen dabei Erfolg.

Tribüne Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Fr. 13.10.1989

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