Strategie der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG):
Solide Tarife, die Leistung honorieren
Kurz vor der deutschen Einheit hatten sich am vergangenen Wochenende in Halle die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft der Bundesrepublik (DAG) und die DAG Ostdeutschlands zusammengeschlossen.
Eine erste gesamtdeutsche Konferenz der Vorsitzenden aller Gliederungen der DAG findet zum Wochenende in der Kongresshalle am Berliner Alexanderplatz statt.
Im Vorfeld dieser Beratung sprachen wir mit Roland Issen, Vorsitzender der DAG, über Vorstellungen, Absichten, Anliegen dieser Gewerkschaft.
• Seit dem vergangenen Wochenende gibt es eine gesamtdeutsche DAG. Sie hat also auch im Osten Fuß gefasst?
Wir sind mit unseren Aktivitäten relativ spät in der DDR eingestiegen. Nach dem Sonderkongress im Januar/Februar gelangten wir zu der Einschätzung, dass der FDGB nicht die innere Kraft besitzt, um sich zu reformieren. Es hatten sich dann unabhängige Gewerkschaftsinitiativen mit uns in Verbindung gesetzt, und wir haben im März in Leipzig eine erste DAG-Gliederung gegründet.
Inzwischen verfügen wir über 25 Geschäftsstellen, fünf Landesverbände und rund 50 000 Mitglieder. Die Entwicklung verläuft recht dynamisch. Unser Ziel ist es, bis zum Bundeskongress im Sommer '91 mindestens 100 000 Mitglieder zu gewinnen.
• Es heißt, die DAG käme mit Goldgräbermentalität, sie nutze die Unerfahrenheit ehemaliger DDR-Gewerkschafter beim Stimmenfang . . .
Das sehe ich nicht so. Das Vertrauen in die alten FDGB-Gewerkschaften war hier völlig verlorengegangen. Wir haben uns von Anfang an als eine Alternative verstanden, unabhängig, nicht Transmissionsriemen einer politischen Partei.
Wir sind eine unabhängige Angestelltengewerkschaft und mit 500 000 Mitgliedern die viertgrößte Einzelgewerkschaft der BRD.
• Die DAG ist nicht Mitglied im DGB, ihre Stellung in der Gewerkschaftslandschaft ist ja nicht ganz unumstritten?
Das ist für meine Begriffe eine etwas subjektive Empfindung. Natürlich gibt es gewerkschaftliche Konkurrenz. Es isst ein Charakteristikum einer demokratisch strukturierten pluralistischen Gesellschaft, dass sie in allen gesellschaftlichen Bereichen auch im gewerkschaftlichen - Monopolansprüche zurückweist. Wahlmöglichkeiten, Alternativen müssen angeboten werden.
Wir sind nicht Mitglied im DGB, arbeiten aber auf vielen Gebieten, auch auf internationaler Ebene, kollegial zusammen. Wir meinen, es macht überhaupt keinen Sinn, wenn sich Gewerkschaften gegenseitig Steine in den Weg rollen. Es stärkt im Grunde die Arbeitgeberseite im Auseinanderdividieren von Arbeitnehmerinteressen. Wir sind über zwei, drei Jahre aber doch schon in einer Phase, wo sich das Verhältnis DAG und DGB entkrampft. Beide Seiten erkennen, dass man die Attraktivität der Gewerkschaftsbewegung nicht durch gegenseitiges Befehden verbessert.
• Dennoch wird der DAG der Vorwurf gemacht, sie schöpfe die "Sahne" ab, was heißen soll, sie suche ihre Mitglieder unter den höher Verdienenden, die auch die höheren Beiträge zahlen können - kurz, sie betreibe so Spalterpolitik . . .
Die DAG ist eine Nachfolgeorganisation von 91 Angestelltengewerkschaften, die es schon vor 1933 gegeben hat. Wir haben uns ähnlich wie der DGB - nach 1945 zu einer Einheitsgewerkschaft für die Angestellten entwickelt, in der man unabhängig von seiner politischen Präferenz oder weltanschaulichen Überzeugung Mitglied werden kann. Und, wenn Leute wie Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Fritz Reuter, Otto Suhr DAG-Mitglieder waren, kann man wohl nicht sagen, dass wir Spaltung der Arbeitnehmerschaft betreiben.
Wir sind der Auffassung, dass es spezifische Interessen im Bereich der Arbeiternehmergruppen Arbeiter-Angestellte-Beamte gibt. Es gibt aber auch gemeinsame Interessen, und wir sind immer wieder bereit gewesen, diese auch gemeinsam zu vertreten.
• Die DAG sammelt Mitglieder in vielen Branchen. Kann sie deren spezifische Interessen aber auch spezifisch vertreten?
Gerade das machen wir. Wir sind eine Gewerkschaft, die nach Berufsgruppen aufgebaut ist. Wir haben 11 Berufsgruppen, gegliedert in wirtschaftsbezogene Fachgruppen. Unsere klassischen Bereiche sind der private Dienstleistungssektor, sind Banken, Versicherungen, Sparkassen, Handel und öffentlicher Dienst. Wir sind in allen industriellen Bereichen vertreten mit Schwerpunkten in der Metall- und Chemieindustrie.
Es ist die Philosophie der DAG, eine an den Berufen orientierte Interessenvertretung der Angestellten zu garantieren. Für einen Buchhalter oder eine Schreibkraft ist es relativ gleich, ob sie in einem Metall- oder Chemiebetrieb arbeiten. Die Anforderungen sind weitgehend die gleichen. Andererseits leben wir in einer Zeit hoher beruflicher Mobilität. Die DAG bietet eine gewerkschaftliche Heimat auch dann, wenn man von einem gewerkschaftlichen Bereich in einen anderen wechselt.
Wir sind überzeugte Anhänger einer leistungsorientierten Tarifpolitik und sagen, der soziale Ausgleich muss im Rahmen der Einkommensverteilung über den Staat erfolgen, mittels Steuergesetzgebung, mittels Subventionen. Dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen zwischen den Gewerkschaften.
• Angestellte finden ihre Interessen doch aber auch in den Einzelgewerkschaften vertreten . . .
Diese sind jedoch auf Grund ihrer Mitgliederzahlen in der Situation, dass hier Arbeiterinteressen dominieren. Das entspricht jedoch nicht mehr der realen Beschäftigungsstruktur in der BRD. Im DGB besteht ein Verhältnis von 20-25 Prozent Angestellten zu 80-75 Prozent Arbeitern. Es gibt jedoch in der BRD über 10 Millionen Angestellte. Davon sind etwa 25 Prozent gewerkschaftlich organisiert.
• Der DAG wird das böse Wort "Trittbrettfahrer" angehängt. Damit ist gemeint, die DGB-Gewerkschaften führen den Tarifkampf, die DAG akzeptiert im Nachhinein und schmückt sich mit fremden Federn. Hat die DAG eine eigene Strategie in Tarifauseinandersetzungen?
Wir haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Gewerkschaft HBV die großen Auseinandersetzungen über den Dienstleistungsabend und gegen die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten geführt. Es gab eine Reihe von Arbeitskämpfen im Öffentlichen Dienst, in der Luftfahrt.
Wir sind auch in allen anderen Bereichen an Tarifauseinandersetzungen- und Verhandlungen beteiligt, praktizieren auch gewerkschaftliche Kampfmittel wie Warnstreik und Streik. Das zu ignorieren ist zwar ein häufig gebrauchtes Werbeargument von gewerkschaftlicher Konkurrenz, entspricht aber nicht den Realitäten.
• Auf welche tarifpolitischen Erfolge für Ihre Mitglieder auf ehemaligem DDR-Gebiet kann die DAG verweisen?
Wir haben in Verhandlungen mit BRD-Unternehmen Einkommensverbesserungen im Bereich der Banken und Versicherungen durchgesetzt. Gerade letzthin wurden Vereinbarungen für den Handel abgeschlossen, die sich mit 55 Prozent am Westberliner Tarifniveau orientieren. Wir haben eine Reihe von Verträgen in der Industrie verhandelt und befassen uns derzeit mit der komplizierten Situation bei INTERFLUG, wo Kooperationsversuche durch unverständliches Verhalten des Kartellamtes bisher verhindert wurden.
• Wie sieht die DAG die Zukunft in der Tarifentwicklung Ostdeutschlands?
Nächstes Ziel wird es sein, 60 Prozent der Lohnanteile der Bundesrepublik für das Tarifgebiet der fünf neuen Bundesländer zu erhalten. Dabei geht es uns um Tarifverträge mit möglichst kurzen Laufzeiten, um die weitere Entwicklung schneller tarifpolitisch nachvollziehen zu können. Wir gehen davon aus, dass die Produktionszuwachsraten durch Rationalisierung und Mobilisierung der Reserven hier deutlich stärker ausfallen werden als in der BRD. Daran wollen wir die Arbeitnehmer zügig beteiligen. Auch streben wir eine Beteiligung der (ehemals DDR-)Arbeitnehmer am von ihnen erarbeiteten Produktivkapital an.
• Wie sehen Sie die Entwicklung der DAG im neuen Bundesgebiet?
Wir werden im nächsten Jahr unseren ordentlichen Bundeskongress haben, durch den dann auch Vertreter aus dem östlichen Landesteil in die obersten Vertretungen integriert werden. Dieser Prozess beginnt mit dem Aufbau der ehrenamtlichen Vorstände der Bezirke im Januar/Februar, der Schaffung von hauptamtlichen Strukturen in den Länderverbandsleitungen im März/April. Wir werden viele Leute brauchen, die engagiert mitarbeiten wollen.
Das Gespräch führte
Ingrid Aulich
Roland Issen
ist seit 1964 hauptamtlich in Diensten der DAG tätig. Der diplomierte Volkswirt und Soziologe studierte in Hamburg. 1978 wurde er in den DAG-Vorstand gewählt. Seit 1983 war er stellvertretender Vorsitzender, seit 1987 ist er Vorsitzender der Organisation. Issen ist Mitglied der SPD. Er gehört dem Vorstand der Internationale der Angestelltengewerkschaft (FIAT) an sowie dem Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes.
Tribüne, Fr. 05.10.1990