Wer kann unsere Interessen gegenüber der Betriebsleitung künftig am besten vertreten. Eine Frage, die sich viele Kollegen in den Betrieben jetzt stellen angesichts der Wirtschaftsreform und den damit sich entwickelnden vielfältigen Eigentumsformen bis hin zu Joint Ventures. BZA hörte sich um.

Stellen wir doch den Riesen vom Kopf auf die Füße!

Betriebsrat oder Gewerkschaft oder beides?

Auskunft gab der Pressesprecher des Berliner FDGB Bezirksvorstandes und Sekretär des Vorstandes, Joachim Krabs

  Gibt es im Bezirksvorstand eine Übersicht, wie viele Betriebsrate bisher gegründet wurden?

Es sind nach unserer Kenntnis weniger als zehn. Die Bildung ist bisher sehr zögernd, oft sind es nur die leicht umstrukturierten und umbenannten Gewerkschaftsorganisationen, Auszuschließen ist nicht, dass neue Betriebsräte entstehen werden, wenn der FDGB-Kongress Ende des Monats hinter den Erwartungen der Werktätigen zurückbleibt.

  Betriebsräte - also Ergebnis von Gewerkschaftsfrust?

Ja, aber ich würde es nicht darauf beschränken. Orientierungslosigkeit herrscht bei vielen Menschen angesichts vieler Parteien und Gruppierungen. Entscheidungen der Regierung peitschen Emotionen hoch. Der gesellschaftliche Rahmen ist jetzt da, historisch gewachsene Ungerechtigkeiten offen zu artikulieren (z. B. im Lohngefüge). Soziale Bedrohung des einzelnen nimmt zu: Verwaltungspersonal und auch Produktionsarbeiter z. B. fürchten Rationalisierung und Umstrukturierung. Ingenieure und Techniker fragen nah der Daseinsberechtigung von Forschung und Entwicklung im Betrieb, setzen doch jetzt viele auf Import ausländischen know hows. Sozial Schwächere, wie Behinderte oder alleinerziehende Mütter, fürchten sich vor der knallharten Leistungsgesellschaft. In dieser Situation wird der Ruf nach echter Interessenvertretung der Werktätigen immer lauter.

  Oft meinen diese Rufe nicht den FDGB?

Dem Ruf nach starken, unabhängigen, aktionsfähigen Einzelgewerkschaften steht der Ruf nach vom FDGB unabhängigen Gewerkschaften oder Betriebsräten gegenüber. Denn Schwächen alter FDGB-Strukturen werden sichtbar: Das Warten auf Anordnung von oben. In der streng zentralistisch ausgerichteten Gesellschaft war der FDGB Ideologietransporter, formierte er die Kolonnen für die Führung. Die IGs waren schwach. Neuorganisation braucht jetzt Zeit. Wir hatten eine Struktur, die nur etwas von oben nach unter durchsetzen konnte. Ein Riese stand auf dem Kopf. Ihn jetzt auf die Füße zu stellen heißt, echte Basisdemokratie zu entwickeln. Die Gewerkschaftsmitglieder müssen unten anfangen, ihren Willen zu formulieren.

  Wächst der Betriebsrat als Konkurrenz zur Gewerkschaft heran?

Regierung und SED/PDS setzen voll auf Betriebsräte, was Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte bedeutet. Die SPD ist für starke Gewerkschaften im Betrieb. Andere bringen Personalräte, Wirtschafts- und Sozialräte oder Verwaltungsräte, Aufsichtsräte ins Gespräch. Inhaltliche Ausfüllungen der Begriffe gibt es nicht. Auch fehlen bisher Gesetze, die die Handlungen solcher Gremien legitimieren. Hält gewerkschaftliche Agonie an, sind Betriebsräte nicht mehr auszuschließen. Noch hängt es von der Gutwilligkeit des Leiters ab, ob er Betriebsräte als Gesprächspartner akzeptiert.

  Haben Gewerkschaften und Betriebsrat Platz in einem Betrieb?

Durchaus Die bisherigen Erfahrungen aus der Berliner Gewerkschaftsorganisation besagen, dass die Mehrheit der Kollegen für starke erneuerte Gewerkschaften ist. Arbeitskämpfe können nur durch Gewerkschaften ausgefochten werden. Tarifautonomie (Lohn, Urlaub), zweigübergreifende soziale Maßnahmen, Sozialversicherung, Kontrollrecht für Zusammenwirken Betriebsrat und Betriebsleitung, Arbeitsschutzkontrolle, Rechtsbeistand für Werktätige sollten in den Händen der Gewerkschaft bleiben.

Rechte und Pflichten, die ein Werktätiger mit seinem Arbeitsrechtsverhältnis eingeht, könnte der Betriebsrat vertreten also die Eigentümerfunktion unterstützen. Denkbar wäre auch, dass der Betriebsrat zwischen den Gewerkschaften, Alternativen oder Nichtorganisierten einen Konsens herstellt und gegenüber der Betriebsleitung vertritt.

  Aus dem Ausland werden neue Modelle der Interessenvertretung präsentiert.

Vor schematischen Übertragungen aus der BRD, Schweden oder der Sowjetunion sollten wir uns hüten. Wir wollen vielmehr Neues schaffen, d. h. Angebot an die Regierung zur Mitarbeit an neuen Gesetzen, auch bei Veränderungen im AGB, wo verbindlich festgelegt werden muss, welche politischen und sozialen Interessen die Gewerkschaft vertreten soll. Ein Gewerkschaftsgesetz ist unumgehbar, auch im Hinblick auf Regierungswechsel. Der Entwurf liegt vor.

Gespräch Carola Heimann

BZ am Abend, Do. 25.01.1990

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