Ich kann nicht sagen, dass irgendwas umsonst ist

"Tribüne" sprach mit Walfriede Schmitt, Schauspielerin an der Volksbühne Berlin


Am Montag dieser Woche beschloss die Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien der DDR, sich per 1. Oktober aufzulösen, und empfahl ihren Mitgliedern, der IG Medien der Bundesrepublik beizutreten. Damit geht ein Stück Gewerkschaftsgeschichte zu Ende, an dem auch Sie aktiv mitgeschrieben haben. Zunächst einmal: Welche Gefühle beherrschen einen da?


Die kann ich noch gar nicht richtig beschreiben. Sicherlich ist es vor allein eine juristische Frage, dass wir nicht geschlossen übertreten konnten, uns also auflösen mussten, okay, aber trotzdem hört unsere Gewerkschaft auf zu existieren. Schluss. Aus. Das ist schon bitter.

Doch was soll's, jetzt zu jammern. Es war einfach nicht genügend Zeit da für eine Erneuerung von Grund auf, das betrifft nicht einzelne Leute, sondern ist viel mehr eine grundsätzliche Frage. Wir haben schon geackert, aber es war immer ein Rennen mit 'm Stiefel im Rücken, die Ereignisse haben sich überschlagen.


Wenn ich eingangs sagte, Sie hätten ein Stück Geschichte der Gewerkschaft Kunst mitgeschrieben, dann bezog sich das nicht nur auf die Übergangszeit von Dezember 1989 bis März 1990, in der Sie den Vorsitz übernommen hatten. Sie haben ja bereits früher versucht, sich vor allem für Ihre Kolleginnen stark zu machen. Was haben Sie da erreichen können, wo sind Sie auf Grenzen gestoßen?


Aus heutiger Sicht betrachtet, habe ich überhaupt nichts erreicht, weil ich immer nur an Grenzen gestoßen bin.

Vielleicht muss ich das erklären: Ich hatte immer das Gefühl, mich verantwortlich fühlen zu müssen, mich einzumischen in gesellschaftliche Prozesse. Dafür gab es und gibt es immer wieder Mechanismen - du musst also entweder einer Partei beitreten oder bei einer Bewegung mitmachen oder eben bei einer Gewerkschaft. Und weil es bei mir mit der Partei nicht mehr geklappt hatte, weil ich mit der Zeit ständig an Punkte gelangte, wo sich nichts mehr verändern ließ, dachte ich, als das Angebot von der Gewerkschaft kam, dies sei eine gute Möglichkeit. Aber auch hier bin ich gestrandet an vorgefassten Strukturen, an Regeln, die nicht zu durchbrechen waren.

Inzwischen zweifle ich grundsätzlich an, dass es Zweck hat, sich auf so etwas einzulassen. Du strampelst, aber immer nur am Bildrand, und du machst das Foto ja nicht besser, indem du lediglich dehn gezackten Rand abschneidest.

Wie gesagt, das sehe ich so aus heutiger Sicht, damals gab es ja durchaus auch Erfolge. Immer, wenn man mit Leuten zusammenkommt, wenn man mit ihnen redet, sich für sie einsetzt, bewegt man was. Meine Erfahrung aus der Gewerkschaftsarbeit war, dass der Gedanke Gewerkschaft früher immer zu klein aufgefasst würde.


War das auch mit ein Grund, dass Sie sich dann im Dezember bereit fanden, als ein neuer Vorsitzender gebraucht wurde?


Ja, auch. Ich wollte besser machen. Und ich wollte mich nicht aus der Verantwortung stehlen. Diesen Vormittag im Dezember 1989 werde ich nie vergessen, das war genau der Tag, nachdem herausgekommen war, was der FDGB mit den Soligeldern veranstaltet hat. Und es gibt ja da so einen Spruch: Wer soll den Karren noch finden in der Scheiße . . .? Wir saßen alle da und hatten eigentlich nur zwei Möglichkeiten, entweder Austritt oder weiter. Und dann habe ich mir gesagt, es kann ja nicht sein, dass hier in diesem Land alle zurücktreten, so leicht kann man sich's wohl doch nicht machen.

Die Verantwortung, die trag' ich innerlich auch jetzt mit, wo wir es eben nicht geschafft haben, die gesamte Organisation in einem, will mal sagen, souveränen Zustand zu übergeben. Und doch kann ich nicht behaupten, dass das, was ich mitgetragen habe in dieser Zeit, umsonst war. Es ist ja, vor allem auch nach der Wahl von Ruth Martin zur Vorsitzenden, sehr viel passiert - an Aktionen, an Verständigung, an produktiver Auseinandersetzung. Und ich bin fest davon überzeugt, dass alle diese Dinge irgendwann ihre Wirkung zeigen werden.


Also doch Erfolge . . .


Natürlich. Den größten Erfolg sehe ich darin, dass in dieser komplizierten Übergangszeit die Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien nicht auseinandergefallen ist, sondern sich, wie auch immer, behauptet hat. Übrigens bis einem relativ geringen Mitgliederschwund. Auch wenn die Situation jetzt wieder eine ganz andere ist. Ich rechne aber damit, um meinen vorherigen Gedanken noch zu ergänzen, dass dieser Prozess der Auseinandersetzung in vielen Köpfen eigenes Denken befördert hat.

Wenn wir von Erfolgen sprechen, dürfen wir die Niederlagen nicht aussparen. Ich hatte gedacht, wir könnten uns eine wirkliche Gewerkschaft der Kunst und der Kultur halten, es gab da auch verschiedene Pläne, die gesichert hätten, dass wir kulturpolitisch mehr einbringen könnten. Nun wird es eine ganze Strecke um Tarife gehen, um Finanzen und soziale Absicherung, was ich auch nie gering geschätzt habe, aber so eine Gewerkschaft, dachte ich, müsste doch mehr einzubringen haben. Möglicherweise habe ich mich damit aber auch in Gegenden begeben, die nicht mehr real waren. Ich glaubte, man müsse die Gewerkschaft da anpacken, wo es um Solidarität geht, um diesen verschwundenen, kaputten zerstörten Gedanken Solidarität. Auch wenn man das Wort heute gar nicht mehr auszusprechen wagt . . . Egal, wir werden neu anfangen müssen.


Als Sie sich für die Gewerkschaft engagierten, mussten Sie notwendigerweise beruflich kürzer treten. Hat das für Ihre Arbeit als Schauspielerin Verluste gebracht?


Ich habe meinen Beruf ja nicht aufgegeben, das Schlimme war, ich hab' ihn nebenbei gemacht.

Theatervorstellungen, Film, Fernsehen, das musste alles weitergehen, dafür gab es ja Verträge. So gegen Mai/Juni habe ich dort gemerkt, dass ich in eine ernsthafte Krise komme, ich war so fertig durch diesen ständigen Kräfteüberzug über eine relativ lange Strecke. Und wenn man dann einen Tages feststellen muss, dass man zu Hause die Zahncreme in den Kühlschrank legt . . . Alarmierende Zeichen, nicht? Aber im Ernst: Eine Erfahrung war: Eine solche Arbeit kann man nicht nebenbei machen, jedenfalls nicht über längere Zeit. Kam Ihnen je der Gedanke, den Beruf aufzugeben?

Doch, ich habe lange überlegt, ob ich nicht noch einmal einen neuen Zug in mein Leben bringen soll und Gewerkschaft machen oder ob mir die Schauspielerei nicht doch mehr bedeutet. Das sind alles so Klärungsprozesse gewesen, denen ich viel zu verdanken habe. So eben auch die Erkenntnis, dass ich lieber Schauspielerin bleiben möchte - diese Art von Suchen, von Verkündung, die damit zusammenhängt, ist mir lieber als diese eher abstrakte Art von politischer Arbeit.


Der 4. November 1989, als in Berlin nahezu eine Million auf die Straße ging, um für Verfassungsrechte zu demonstrieren, war, nach anfänglichen Querelen, auch durch de Gewerkschaft Kunst mitorganisiert worden und . . .


. . . Das war zum Beispiel auch was Schönes: Die Erfahrung, wie dieser 4. November entstanden ist, wie sich plötzlich alle besonnen haben zu sagen: Wir haben ja eine Gewerkschaft, und zwar als Rechtsmittel. Das erste Mal! Und wie dann die demokratisch gewählten neuen Gewerkschaftsvertreter von unten gemeinsam mit dem alten Apparat doch noch zusammenfanden, das war schon eine tolle Erfahrung.


Ich wollte eigentlich noch auf etwas anderes hinaus - auf die große Hoffnung, die viele mit diesem Tag verbunden hatten.


Diese Hoffnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich habe gewusst, es ist vorbei. Das hatte ich schon vorher gespürt. Deswegen bin ich im September aus der Partei ausgetreten, weil die Entwicklung hier in eine Richtung ging, die nicht mehr der Weg, nicht mehr mein Weg sein konnte. Und ich bin überhaupt noch nicht damit fertig, mich zum Beispiel zu befragen, warum hast du das alles solange mitgemacht, obwohl du doch längst die Unerträglichkeit unseres Seins gespürt hast, warum bist du den noch immer wieder in die Spur gegangen? Der Austritt kam vielleicht spät, aber ich habe ihn für mich vollzogen und ich habe mich damit von etwas getrennt. Nicht von der Idee, sondern von der Art und Weise, wie man diese Idee missbrauchte.


Als Schauspielerin sind Sie direkt von dem betroffen, was sowohl Ruth Martin als auch die Vorsitzenden der Künstlerverbände Anfang dieser Woche in Protestnoten an beide deutsche Regierungen als „drohenden kulturellen Kahlschlag" in diesem Teil Deutschlands bezeichnen. Kein Geld scheint mehr dazu sein für Kultur. Wie blicken Sie angesichts dieser Tatsache in die Zukunft?


Also, es gibt jetzt zwei Sorten von Leuten. Die einen sagen, was soll denn hier noch Bewahrenswertes sein? Das ist doch sowieso alles verknöchert und kaputt, und es sind nur noch die Dummen und die Feigen und die Nichtskönner hiergeblieben, hat doch alles keinen Zweck mehr! Und dann gibt es die, die meinen, Kunst wird immer bleiben, in irgendeiner Form, und daran zweifle auch ich nicht. Insofern sehe ich gar nicht so pessimistisch in die Zukunft. Bewahrenswert ist unsere Art der Auseinandersetzung. Ob sie bleiben wird und in welchem Maße, hängt letztlich von uns selbst ab: Wie wir es jetzt schaffen, den gedanklichen Prozess in uns zu fördern, und wie wir lernen, zu kämpfen - um das Feld, das uns bleibt.


Aber wie soll man kämpfen ohne Geld, ohne Subventionen?


Mit Ideen. Mit Ideen um Geld kämpfen. So muss es gehen. Das machen Künstler in allen Ländern. Für uns ist das erst mal eine völlig neue Ausgangsposition, aber wenn man nun bloß noch jammert, oh weh, jetzt ist alles vorbei, nichts geht mehr, dann bringt man sich ja bloß noch mehr in Panik. Aber wir sind doch alle noch da, mit unseren Wissen, unserem Können, unseren Ideen! Identität setzt sich ja nicht im großen ganzen durch, sondern zunächst immer nur durch Eigenes.


Nun haben aber, glaube ich, bei uns viele große Schwierigkeiten, wenn es um das Finden der eigenen Identität geht. Das führt ja so weit, dass man sagt, wir sind um unser ganzes Leben betrogen worden, haben 40 Jahre umsonst gelebt.


Man kann doch seine Identität nicht löschen, nicht, wo man her gekommen ist, nicht seine Vergangenheit. Wozu auch. Es kann mir doch keiner erzählen, alles, was er getan habe in seinem bisherigen Lebens, sei umsonst gewesen. Dann hätte er, glaube ich, gar nicht existieren können.

Kürzlich hat mir jemand in einem Gespräch gesagt, ihr seid befangen in eurer Geschichte, und eine echte Solidarität zwischen den Deutschen wird es nie geben; der ehemalige DDR-Bürger wird immer ein DDR-Bürger bleiben. Ja, okay, und wo ist das Problem? Warum sollen nicht wir zum Beispiel etwas in dieses vereinte Deutschland retten, was die Bundis nicht haben?

Die Geschichte wird ihren Verlauf nehmen. Einerseits sind die Absperrungen weg, die Leute können reisen, können sich umtun, andererseits ist es eine komplizierte Zeit, und es gibt große Gefahren. Glauben Sie nicht, dass ich die nicht sehe: für die Kinder, die Alleinstehenden, die Alten, die Frauen. Wenn ich nur an diesen Paragraphen 218 denke, wird mir schlecht. Doch ich empfinde eben auch die Verpflichtung, uns einzubringen. Und wenn ich mir insgesamt angucke, was wir in dieser kurzen Zeit alles erlebt haben, dann kann ich darüber nicht unglücklich sein.


Seit der Wende hat sich die Funktion des Theaters in der DDR ja geändert - wurde früher auf der Bühne verhandelt, was die Zeitungen nicht schreiben durften, so ist die Realität heute eine völlig andere: Neben einer Volkskammertagung, zum Beispiel, verblasst die schärfste Kabarettnummer. Wie hat sich Ihr Theater, die Berliner Volksbühne, auf die neue Situation eingestellt?


Zuerst war da natürlich eine große Irritation. Es gab sogar die Meinung, dass man die Theater eine Weile zumachen müsste, um Zeit zu haben, sich neu einzustellen auf die Dinge. Aber so was geht nicht; die Umstellung muss auf dem Weg passieren. Unser Haus finde ich, hat da eine ziemliche Kraft entwickelt. Nur, so was schafft man nicht in drei Monaten, dafür braucht es eigentlich drei Jahre. Und ich denke schon, das spüre ich an mir, dass dies eine Aufgabe ist, die Freude macht, auch wenn ich schon wieder ahne, dass uns keine drei Jahre gegeben werden. Aber das macht nichts, wir versuchen dennoch, dieses Haus zu behaupten.

Zum Beispiel gegen Überlegungen, die beiden Volksbühnen, die es in Berlin durch die Teilung der Stadt nun mal gibt, wieder zu vereinigen. Wir gehen erst mal davon aus, dass wir es schaffen, unser Haus als Volkstheater zu erhalten, unabhängig von der Freien Volksbühne in Westberlin. Und zwar produktiv, nicht in Trauerhaltung.


Ist das 48stündige Räuberspektakel "D.R.A.M.A." am 23./24. September schon so ein Neuanfang?


Das D.R.A M A. ist eher zu sehen als eire Frage der Wildheit des Anspruches auf Kreativität. Und auf Ungewöhnlichkeit. Und auf kulturelle Beschäftigung überhaupt. Es ist ja ganz stark gemeint als Aktion, die natürlich, hoffentlich, die nötige Qualität hat. Der Zuschauer sollte mitspielen und so vielleicht nachvollziehen, wie man und womit man in diesen Bereichen lebt. Ich bin sehr gespannt, wer sich darauf einlässt, hier wirklich mitzumachen; wir haben für Schlafmöglichkeiten gesorgt - man kann also wirklich 48 Stunden Theater total erleben. Wir machen unser Haus auf und bieten an: Seid mit uns und spielt mit uns und guckt uns zu! Das ist schon etwas völlig Neues.

Wissen Sie, die Grundwahrheit, dass jetzt eine Zeit auf uns zu kommt, die genauso viele Lügen hat wie die unsrige, die kann ich nicht leugnen, aber möglicherweise bringt sie uns auch größere Freiräume, als wir sie je hatten: Dass man das, was man für richtig erkannt hat, in größerem Maße selbst beeinflussen und mit durchsetzen kann.


Da Sie sich, zum Glück, dafür entschieden haben, doch Schauspielerin bleiben zu wollen - welche Aufgaben warten jetzt auf Sie?


Am Theater, nach dem Räuber-Spektakel, werde ich eine sehr schöne Rolle im "Friedensfest" von Gerhart Hauptmann übernehmen, und dann - das sollte man zwar nicht machen, parallel zur Bühne - habe ich noch eine neue Aufgabe bei Bodo Fürneisen angenommen, weil es wahrscheinlich der letzte DDR-Film sein wird. Es geht um vier Schwestern -‚gespielt von Uschi Werner, Jutta Wachowiak, Christine Schorn und mir - die in einer Nacht auf ihre Lebenslügen stoßen. Ein stiller Film, fast wie ein Kammerspiel, der natürlich viel mit diesem Land zu tun hat. Das ist noch mal wie so ein Bündel DDR-Leben, DDR-Alltag, zum Abschied. Wobei ich doch hoffe, dass noch ein paar Filme gemacht werden, auch Theaterstücke, die sich mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Und was ich kann, will ich gern dazu tun.

Mit Walfriede Schmitt
sprach Felicitas Knöfler

Biographisches

1943 als Tochter einer Schauspielerin und eines Dramaturgen geboren, begann Walfriede (Wally) Schmitt nach dem Abitur ein Sinologie-Studium, das sie jedoch abbrach, weil das Theater stärker war als der Traum von China.

Ab 1963 studierte sie an der Berliner Schauspielschule, ging ins erste Engagement nach Parchim; es folgten Halle und Meiningen. 1972 kehrte sie zurück nach Berlin, zunächst ans Deutsche Theater (Luise in "Kabale und Liebe"), dann an die Volksbühne, deren Ensemble sie nach heute angehört.

Wichtige Theaterrollen hatte sie u. a. in Heiner Müllers "Die Bauern", in Brauns "Hinze und Kunze", in Molières "Der eingebildet Kranke" und zuletzt in "La Dama Boba", einer Komödie von Lope de Vega.

Seit ihrem Fernsehdebüt von 1974 (die Martha in der Anna-Seghers-Verfilmung "Das Schilfrohr") erhielt sie zahlreiche Film- und Fernsehrollen. Publikumsliebling war sie beispielsweise in dem Christa-Mehl-Film "Paulines zweites Leben", aus dem sich eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit mit Christa Mühl ergab. Gerade abgedreht beispielsweise ist ihr Fernsehfilm "Fritze Bollmann" mit Wally als Partnerin von Dieter Wien in der Titelrolle.

Seit Jahren gewerkschaftlich aktiv, übernahm sie von Dezember 1989 bis März 1990 den Vorsitz der Gewerkschaft Kunst, später Kunst, Kultur, Medien.

Tribüne, Fr. 14.09.1990

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