"Tribüne" Interview mit Peter Rothe, Vorsitzender des Sprecherrates
Gewerkschaft wird unbequemer Partner
• Es gibt zunächst einen aktuellen Anlass für dieses Interview, Du warst einige Tage in Genf zur 77. Jahreskonferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Früher war der FDGB dort vertreten. Es gab also ganz bestimmt eine völlig neue Situation.
In gewisser Hinsicht hatte unser Auftreten in Genf fast historischen Charakter. Wir wurden dort von Gerd Muhr, der die bundesdeutsche Abordnung leitete und zugleich den Vorsitz für alle Arbeitnehmerdelegationen hatte, direkt aufgefordert, gemeinsam Platz zu nehmen. Und das war nicht nur Formsache. Es gab in vielen Fragen eine intensive Abstimmung. Somit wurde es auf internationalem Parkett eine erste Dokumentation der deutschen Einheit, natürlich vor allem der Gewerkschaftseinheit.
• Hattest du auch Gelegenheit, in Genf zu sprechen?
Ja. Ich konnte die rund 2 000 Delegierten - Vertreter von Regierungen, Unternehmerverbänden und Arbeitnehmerorganisationen - aus 150 Mitgliedsländern der ILO über aktuelle Entwicklungen in der DDR informieren. Im Vordergrund stand dabei die Entstehung freier und unabhängiger Gewerkschaften.
• Gab es dafür besonderes Interesse?
Ich denke schon, dass es für die Teilnehmer interessant war, über den Einigungsprozess aus unserer, also gewerkschaftlicher Sicht informiert zu werden. Zumindest zeigte sich dies auch bei den zahlreichen Gesprächen und Kontakten, die wir am Rande der Konferenz hatten.
• Könntest du einige Beispiele nennen?
Wir hatten - was übrigens dem FDGB in über 40 Jahren nicht gelungen war - ein längeres Gespräch mit Vertretern des amerikanischen Dachverbandes AFL/ClO. Aber auch mit dem britischen TUC, mit den skandinavischen oder italienischen Kollegen. Es gab eine Begegnung mit dem Repräsentanten des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG), dem ja auch der DGB angehört. Von vielen Seiten wurde die Auflösung des FDGB als richtige Entscheidung beurteilt, die uns auch den Weg zu vielfältigen internationalen Kontakten geöffnet hat.
• Aber geht das nicht auf Kosten anderer Beziehungen?
So einfach lässt sich das nicht sagen. Selbstverständlich ergibt sich mit dem Zusammenschluss der deutschen Gewerkschaften die Konsequenz, dass wir den Weltgewerkschaftsbund (WGB) verlassen. Aber darüber haben wir uns in Genf auch mit den Vertretern des sowjetischen WZSPS unterhalten.
• Wurde über die künftige Mitarbeit in der ILO gesprochen?
Mit dem stellvertretenden Generaldirektor, Herbert Maier, wurden ständige Kontakte zwischen ILO und Sprecherrat vereinbart. Er hat uns auch Unterstützung zugesagt, um die sozialen Interessen der Arbeitnehmer in der DDR zu sichern. Dies betrifft in erster Linie die Einhaltung von Übereinkommen der ILO, die auch seitens der DDR ratifiziert sind, zum Beispiel über die freie Betätigung von Gewerkschaften. Bei ihrer praktischen Umsetzung, das zeigt die Situation in manchen Betrieben, gibt es momentan einige Probleme in der DDR. Wir werden darüber demnächst mit der Regierung sprechen. Unser Standpunkt ist da kompromisslos: Wir fordern eine strikte Einhaltung.
• Auch dieses Problem gehört offensichtlich zu den neuen Verhältnissen, die sich in der DDR schon jetzt entwickeln. Es ist eine Binsenweisheit, dass es die Gewerkschaften nach dem 1. Juli auf jeden Fall nicht leichter haben werden. Widerspiegelt aber die gegenwärtige Situation, auch in den Betrieben, nicht vor allem den allgemeinen Zustand der Gewerkschaften?
Grundsätzlich muss in diesem Zusammenhang eines gesehen werden: Mit dem Beschluss vom 9. Mai zur politischen Auflösung des alten FDGB und der Schaffung des Sprecherrates der 20 Einzelgewerkschaften wurde die Voraussetzung geschaffen, um überhaupt eine Vorwärtsentwicklung der Gewerkschaften zu ermöglichen. Im Moment besteht natürlich in allen Branchen eine entscheidende Aufgabe: mit dem Blick auf die Zeit nach dem 1. Juli alles zu tun, um die sozialen Interessen der Beschäftigten zu sichern. Die Entwicklung, zum Beispiel der Arbeitslosenzahlen, ist alarmierend. Wir müssen von weiteren Einbrüchen ausgehen.
Gleichzeitig fehlt es den Gewerkschaften an Erfahrungen. Sie sind in einem Lernprozess. Von daher muss so schnell wie möglich der Zusammenschluss mit den DGB-Gewerkschaften erfolgen. Ich hoffe und bin eigentlich sicher, dass die Gewerkschaftseinheit vor der staatlichen Einheit vollzogen wird.
• Doch am 14. September findet erst mal der Auflösungskongress des FDGB statt. Und der DGB wird sicher nicht ab 15. September hier sein?
Es geht bei diesem Kongress, um vielleicht auch manchen falschen Vorstellungen vorzubeugen, um die notwendige, der Satzung entsprechende Auflösung des FDGB als juristische Person. Politisch ist das bereits erfolgt. Es geht zum Beispiel um die Sicherung von Vermögenswerten und Eigentum, das ja den Mitgliedern gehört und auf die Einzelgewerkschaften verteilt werden muss. Dazu ist der Sprecherrat nicht befugt. Das kann nur ein Kongress. Mit der Vereinigung der Einzelgewerkschaften werden sie dann automatisch zu Mitgliedsorganisationen des DGB. Er wird, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, seine Strukturen auf dem jetzigen Gebiet der DDR aufbauen.
Wie - in welcher Form und mit welchem Umfang - er das macht, ist ausschließlich Sache des DGB.
• Also bleibt zunächst eine Übergangslösung. Heißt sie weiter Sprecherrat?
So lange, wie es die Einzelgewerkschaften für nötig halten, dass eine Art übergeordnete Institution besteht, wird er weiter arbeiten. Es müssen Fragen geregelt werden, die über die Möglichkeiten der Branchengewerkschaften hinausgehen. Das betrifft unter anderem die Verhandlungen mit der Regierung oder Kontakte zu den Parteien im Parlament.
• Trotzdem hat man den Eindruck, dass die 20 Gewerkschaften hier mehr einzeln als einheitlich auftreten. Spielt da im Hinterkopf schon der Gedanke eine Rolle, bis der DGB kommt, wird es schon gehen?
Eigentlich ist das Problem folgendes: Nach über vier Jahrzehnten haben die Einzelgewerkschaften ihre Souveränität bekommen. Sie müssen sich völlig neu formieren. Es gibt viele unerfahrene Leute. Zweitens stehen sie vor völlig neuen Bedingungen. Drittens gibt es keinen FDGB mehr, der ihnen früher die Arbeit „ab nahm". Schließlich ist jede Gewerkschaft mit den sehr unterschiedlichen Problemen des Zusammenschlusses beschäftigt.
• Du würdest also diesem Eindruck zustimmen?
Mit all diesen Schwierigkeiten fertig zu werden, überfordert manchmal die Kräfte. Da kann schon manchmal bei den Mitgliedern der Eindruck entstehen, die Apparate beschäftigen sich nur mit sich selbst. Zumal gewerkschaftliche Arbeit in vielen Betrieben ja nicht gerade gefördert wird.
• Es gibt aber auch Meinungen, dass bei der Vereinigung der Gewerkschaften manchmal mehr über Posten verhandelt wird als über die Interessen der Mitglieder.
Vielleicht entstehen solche Meinungen auch daher, dass bei einigen Gewerkschaften von BRD-Seite betont wird, dass vor allem die Mitglieder, aber nicht die Funktionäre übernommen werden sollen.
Ich kann da nur für meine Gewerkschaft der Eisenbahner sprechen. Ich meine, dass die Kollegen, die jetzt das Vertrauen der Mitglieder hier haben, dieses Mandat nicht gleich wieder verlieren dürfen. Aber über Posten wird nach der Vereinigung letztlich auf Kongressen entschieden, durch die Wahlen der Mitglieder.
• Trotzdem ist es gerade jetzt und angesichts der Vergangenheit mehr als schädlich, wenn schon wieder so diskutiert wird.
Ich kann nur für die GdE und meine Person sprechen. Ich verhandele über keine Posten. Ich bin Mitglied einer Gewerkschaft, zur Zeit als ihr Vorsitzender. Und auf unserem Vereinigungskongress werden die gewählten Delegierten entscheiden, ob mir wieder eine Aufgabe übertragen wird. Im DGB werde ich keine Funktion übernehmen. Es kursieren Gerüchte, dass es da schon feste Absprachen gibt. Das ist einfach falsch. Als Vorsitzender des Sprecherrates habe ich eine Verantwortung übernommen. Sie ist begrenzt für einen Übergangszeitraum und wird auch nicht extra honoriert.
• Es soll - speziell von der CDU - an Vorsitzende oder Funktionäre auch herangetragen worden sein in diese Partei zu kommen. Hast du davon gehört?
Sicher gibt es das Bestreben von Parteien, ob hier oder in der Bundesrepublik, Mitglieder zu werben. Vielleicht auch gerade in den Gewerkschaften. Hier muss jeder persönlich, der da angesprochen wurde, entscheiden, ob er diesen Schritt tut oder nicht.
• Zu einem anderen Thema. DDR-Wirtschaftsminister Pohl hat einen "heißen Herbst" prophezeit. Siehst du auch diese Gefahr?
Es zeichnen sich schon jetzt außerordentlich komplizierte Probleme in den Betrieben ab. Schätzungen sagen, 30 Prozent der Betriebe werden noch in diesem Jahr schließen müssen.
Weitere 30 Prozent eventuell 1991 nicht überleben. Damit kommt es zwangsläufig zu brisanten sozialen Problemen. Deshalb fordern die Gewerkschaften umfassende Weiterbildungsprogramme. Die Arbeitsämter missen wirksam werden.
• Pohl hat also recht mit seiner Vermutung?
Ich persönlich bin der Ansicht, man sollte sich vor Spekulationen, die weitere Unsicherheit erzeugen, hüten.
• Fest steht, dass wirksame Interessenvertretung in den Betrieben gebraucht wird. Ab 1. Juli gilt zum Beispiel dass Betriebsverfassungsgesetz. Ehe jedoch die Wahl von Betriebsräten abgeschlossen sein wird, vergeht wieder Zeit. Mit der Regierung sollte eine Übergangslösung gefunden werden. Wie ist der Stand?
Wir haben einen Text über die SPD-Fraktion eingebracht. Im Prinzip sollen die gewählten Arbeitnehmervertretungen - ob BGL, Betriebs- oder Personalrat - alle Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz bekommen. Als Endtermin für diese Regelung gilt der 31. Dezember. Diesen Vorschlag kennt die Regierung. Er soll kurzfristig in der Volkskammer vorgelegt werden.
• Schließt er die materielle Absicherung ein?
Ja. Sie soll nach dem Betriebsverfassungsgesetz durch den Arbeitgeber erfolgen.
• Ein Streitpunkt war und bleibt die Aussperrung. Ob der Entwurf eines "vorläufigen Grundgesetzes" überhaupt noch nötig ist, sei dahingestellt. Auf jede Fall hat er diese Diskussion erneut angeheizt.
Wir fordern ein klares Verbot. Kommenden Montag wollen wir auch darüber nochmals mit der Arbeitsministerin Hildebrandt reden. Auch mit der SPD-Fraktion gibt es dazu Kontakte. Aussperrung würde das Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten der Arbeitgeber verschieben. Dies wäre auch der Fall, wenn das Streikrecht an einen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden würde. Jeder Unternehmer könnte da gewerkschaftliche Forderungen als zu hoch, einen Streik als ungerechtfertigt erklären. Das würde die Gewerkschaften sofort wieder unmündig machen.
• Doch gerade in jüngster Vergangenheit war es ein Problem für die Gewerkschaften, ausgewogene, vernünftige Tarifforderungen zu stellen.
Ich gehe davon aus, dass die jetzigen und auch die zukünftiger Gewerkschaften in der DDR mit Überblick und Vernunft ihre Tarifforderungen aufstellen. Das heißt, auch die realen Möglichkeiten des Unternehmens, der wirtschaftlichen Entwicklung in den Verhandlungen zu berücksichtigen. Natürlich werden wir, wo eine konjunkturelle Entwicklung einsetzt darauf bestehen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das ihnen zustehende Stück vom Kuchen bekommen. Übertriebene Forderungen wären aber unverantwortlich. Praktisch würden wir damit die Grundlagen zerstören, von denen aus wir unsere Ziele verwirklichen müssen.
• In welchen Branchen sind deiner Meinung nach die größten Schwierigkeiten zu befürchten?
Vieles wird erst nach dem 1. Juli wirklich sichtbar werden. Es gilt dann, die Situation richtig zu bewerten. Aber dramatische Zuspitzungen werden in der Leicht- und Lebensmittelindustrie auftreten. Große Probleme sind auch mit der Übernahme bundesdeutscher Umweltgesetze in der Chemieindustrie vorhersehbar.
• Ist die Arbeitsmarktpolitik der Regierung unter diesen Gesichtspunkten ausreichend?
Aus unserer Sicht sind die geplanten Maßnahmen und Mittel - wie sie sich im Staatsvertrag, in anderen Veröffentlichungen und auch in den Gesprächen mit Regierungspolitikern darstellen - keineswegs ausreichend. Offensichtlich gibt es hier einen krassen Widerspruch zwischen dem, was eingeleitet werden soll, und dem, was an Folgen allgemein erwartet wird, auch von der Regierung selbst.
Wir haben der Regierung angeboten, unsere Räumlichkeiten und Gebäude für Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen zu nutzen. Aber es ist natürlich inakzeptabel, dass - wie uns von vielen Kollegen geschrieben wird - im gleichen Moment die Betriebe ihre Bildungseinrichtungen abstoßen, weil sie ihnen zu viel kosten.
• Von den Arbeitnehmern wird verlangt, flexibler zu sein, auch - wie Pohl sagte - "liebgewonnene Arbeitsplätze" aufzugehen. Liegt da ein Problem?
Natürlich bedeutet die Marktwirtschaft, für die Beschäftigten, sich darauf einzustellen. Das gilt auch für die Bereitschaft, neue, andere Tätigkeiten zu übernehmen. Sie ist, wenigstens kann ich das für die Eisenbahner ganz sicher so sagen, im Prinzip vorhanden. Aber alle Flexibilität nutzt nichts, wenn Regierung und Unternehmer keine entsprechenden Bedingungen schaffen.
• In vielen Fragen gab es bis vor kurzem zwischen Regierung und Gewerkschaften zumindest ähnliche Meinungen. Nun scheinen doch die Widersprüche zuzunehmen. Kommt es hier gewissermaßen auch zur Einheit mit der BRD, wo die Gewerkschaften die Regierungspolitik ja auch nicht gerade als arbeitnehmerfreundlich sehen?
Ich würde sagen, dieser wenig arbeitnehmerfreundliche Eindruck entsteht zwangsläufig, schon wenn man die täglichen Nachrichten hört oder liest. Aber auch angesichts mancher Gesetze, die jetzt in Arbeit sind und von der Volkskammer verabschiedet werden sollen. Fest steht: Als Gewerkschaften werden wir unter diesen Bedingungen kein bequemer Partner für die Regierung und die Unternehmerverbände sein. Wir werden bei dieser Entwicklung die Interessen der Arbeitnehmer verteidigen. Wir werden den ihnen zustehenden Teil fordern. Gerade dann, wenn zunehmend der Eindruck entsteht, dass einseitig zugunsten der Arbeitgeber gehandelt wird.
(Das Interview führte
Michael Bolz)
Tribüne, Fr. 15.06.1990