ÖTV mit 14 Kreisverwaltungen präsent
Fehltritte beim Übertritt
Wir sprachen mit Werner Ruhnke, Leiter der ÖTV-Informationsstelle in der DDR
• Auflösung von Einzelgewerkschaften zum 2. Oktober - Eintritt in die ÖTV zum 1. 11.. Kann es passieren, dass da eine Lücke in der Interessenvertretung entsteht?
Die entsteht garantiert nicht, denn ab 3. Oktober wird die ÖTV auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer zuständig sein. Alle Mitglieder, die jetzt ihren Übertritt in die ÖTV erklären, werden dann auch durch sie vertreten. Dazu werden die Informationsbüros, die wir schon seit einigen Monaten in den ehemaligen DDR-Bezirksstädten haben, zu 14 Kreisverwaltungen umprofiliert.
• Ein Teil bezahlt aber doch noch die Oktober-Beitrüge an die dann ehemaligen DDR-Einzelgewerkschaften?
Wir alle haben angenommen, dass der Beitritt zur BRD später erfolgt. Dadurch war für uns der 1. 11. der Stichtag für den Übertritt. Nun ist das alles viel schneller gegangen. Dadurch ist es notwendig, dass die neuen Mitglieder zum 3.10. ihren ÖTV-Beitritt erklären.
• Wenn jedoch jemand seinen Beitritt bereits bezahlt hat oder aus welchen Gründen auch immer noch im Oktober an seine ehemalige Gewerkschaft zahlt - können sich daraus Komplikationen für die Anerkennung einer durchgängigen Mitgliedschaft ergeben?
Diese Probleme sehe ich nicht, weil wir die bisherigen Mitgliedschaftszeiten anerkennen. Wenn jemand jedoch erst im nächsten Jahr in die ÖTV eintritt, dann kann er nicht erwarten, dass wir ihm das halbe Jahr anerkennen.
Wir rufen dazu auf, möglichst zum 3. 10. in die ÖTV einzutreten. Das ist auch deshalb notwendig, weil sich zum Stichtag 1. 11. entscheidet, wie sich die künftigen Gremien zusammensetzen.
• Von Gewerkschaftern wird Klage geführt, dass der Umstellungsprozess territorial sehr unterschiedlich verläuft, teils nicht einmal genügend ÖTV-Aufnahmeanträge vorhanden sind. Lässt sich das schnell ändern?
Es ist sicher zutreffend, dass der Umstellungsprozess in die ÖTV noch sehr unterschiedlich verläuft. Die Zusammenarbeit mit den Einzelgewerkschaften, die ihr beitreten, ist qualitativ verschieden. Es sind über eine Million Aufnahmeanträge ausgegeben worden. Wenn es da Probleme gab, können das nur Einzelfälle gewesen sein.
• Die Mehrzahl der amtierenden hauptamtlichen Funktionäre der Einzelgewerkschaften ist nach der Wende von den Mitgliedern gewählt worden, also demokratisch legitimiert. Warum verhält sich die ÖTV ablehnend dagegen, sie zu übernehmen?
Ich bestreite, dass alle Hauptamtlichen demokratisch legitimiert wurden. Darauf haben uns auch viele Ehrenamtliche hingewiesen. Wir hätten jedoch auch schon deshalb nicht allen Hauptamtlichen in den Einzelgewerkschaften, mit denen wir zusammengehen, eine Einstellungszusage geben können, weil wir die Größenordnung noch gar nicht kennen, die an Gewerkschaftssekretären künftig erforderlich sein wird. Bei der Entscheidung, wer Gewerkschaftsfunktionär wird, haben vor allem die Ehrenamtlichen ein Wörtchen mitzureden. Es würde dem demokratischen Prinzip widersprechen, die neugewählten Kreisvorstände vor vollendete Tatsachen zu stellen.
• Es gibt aber die Möglichkeit, sich um Stellen zu bewerben?
Die gibt es ab 3. Oktober. Die Entscheidung darüber, wer bei der ÖTV fest angestellt wird, fällt aber erst Anfang des kommenden Jahres durch die neuen Kreisvorstände. Bis dahin wird es Einstellungen von Beschäftigten aus der DDR nur mit Zeitverträgen geben.
• Heißt das, die 14 Kreisverwaltungen sind vorwiegend mit ÖTV-Leuten aus der BRD besetzt?
Ja, aber das wird eine Lösung auf Zeit sein. Später wird es auch Einstellungen aus den fünf neuen Bundesländern geben. Wobei das irgendwann sicher gar nicht mehr wichtig sein wird, wer woher kommt. Dann wird es darauf ankommen, welche Qualifikation jemand hat.
• Derzeit findet die totale Demontage von DDR-Einzelgewerkschaften statt. Sind Vertretungsansprüche der Mitglieder, wie Prozessvertretung, Beratung usw. noch ausreichend gesichert?
Das ist kein Problem, das mit dem Übertritt der DDR-Einzelgewerkschaften in die ÖTV zu tun hat, sondern damit, dass auf Grund der komplizierten Arbeitsmarktsituation, die hier eingetreten ist, solche Fragen gehäuft auftreten. Sie hätten durch die ehemaligen DDR-Gewerkschaften in der Form, wie sie jetzt notwendig werden, überhaupt nicht geklärt werden können, weil ihre Vertreter auf das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik nicht eingestellt sind und erst geschult werden müssen.
• Die Mitglieder fühlen sich in Situationen wie Kündigungen, Entlassungen alleingelassen, weil die gewerkschaftlichen Anlaufstellen sehr stark mit organisatorischen Aufgaben befasst sind . . .
Es kann schon sein, dass es da mal Probleme gibt. Aber ich glaube nicht, dass man das generell sagen kann. Nach unseren Informationen ist es gewährleistet, dass diejenigen, die dringend Rechtsschutz brauchen, ihn auch bekommen. Dieses Problem wird sich schnell reduzieren, wenn die Betriebs- und Personalräte überall gewählt sind und auch die Schiedsstellen - die es [fehlendes Satzende im Original]
• Reichen die 14 Kreisverwaltungen aus für den Berg von Arbeit, den die ÖTV jetzt zu bewältigen hat?
Allein würden sie es sicher nicht schaffen, aber schon in den nächsten Wochen wird es überall Nebenstellen geben. Wichtig ist, dass jetzt die Organisation von unten her aufgebaut wird.
• Wie sieht es mit den Leistungen der Gewerkschaft auch für ehemalige DDR-Gewerkschafter aus?
Es wird in der künftigen ÖTV keine Mitglieder erster und zweiter Klasse geben. Alle haben den Anspruch auf die gleichen Leistungen, Rechte und Pflichten. Eine Änderung wird es allerdings beim Treuegeld geben. Um dieses Treuegeld überhaupt finanzieren zu können - was auf Grund der . . . zigtausend neuen Mitglieder nicht ohne weiteres möglich wäre -, ist eine Wartezeit von drei Jahren in einer DGB-Gewerkschaft Voraussetzung.
Das Gespräch führte
Ingrid Aulich
Tribüne, Mo. 01.10.1990