Rede von Annelis Kimmel in der Volkskammer am 13.11.1989
Präsident: Für die Fraktion des FDGB spricht die Abgeordnete Annelis Kimmel.
Frau Kimmel (FDGB): Verehrte Abgeordnete! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktion des FDGB schätzt ebenfalls ein, dass sich unser Land in einer sehr ernsten Situation befindet, in der das Vertrauen eines großen Teils seiner Bürger in die Führung und ihr Vermögen zu einem echten Neubeginn erschüttert ist. Nur allmählich und zaghaft wächst neues Vertrauen. Es wurde höchste Zeit, dass die Volkskammer berät, ihren Präsidenten wählt und den Ministerpräsidenten beruft. Die FDGB-Fraktion hat wie alle anderen Fraktionen auch die schnelle Einberufung der Volkskammer immer wieder gefordert.
Beträchtlichen Vertrauensverlust haben auch wir als Gewerkschaften zu verzeichnen. Wir müssen heute unter anderem diese bittere Erfahrung machen, weil wir die Politik der SED kritiklos unserer Arbeit zugrunde legten und ungenügend die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bei der Interessenvertretung unserer Mitglieder zum Ausdruck brachten. So verloren wir Profil.
In dieser Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs, der alles in Bewegung bringt, ist die Chance zu suchen, mit der Klugheit und der Bereitschaft der Werktätigen den Weg zu einem neuen Anfang zu finden. Insofern, glaube ich, geht es für uns alle darum, nicht schlechthin Vertrauen zurückzugewinnen, sondern neu zu gewinnen.
(Beifall)
Ich weiß aus unzähligen Briefen und aus vielen Gesprächen mit unseren Mitgliedern, unter anderem bei den Kollegen im Berliner Glühlampenwerk oder den Büromaschinenwerkern in Sommerberg, dass sie bereit sind, tatkräftig dabei mitzuwirken. Sie äußern harte Kritik an der bisherigen Arbeit und machen gleichzeitig sehr konstruktive Vorschläge, wie sie sich die weitere Entwicklung der DDR und die Gewerkschaftsarbeit vorstellen. Viele unserer Funktionäre in den Betrieben wie in allen Leitungen, unsere Abgeordneten leisten eine bis an die physischen Grenzen gehende Arbeit. Sie stellen sich den Fragen und Forderungen der Kollegen, sind bereit, alles Bisherige konstruktiv in Frage zu stellen, und sie vollziehen einen oft nicht einfachen Erkenntnisprozess.
Über allen notwendigen Anstrengungen und Auseinandersetzungen steht die Bewahrung des Sozialismus in der DDR und in ihr die Einheitsgewerkschaften als wirkliche Interessenvertreter ihrer Mitglieder und als fundamentale Errungenschaften des antifaschistischen Kampfes.
Unser Freier Deutscher Gewerkschaftsbund ist für alle offen unabhängig von politischen und religiösen Anschauungen, Staatszugehörigkeit und Geschlecht. Wir hoffen auf die aktive Mitarbeit der in unserer Gewerkschaft organisierten Kommunisten sowie der Mitglieder aller demokratischen Parteien und Organisationen unseres Landes, auch der neu entstehenden, wie auf die aktive Mitarbeit der parteilosen Kollegen, der Frauen, der Jugend, und wir brauchen den Rat unserer Veteranen.
Wir werden auf unserer 11. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB am 29. November den Vorschlag unterbreiten, im Dezember/Januar die Delegierten zum außerordentlichen Gewerkschaftskongress zu wählen, der nicht später als im Februar stattfinden sollte. Dieser Kongress hat dann die Aufgabe, für die weitere Entwicklung starker, freier, unabhängiger Gewerkschaften die neue Satzung und das Programm für die weitere Arbeit zu beschließen sowie den neuen Bundesvorstand zu wählen. Unsere Mitglieder fordern - ich sage das hier ganz offen -‚ dass in dieser Satzung nicht die führende Rolle der Partei festgeschrieben werden sollte.
In vielstündigen Diskussionen in der Volkskammer-Fraktion des FDGB mit Mitgliedern und Funktionären und in Tausenden Briefen schälen sich für die Arbeit der Gewerkschaft und ihre Abgeordneten aller Ebenen Anforderungen heraus, die vorrangig in Angriff genommen werden sollten. Zu einigen wenigen möchte ich versuchen, hier erste Überlegungen zu sagen.
Als politische Organisation der Werktätigen, als Mandatsträger des FDGB haben wir künftig konsequent von den individuellen und kollektiven Interessen der Mitglieder auszugehen. Den Schutz dieser Interessen müssen wir als unsere oberste Pflicht verstehen. Das dringendste - so legen es uns die Mitglieder ans Herz - ist, jetzt zu sichern, dass der Wille der Werktätigen, in der Produktion, in Forschung und Entwicklung wie in allen anderen Bereichen ergebnisreich und kontinuierlich zu arbeiten, materiell untersetzt wird. Das betrifft sowohl Fragen der Materialversorgung, der Zulieferung, des Zustands der Maschinen und Anlagen der Transport- und Lagerprozesse wie die Bedingungen, in denen die Kollegen arbeiten und leben. Niemand, mit dem ich gesprochen habe, erwartet schlagartige Veränderungen, aber alle erwarten erste sichtbare Schritte in die richtige Richtung. Das gilt bereits für dieses Jahr, aber erst recht für einen bilanzierenden Plan 1990.
Die FDGB-Fraktion tritt ebenfalls dafür ein, dass sofort eine arbeitsfähige Regierung gebildet wird, die sich mit Konsequenz den Problemen unseres Landes zuwendet, was den Kassensturz beinhaltet, von dem hier heute schon die Rede war, und sich sofort den Fragen des täglichen Lebens der Arbeiterklasse und aller Werktätigen stellt. Ich wiederhole hier die Forderung der FDGB-Fraktion an die neu zu bildende Regierung, zum Plan 1990 ihre Vorstellungen sehr schnell zu unterbreiten.
Viel Diskussion hat unser Vorschlag ausgelöst, die 40-Stunden-Woche auf der Grundlage höherer Effektivität der Volkswirtschaft einzuführen.
(Unruhe)
Sehr viele machen uns darauf aufmerksam, dass dies nicht die Forderung des Tages sein kann.
(Beifall)
Dem ist nichts entgegenzuhalten. Wir sind aber dafür, dass dies ein wichtiges Ziel in unserer gewerkschaftlichen Arbeit im Interesse unserer Mitglieder bleiben muss, verbunden mit dem angestrengten Kampf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
(Beifall)
Interessenvertretung heißt aber auch - so die Hinweise in den Diskussionen und Briefen -‚ dafür zu sorgen, dass wichtige soziale Errungenschaften nicht verlorengehen dürfen. Die Forderungen und Hinweise stimmen mit dem überein, was im Aktionsprogramm der SED formuliert ist: dass Elemente der Subventionspolitik sozial ungerecht sind und zu Spekulationen und Verschwendung führen und dass jegliche Veränderung in der Subventionspolitik deshalb durch Ausgleichsmaß nahmen neue soziale Ungerechtigkeiten ausschließen sollte.
In dem Zusammenhang ein Wort zu den seit vergangenem Donnerstag praktizierten Reisemöglichkeiten. Wir haben sie auch im Interesse und entsprechend den Forderungen unserer Mitglieder begrüßt und bleiben dabei. Es mehren sich aber in den letzten Stunden Stimmen, die verantwortungsbewusst darauf hinweisen, dass dadurch die Arbeit in den Betrieben nicht beeinträchtigt werden darf. Und es wird die Sorge laut, dass durch Spekulation unserem Land großer ökonomischer Schaden zugefügt wird.
(Beifall)
Dank ist hier vor allem jenen Werktätigen zu sagen, die in selbstloser Arbeit und in kürzester Zeit die Voraussetzungen für die Nutzung dieser Reisemöglichkeiten schufen, und unser Dank gilt auch jenen, die in dieser neuen Situation unsere Grenzen zuverlässig schützten.
(Lebhafter Beifall)
Werte Abgeordnete, bei der Mehrzahl unserer Mitglieder gibt es Übereinstimmung darüber, dass in der DDR Sozialismus sein soll, ein lebens- und liebenswerter, und dass wir dazu innere und äußere Sicherheit brauchen; denn alles, was wir vorhaben, bedarf zuallererst, dass Frieden ist. Wir brauchen - und da gibt es gar keinen Zweifel - eine tiefgreifende Demokratisierung in unserem Lande. Wir als Gewerkschaften wollen dazu unseren Beitrag leisten, ausgehend von einer hohen Selbständigkeit der Grundorganisation bis zur Neugestaltung und der Selbständigkeit der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften für die Interessen der Mitglieder ihrer Bereiche. Alles, was in der bisherigen Struktur des FDGB daran hindert, nahe an den Mitgliedern zu sein, muss beseitigt werden. Zur Wahrnehmung der Verantwortung des FDGB und der Abgeordneten, die unser Mandat tragen, gehört, dass es niemandem gestattet sein darf, einer Leitung der Gewerkschaft wie einem Abgeordneten in seine Kompetenz reinzureden. Wir dürfen in der Interessenvertretung unserer Mitglieder und Wähler an nichts anderes gebunden sein als an die Verfassung der DDR. Jede diese Interessen der Werktätigen berührende Entscheidung der Volksvertretungen wie der Staatsorgane bzw. der staatlichen Leitungen in den Betrieben bedarf künftig der gewissenhaften Prüfung und der demokratischen und alternativen Suche nach besten Lösungen für die Menschen. Das gilt auch für die öffentliche Kontrolle zur Durchführung der gefassten Beschlüsse.
Wir brauchen bald ein wirksames Gesetz zur Regelung von Arbeitskonflikten, in dem die Rechte der Gewerkschaften erweitert werden, berechtigte Forderungen der Werktätigen ohne bürokratische Hemmnisse und lange Zeiträume durchzusetzen ohne Ansehen der Person. Wir stehen als Gewerkschaften auf dem Boden des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln und haben in dem Sinne der Doppelfunktion der Werktätigen als Miteigentümer und Arbeitnehmer gerecht zu werden. Auf dieser Grundlage fühlen sich die Gewerkschaften der Partei der Arbeiterklasse verbunden. Die Gewerkschaften bieten die unverzichtbare Möglichkeit für einen demokratischen Willensbildungsprozess in unserer Gesellschaft mit allen - ich betone: mit allen -‚ die auf dem Boden der Verfassung und des neuen Sozialismus stehen.
Die Fraktion des FDGB hat konkrete Schritte und Vorschläge für die weitere Arbeit beraten. Sie beinhalten die nun endlich erfolgte Einberufung der Volkskammertagung und die Wahl des neuen Präsidenten genauso wie die Unterstützung des Antrags zur Bildung eines Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik. Sie fordert die Bildung eines Umwelt- und Wissenschaftsausschusses bei der Volkskammer, und sie schließt sich dem Vorschlag an, den Ausschuss für Industrie, Bauwesen und Verkehr zu trennen. Sie wird sich dafür einsetzen, dass das Arbeitsgesetz gut überarbeitet, ein Gesetz zur Arbeiter- und Volkskontrolle und ein Rentengesetz erarbeitet sowie eine neue soziale Gesetzgebung geschaffen wird. Wir wollen dazu unseren eigenständigen Beitrag leisten, stellen aber die bisherige Praxis in Frage, lediglich Mitautoren von Entscheidungen, Entschlüssen und Gesetzen zu sein.
Diese Arbeit muss dort geleistet werden, wo die Verantwortung liegt. Wir sind bereit und fühlen uns verpflichtet, eigene Gedanken aus der Diskussion mit unseren Mitgliedern einzubringen, über vorliegende Entwürfe zu verhandeln sowie beschlossene Maßnahmen und Gesetze unter Kontrolle zu nehmen.
So weit einige erste Gedanken und Schlussfolgerungen. Die Kollegen werden uns schließlich danach beurteilen, wie wir es vermögen, sie schrittweise in die Praxis umzusetzen.
Ich bitte von der Tribüne der Volkskammer unsere Mitglieder, uns so viel Vertrauen entgegenzubringen, dass wir den festen Willen besitzen, die Erneuerung des Sozialismus mit allen Konsequenzen durchsetzen zu helfen. Dazu brauchen wir jeden einzelnen. Wir brauchen ihn hier in unserem Lande, und ich appelliere an unsere Kollegen, an die, die sich noch mit dem Gedanken an eine ständige Ausreise tragen: Bleibt hier! Gestalten wir gemeinsam den Sozialismus in unserem Lande so, dass er für alle lebenswert wird! Die FDGB-Fraktion hat den festen Willen, in der Volkskammer, dem Parlament der DDR, vor allem das Wort der arbeitenden Menschen stets unüberhörbar zum Ausdruck zu bringen.
Wir verlangen, dass die Arbeitsweise der Volkskammer von Grund auf verändert wird, damit wir tatsächlich das höchste Machtorgan unseres Landes werden.
Vielen Dank.
(Beifall)