Heilige Worte bald raus aus dem Gewerkschafts-Abc?
Zum Streit anregende, mutige Grundlage für die Diskussion
IG Druck und Papier: Bei Strukturveränderungen muss soziale Sicherheit der Kollegen gewährleistet sein.
Wettbewerb, Titelkampf, Wahlen - vor Wochen noch heilige Worte im Gewerkschafts-Abc waren Montag und Dienstag Spitzenreiter anderer Art: Kollegen der IG Druck und Papier kreuzten gerade dazu auf ihrer Zentralvorstandstagung die Klingen. Auseinandersetzungen ebenso zum Thema Streik. Für all das gab Vorsitzen der Werner Peplowski eine recht klare, zum Streit anregende, mutige Grundlage. "Was erwarten unsere Kollegen von uns?", stellte er als Ausgangsfrage. Eine Industriegewerkschaft im und nicht des FDGB wird verlangt. Unabhängigkeit von der Partei. Keine Kumpanei mit staatlichen Leitern. Und erst, wenn alle bisherigen Fehler auf gedeckt und gründlich analysiert worden sind, solle man die Frage stellen, wer ist der Beste von uns an der entsprechenden Stelle.
Wenn man auch fernab von Berlin tagte, im Weiterbildungsobjekt Lychen, es gab zumindest viel Zeit und Ruhe zum überlegen. Unter dem Strich kam heraus, was der IG Druck und Papier künftig ein wirklich neues, interessantes Gesicht geben könnte. Da es Bestrebungen gibt, wie deutlich wurde, an den Volkskammerfraktionen der Gewerkschaft, der FDJ und anderer gesellschaftlicher Organisationen zu rütteln, (parlamentarische Arbeit solle künftig möglicherweise nur noch den Parteien vorbehalten sein), fassten die Gewerkschafter recht weitreichende Forderungen zusammen. Da ist von einem neuen Arbeitsgesetzbuch die Rede, einem Sozialgesetz, Rentengesetz, Gesetz zur Lösung von Arbeitsstreitigkeiten, auch zum Streik sehr deutliche Standpunkte. Man solle dazu Alternativen suchen, aber der Streik habe eine lange Tradition in der deutschen Arbeiterbewegung und bleibe ein letztes Mittel für den Kampf der Arbeitnehmer.
Die DDR, so der IG-Vorsitzende, gehöre zu den wenigen Ländern in Europa ohne Streikgesetz. Mit der Eigenständigkeit Betriebe hängen weitere wichtige Grundfragen der Gewerkschaften zusammen. Sie liegen vor allem in der Tarif- und Finanzhoheit, in den Kompetenzen der Interessenvertretung, der Rechenschaftspflicht der Minister. In Frage gestellt seien der sozialistische Wettbewerb, der Kampf um den Titel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit", die Informationspflicht der BGL-Vorsitzenden gegenüber übergeordneten Organen. Werner Peplowski schlug vor, die FDGB-Vorstände im Territorium bis hin zum Bundesvorstand wesentlich zu reduzieren, Gewerkschaftsleitungen der Kombinate abzubauen.
In den Mittelpunkt der Diskussion rücken mehr und mehr der soziale Status, der Schutz der BGL-Mitglieder. Das gehe hin bis zum materiellen Anreiz, "so dass es eine Lust und Freude ist, BGLer zu sein. Zur Zeit bekommt er die meiste Dresche. Das ist seine einzige Lust und Freude." Die meisten BGL-Vorsitzenden fühlen sich von ihren Vorständen allein gelassen, so der Tenor.
Weiteres Thema der ZV-Tagung: die Wirtschaftsreform. Sie ergab unter anderem, dass die Gewerkschaft nicht mehr die Verantwortung für die Ökonomie mit trägt, beispielsweise durch Entfaltung der Initiativen. Entscheidende Frage sei: Was geschieht mit dem erwirtschafteten Gewinn, wie und mit welchem Recht können die Gewerkschaften ihn mit verteilen, sozusagen ein Stück vom Kuchen für die sozialen Belange und Arbeits- und Lebensbedingungen der Kollegen abschneiden. Die 40-Stunden-Woche sei kein Ziel von heute, aber bereits Mitte der 70er Jahre formuliert und seitdem immer vor uns hergeschoben. Deshalb müsse man sie im Auge behalten, verbunden mit derzeit aktuellen Fragen.
Zum Abschluss kamen die Leiter der einzelnen Arbeitsgruppen zu Wort. Ihre Ergebnisse - teils identisch mit dem im Referat Genannten, teils unterschiedlich. Vom Abbau der FDGB-Vorstände bis zum Streichen aller Genossen aus den Wahllisten der Gewerkschaften gingen die Vorschläge. Streik wurde von der Mehrheit abgelehnt. Bis zur Wirtschaftsreform soll die Gewerkschaft Forderungen formulieren, die die soziale Sicherheit bei Strukturveränderungen gewährleisten. Erste, zum Teil interessante Konturen zeichnen sich ab. In einem zusammenfassenden sogenannten Positionspapier will man sich in Kürze an alle Mitglieder der IG wenden.
Peter Kirnich
Tribüne, Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Mi. 22.11.1989
Durch eine stark komprimierte Wiedergabe der Diskussion auf der Zentralvorstandstagung der IG Druck und Papier entstand im Beitrag auf der Seite 3 vom 22. November unter der Überschrift "Heilige Worte bald raus aus dem Gewerkschafts-Abc?" ein missverständlicher Zusammenhang. Keine Forderung unserer Gewerkschaftsmitglieder ging bis dahin, alle Genossen der SED von den Wahllisten der Gewerkschaften zu streichen. Es wurde im Gegenteil die Befürchtung geäußert, dass es gegenwärtig auch die Tendenz gibt, Genossen der SED ohne Berücksichtigung ihres oft selbstlosen persönlichen Einsatzes für die Wahrung der Interessen der Werktätigen zu streichen.
Zentralvorstand der IG Druck und Papier
Tribüne, Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Do. 23.11.1989