Millionen stehen dafür ein

Von HELGA MAUSCH

Als das Gesetz über die Rechte der Gewerkschaften der DDR am 12. März 1990 mit seiner Veröffentlichung im Gesetzblatt nach Verabschiedung durch die Volkskammer in Kraft trat, waren Freund und Gegner schon fest in ihren Startpositionen, um sich pro und kontra zu mehr gewerkschaftlichen Rechten zu äußern.

Für das Gewerkschaftsgesetz spricht, dass seine Entstehung das Ergebnis der entschiedenen, entschlossenen Forderung unzähliger Gewerkschaftsmitglieder sowie ehren- und hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre der Basis war. Mit einer für unsere stürmischen Zeiten schon seltenen Einmütigkeit kam in der Forderung nach einem Gewerkschaftsgesetz der Wille für den Erhalt starker einheitlicher Gewerkschaften, für die Garantie ihrer freien unabhängigen Betätigung zum Ausdruck.

Für das Gewerkschaftgesetz spricht weiter, dass Millionen Gewerkschafter bereit und entschlossen waren, die Verabschiedung "ihres" Gesetzes in jedem Fall, gegebenenfalls mit Kampfmaßnahmen zu erzwingen. Auf dem außerordentlichen Gewerkschaftskongress am 31. Januar und 1. Februar 1990 wurde das mit allem Ernst zur Sprache gebracht und in den darauffolgenden Tagen mit zustimmenden und protestierenden (letztere wegen der Verzögerung in der Behandlung durch die Volkskammer) Anrufen, Briefen, Telegrammen und Fernschreiben bekräftigt. Rund 10 000 Vorschläge und über eine Million Unterschriften für das Gewerkschaftsgesetz stehen zu Buche.

Und für das Gewerkschaftsgesetz als Teil grundsätzlicher Feststellungen spricht, dass das von der Volkskammer durchaus kontrovers behandelte und von den Gewerkschaften in einem keineswegs leichten Kampf erhandelte Gesetz weitgehend den Wünschen und Vorstellungen, den Hoffnungen von über acht Millionen Gewerkschaftsmitgliedern sowie ihren Vertretern in den Grundorganisationen und Vorständen entspricht.

Ein letzter grundsätzlicher Gedanke. Bei allen Einwänden und Bedenken gegenüber einzelnen Bestimmungen des Gesetzes haben uns viele Gewerkschafter der Bundesrepublik und führende Vertreter des DGB zum Zustandekommen beglückwünscht, das Gesetz als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnet und das Erreichen eines Aussperrungsverbots als einen ihnen bisher verschlossen gebliebenen Erfolg verbucht.

Im und mit dem Gewerkschaftsgesetz aufbauend auf Artikel 44 (Neufassung) der Verfassung der DDR - ist die Unabhängigkeit aller Gewerkschaften in unserem Land von jeglichen staatlichen oder Parteizwängen dokumentiert. Gewerkschaften wollen und können nie wieder verlängerter Arm einer Partei, Bindeglied zwischen Partei und Massen, oder wie man auch immer die unselige Vergangenheit auf diesem Gebiet bezeichnen möchte, sein. Diese Regelung ist unseres Erachtens so klar, so deutlich, so fundamental, dass es einer näheren Erörterung eigentlich nicht bedarf.

Dennoch soll es um einen unmittelbar damit zusammenhängenden Gedanken ergänzt werden. Es gehört mit zur Befreiung der Gewerkschaften von allen äußeren und inneren Zwangen, dass jede Einzelgewerkschaft Tarifhoheit besitzt, ihre Tarifautonomie gewährleistet ist.

Alle gegenwärtig bestehenden und sich weiter herausbildenden Industriegewerkschaften und Gewerkschaften handeln die über Fragen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen zu treffende Vereinbarungen mit ihren Tarifpartnern aus, ohne dass staatlicher- oder gewerkschaftlicherseits "von oben" in irgendeiner Weise hereingeredet werden darf. Jede Gewerkschaft geht dabei von ihren eigenen Mitteln und Möglichkeiten aus und strebt nach der günstigsten Lösung für die Werktätigen in ihrem Zuständigkeitsbereich.

Auf der "Habenseite" des Gesetzes in den Augen zahlloser Gewerkschaftsmitglieder steht ganz eindeutig das Streikrecht, direkt verbunden mit dem Verbot jeglicher Form der Aussperrung. Unter den Bedingungen einer Marktwirtschaft, wie sie jetzt auf die Bürger unseres Landes zukommt, ist die Gewährleistung des Streikrechts, verbunden mit dem Aussperrungsverbot, bereits in der Verfassung und im Gleichklang auch im Gewerkschaftsgesetz für Arbeitnehmer von einem Wert, der sich - wenn auch hoffentlich noch nicht zu bald und nicht zu oft - in der Praxis beweisen wird. Jedes "Kontra" der Kapitalseite, jeder Versuch vor allem bestimmter westdeutscher Politiker, gegen diese Bestimmungen zu polemisieren, lässt für die Gewerkschaften das "Pro" in desto hellerem Licht erscheinen. Dass über bestimmte Modifizierungen auch dieser Regelung diskutiert und nachgedacht werden kann, ist eine ganz andere Frage.

Es ist mit dem Gewerkschaftsgesetz gelungen, gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte im Betrieb zu gewährleisten, und zwar für alle Fragen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen betreffen. Im Gesetz wurde ganz bewusst darauf verzichtet, diese Mitbestimmungsrechte weiter auszugestalten. Und es wurde auch nicht im einzelnen gesagt, wer konkret diese Rechte wahrnimmt. Damit ist Raum gegeben, möglicherweise über andere, bisher noch nicht gesetzlich verankerte Formen gewerkschaftliche Mitbestimmung auszuüben.

Denkbar wäre z. B., dass mit starken betrieblichen Grundorganisationen der Gewerkschaften eine umfassende Interessenvertretung durch die Betriebsräte gesichert wird.

Schließlich sind weitreichende Rechte, Schutzfunktionen für die betrieblichen Gewerkschaftsvertreter sowie materiell-sachliche Voraussetzungen für ihre Arbeit ein gewichtiges Pfand besserer Interessenvertretung.

Insgesamt muss man bei der Diskussion über Pro und Kontra zum Gewerkschaftsgesetz davon ausgehen, dass dieses Gesetz unter ganz konkreten Bedingungen, unter denen sich die Gewerkschaften auf die Marktwirtschaft einzustellen hatten, zustande gekommen ist. Inzwischen ist die Entwicklung, wie jeder weiß, in raschem Tempo vorangegangen, und es wird notwendig sein, gewerkschaftliche Rechte und Mitbestimmung in weitere Gesetzeswerke einzuordnen, so z. B. in das Betriebsverfassungsgesetz, Personalvertretungsgesetz sowie bei der Änderung des Arbeitsgesetzbuches und der neuen Verfassung.

In der Endkonsequenz geht es uns darum, mehr gewerkschaftliche Rechte, als sie in der BRD vorhanden sind, zu sichern bzw. Eigenes einzubringen. Wir sind der Auffassung, dass die von unseren Mitgliedern geforderten sozialen Komponenten unbedingt in eine Wirtschafts- und Währungsreform gehören. Das Gewerkschaftsgesetz bietet uns die Möglichkeit, gemeinsam mit dem DGB für ein gesamtdeutsches Aussperrungsverbot zu kämpfen.

Berliner Zeitung, Nr. 79, Di. 03.04.1990

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