Frauen an der Spitze
Mit Charme und Kompetenz
BZA-Gespräch mit Annelis Kimmel, Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Berlin
• Das Türschild verspricht Vorsitzender . . .
Nicht nur Worte hinken mitunter der Wirklichkeit hinterher.
• Der Don Quichotte da auf Ihrem Fernseher bringt mich auf eine häufig gestellte Frage: Warum ist der FDGB immer "für"?
Weil uns eigentlich nichts besseres passieren kann, als sich die Arbeiterpartei auf die Fahnen schrieb mit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Aber ich weiß, worauf Sie hinauswollen: Das besagt nicht, wir müssten uni im Alltag nicht Rechte erstreiten, gegen Missstände durchsetzen! Von wegen Kampf gegen Windmühlenflügel - nichts da: Diejenigen, die Verantwortung tragen (und dafür bezahlt werden), dazu bringen, dass sie es auch tun in vollem Umfang. Das ist Interessenvertretung heute: da hagelt es Kritik, wenn's beispielsweise um Arbeits- und Lebensbedingungen geht - wie nehmen in die Pflicht, bis zum Betriebsleiter.
• Lassen Sie sich Elfenbeinturm-Mentalität nachsagen? Wie oft gehen Sie raus zu Arbeitern, in Kollektive?
Mindestens zweimal pro Woche - bitte, hier ist mein Terminkalender. Übrigens ein Anspruch an jeden unserer Gewerkschaftsfunktionäre - wenn auch Kontrolle zum Vertrauen dazugehört. Also ich stehe sehr wohl auf dem Boden der Tatsachen.
• Haben wir nicht, krieg wir nicht - Fehlendes kann sich auch die Gewerkschaft nicht aus den Rippen schneiden.
Richtig. Aber hier landet oft zweierlei in einem Topf: Gedankenlosigkeit und Unflexibilität. Kürzlich in Elektromechanik Kaulsdorf zum Beispiel - verlangt einer Garderobenhaken und Hubwagen. Schreib' ich auf, meint der Chef. Wieso, werfe ich ein. Schaff die Haken ran und ich dübel sie dir ein auf der Stelle - ohne Protokoll! Längst überfällig! Was die Hubwagen betrifft: klipp und klar - es gibt keine. Da kannst du noch so viel aufschreiben, fordern, warten. Also lasst uns nachdenken, wie wir euren Rationalisierungsmittelbau anschieben. Wozu Illusionen wecken Wir müssen uns selbst helfen.
• Klingt hart, wo bleibt denn da der weibliche Charme?
Wer sich nur darauf verlässt, ist verlassen. Als Zutat fachlicher Kompetenz - mir hilft noch heute mein Ingenieurstudium - und politischer Glaubwürdigkeit - bitte. Wer hat, der hat - und nutze.
• Verlässt Sie manchmal diese Gelassenheit?
Doch. Wenn etliche am Tor auf mich warten mit Blumen - haben die nichts zu tun sonst? Oder was ich überhaupt nicht leiden kann: als "ganz hoher" Besuch angekündigt zu werden; da brauche ich erst eine Viertelstunde, ehe die Kollegen ungeschminkt reden.
• Unbequeme Fragen inclusive?
Wer sagt denn, ich wollte es bequem haben?
• Wie muss man beschaffen sein, um da standzuhalten?
Ich zähle auf Offenheit - sagen, was zu sagen ist. Direktheit - klare Positionen akzeptieren, auch widersprechende Gedanken. Und noch etwas: Schärfe in der Auseinandersetzung schließt Kameradschaftlichkeit ein.
• Ist das "typisch Frau" an Ihrem Stil?
Gibt es das überhaupt?
• Stimmt das eigentlich: Eine Frau muss doppelt so gut sein wie männliche Konkurrenten, um als Leiter akzeptiert zu werden?
Machen wir uns nichts vor: Sicher wird mehr geguckt - noch immer ein AHA-Erlebnis, wenn sie es schafft. AHA, als Frau, sieh mal an. Aber unter Meistern, Abteilungsleitern kamen wir voran, wenn auch keineswegs genug.
• Aber in Spitzenfunktionen wie Ihrer sind Frauen nicht dicht gesät. Warum?
Vorbehalte mögen hemmen, andererseits bleibt wohl frommer Wunsch, die Mutter zweier Kleinkinder zum Generaldirektor zu machen. Soziale Errungenschaften wie das Mütterjahr bergen jedoch die Chance, zugleich notwendige Qualifizierung zu schaffen. Beispiele gibt es. Doch Sie haben recht: Wir bräuchten mehr Spitzenfrauen.
• Was dass? Ewiges Vorbereiten bringt nicht aus des Startlöchern, im Gegenteil: verpatzt mitunter den Start.
Da liegt der Hase im Pfeffer. Wen man entwickeln will, der- oder diejenige muss sich probieren können. Verantwortung tragen. Entweder man kann leiten oder nicht - egal, ob Mann oder Frau. Mit Vorbereiten auf den Fall der Fälle aber kriegt das keiner raus - Schwimmen lernt sich ja auch- nicht auf dem Trockenen.
• Also ins Wasser, nun mach mal?
Für genügend Luft sorgen! Freischwimmen allein.
• Theoretisch überzeugend, aber . . .
Dann zur Praxis der Berliner Gewerkschaftsorganisation - der Bereich also, den ich konkret mitverantworte: über die Hälfte Frauen, ebenso in allen Wahlfunktionen. Auch im Sekretariat des Bezirksvorstandes! Ja ich weiß, das ist nicht überall so.
• Wie kamen eigentlich Sie in Ihre Funktion?
Bei NARVA hieß es eines Tages: übernimm das! Was denn, ich? Das kann ich nicht! Ist jetzt zehn Jahre her . . . Vielleicht brauchte ich damals wie viele den Schubser, mir was zuzutrauen. Gesunder Zweifel an sich selbst, der einen nicht abheben lässt, aber auch unter Erfolgsdruck setzt.
• Und wie kamen Ihre drei Kinder damit klar?
Du warst immer da meinen sie, jetzt alle um die 30. Überraschend, wie? Vielleicht zählt weniger, wie viel Zeit man miteinander verbringt, als was man daraus macht. Fixpunkte wie Frühstück, Wochenende. Gefühl für Zeit schließt für mich ein das Gespür, wann aufzuhören ist: In fünf Jahren will ich ganz normal in Rente. Dann kommt die Zeit der Enkel! Aber gerade heute verschwende ich daran noch keinen Gedanken.
• Was bewegt Sie derzeit besonders?
Schade, dass wir junge Menschen nicht bewahren konnten vor dem Schritt in den Westen. So jagen viele Illusionen nach. Deshalb müssen wir gerade mit Jugendlichen offen reden, mehr noch aber sie einbeziehen in Mitverantwortung, ins Besser-Machen.
Dass die Gewerkschaft manchmal Feuerwehr spielt: Entscheidungen zuwege bringt, die eigentlich Sache staatlicher Leiter sind. Beispiel Radialwellendichtringe. Zugfedern gehören da rein, aber im VEB Metallmöbel ging ein Automat kaputt - da lieferten sie dem Gummikombinat nicht mal mehr die Hälfte. Ein Skandal bahnte sich an - die Ringe stecken in Elektromotoren, Recordern Kühlschränken, Autos . . . Winzige Pfennigartikel - so banal es klingt, so groß ist die politische Auswirkung.
Dass wir mit dem Leistungsprinzip vorankommen müssen. Liegt's wirklich nur daran, dass dem staatlichen Leiter Rückgrat fehlt? Oder ließen wir nicht auch ungenügend Bewegungsfreiheit für den einzelnen Meister, Abteilungsleiter, vor allem, wo es Kollektivlöhne gibt? Heftig diskutiert wird, wie gute Leistung besser, schlechte Leistung entsprechend niedriger honoriert werden kann.
• Vergangenes Jahr standen Werksküchen im Brennpunkt der Kritik.
86 kurz vor dem Zumachen. Verbissen kämpften alle, wieder rauszukommen aus dem Hygiene-Tief, in 23 ist leider noch immer viel zu tun. Auch an Industriedächern, 78 Objekte sind bisher von oben dichtgemacht. Seit November 1988 bleiben wir gemeinsam mit dem Magistrat an harten Fällen dran.
• Wie viel Vorschläge bringt eine PIandiskussion in Berlin?
Etwa 50 000.
• Sie sprechen zu all dieses Problemen oft auf Konferenzen. Wer schreibt eigentlich die Reden?
Ich, von Hand. Natürlich mit Zuarbeiten, aber seit Jahren ohne persönlichen Referenten; ich muss nun mal selbst die Worte finden, die ich sprechen soll. Reden - aber vor allem tun.
Gemeinsam etwas bewegen
Übrigens war der Beitrag schon länger geplant für diesen Tag, als Auftakt einer Reihe von Frauen-Porträts.
Ich lernte Annelis Kimmel als engagierte Kollegin kennen, die mit Sachkenntnis und wachem Verstand ihre Aufgaben wahrnimmt. Sie weiß, was sie will, sie tut, was sie kann mit vollem Einsatz.
Wenn Annelis Kimmel in die Kollektive geht, weil sie sich auch unbequemen Fragen stellt, wie es im Gespräch gesagt wurde, lässt sich manches an Ort und Stelle und sofort klären. Vieles kann ganz praktisch in die Wege geleitet werden. Über alles aber lässt sich reden - auf dem Boden unserer Tatsachen. Sozialistische, sehr reale, mit Vorzügen, aber auch Mängeln.
Oft hört auch sie: Nachdem wir offen über Anstehendes reden, fragen wir uns, wo bleiben konkrete Schritte? Die Frage lässt sich zurückgeben, denn: Wenn wir diese Schritte nicht gemeinsam gehen - ein anderer tut es doch für uns nicht. Wie Annelis Kimmel auch gern den Direktor vom Leipziger Kombinat Polygraph zitiert Wer verändern will, muss sich selbst zuerst verändern.
Aufgezeichnet von:
Anne C. Losensky
BZ am Abend Sa. 14.10.1989