Zum 14. Ordentlichen Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg

Arbeitslosigkeit darf keine Alternative sein

"Tribüne" sprach mit Gerd Muhr, stellvertretender DGB-Vorsitzender

• Vom 20. bis 26. Mai tagt in Hamburg der 14. Ordentliche Bundeskongress des DGB. Nun hat du Tempo der deutsch-deutschen Entwicklung auch für seine Vorbereitung überraschende Akzente gesetzt.Und alles scheint darauf hinauszulaufen, dass der DGB in gar nicht allzu ferner Zukunft Dachverband der Gewerkschaften in ganz Deutschland sein wird. Welchen Platz wird dieses Thema in Hamburg bekommen?

Es stimmt, dass hier eine neue Lage entstanden ist, die bei den notwendigerweise langfristigen Vorbereitungen einer solchen Beratung nicht berücksichtigt werden konnte. Das zeigen auch der vorliegende Geschäftsbericht und die Kongressanträge.

Aber ich kann für meinen Bereich, also die gesamte Sozialpolitik, feststellen, dass wir natürlich umfassend darauf reagieren werden. Da gibt es überall erhebliche Berührungspunkte. Und ich bin sicher, das gilt ebenso für andere Bereiche - wie Wirtschafts- oder Organisationspolitik. Außerdem wird das Thema ganz bestimmt in der Diskussion eine wesentliche Rolle spielen.

• Gerade was die Sozialpolitik angeht, gibt es in der DDR erhebliche Ungewissheiten. Zum Beispiel hinsichtlich der schrittweisen Übernahme der Sozialversicherung. Ist es zutreffend, dass dadurch im Prinzip mit sinkenden Nettoeinkommen zu rechnen ist?

Wenn die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang eingeführt werden, dann entsteht eine Lohnbelastung, die etwa bei 17 oder 18 Prozent liegt. Sie ist also höher als bisher in der DDR. Somit wäre in der Tat selbst bei 1:1 die Nettovergleichbarkeit sehr in Frage gestellt.

• Würde sich die für 1. Januar 1991 vorgesehene Einführung des bundesdeutschen Steuersystems zusätzlich In dieser Richtung auswirken?

Inwieweit dies zutrifft, muss ich mit einem Fragezeichen versehen. Zumindest bei einer Anwendung unserer Lohn- und Einkommenssteuertabelle würde - beim gegenwärtigen Niveau die Masse der Löhne in der DDR nicht oder nur kaum von der Lohnsteuer erfasst werden.

Wieder anders ist es mit der Besteuerung täglicher Bedarfsgüter. Das Mehrwertsteuersystem wird in die Preise eingehen. Es wird also hauptsächlich vom Konsumenten getragen. Somit ginge es dabei um die Stabilität der Realeinkommen. Auf Jeden Fall ist Vorsicht bei solchen unabgefederten Übernahmen immer angebracht.

• Es geht auch um eine gegliederte Krankenversicherung. Könntest du erklären, warum der DGB sich dagegen ausspricht?

Bei uns hat sich dieses System im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auseinanderentwickelt. Es hat für bestimmte Bereiche Privilegen gebracht, die anderen Versicherten vorenthalten werden. In besonders gut strukturierten Krankenversicherungen zahlen - zu gleichen Teilen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer heute noch niedrige Beiträge von ungefähr acht Prozent. Wer dieses Glück nicht hat, kann bis zu 16 Prozent zahlen.

• Lässt sich allgemein sagen, wer in der Regel benachteiligt wird?

Es ist so, dass die medizinischen Leistungen 90 Prozent der Kosten der Krankenversicherungen ausmachen. Die finanziellen Leistungen sind gering. Wir haben ja Lohnfortzahlung durch die Arbeitgeber. Aber die Sachleistungen, also diese 90 Prozent, machen keinen Unterschied zwischen hohen und niedrigen Einkommen. Sie belasten somit weniger Verdienende deutlich mehr. Im Nachteil sind in der Regel Gebiete mit niedrigen Grundlöhnen infolge der bestehenden Wirtschaftsstrukturen.

• Was bedeutet das konkret?

Wir können hier in der Bundesrepublik die Probe aufs Exempel machen. Wir werden keinen einzigen Betrieb finden, der einem niedrigen Lohnbereich angehört und trotzdem eine Betriebskrankenkasse hat. Die lohnen sich nur, wenn die Einkommen, die der Beitragskassierung unterliegen, möglichst hoch sind. Wir finden solche Kassen auch nicht in Betrieben, die Überwiegend oder ausschließlich Frauen beschäftigen. Da ist den Arbeitgebern das Risiko zu hoch. Diese Bereiche lassen sie lieber die Allgemeinen Ortskrankenkassen versichern mit der Folge, dass dort im Durchschnitt wesentlich höhere Beiträge erforderlich sind. Ähnliches gilt für die Ersatzkassen, die ihre Kunden entsprechend den Risiken genauso aussuchen. Und hinzu kommt noch, das Angestellte wählen können, wo sie sich versichern lassen, sich also für die jeweils günstigste Kasse entscheiden können.

• Auf den Punkt gebracht, heißt dies also, diejenigen, die ohnehin schlechter gestellt sind, oder bestimmte Minderheiten, sind die Leidtragenden.

Ja. Und dies wird sich, sollte es einmal so in die DDR kommen, mit Sicherheit noch negativer auswirken. Es muss ja davon ausgegangen werden, dass zumindest in einer Übergangszeit die Lohnunterschiede noch größer sein werden.

Ich möchte hinzufügen. Es läuft bei uns zur Zeit beim Bundesverfassungsgericht eine Anklage, mit der ein Versicherter, dem eine Ortskrankenkasse 16 Prozent Beitrag auflegt, um Klärung ersucht, ob das ganze System nicht bereits verfassungswidrig ist. Hätte diese Klage, die sich auf das Gleichheitsprinzip beruft, keinerlei Erfolgsaussichten, wäre sie von vornherein abgewiesen worden. Es könnte also passieren, dass ein System, das dem Grundgesetz der Bundesrepublik nicht standhält. der DDR übergestülpt wird. Das wäre kein Segen, sondern ein enormer Nachteil.

• Zu einem anderen Aspekt: Vom DGB wird kritisiert, dass der Staatsvertrag alle Chancen ausschließt, bessere Mitbestimmungsregelungen zu erreichen. War eine derartige Hoffnung überhaupt realistisch?

Ehrlich gesagt, habe ich mir nie die Illusion gemacht, es könnte gewissermaßen auf dem Umweg des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands gelingen, jetzt Dinge durchzusetzen, die wir schon jahrelang bei der Bonner Regierung erfolglos durchsetzen wollen.

Wir könnten uns allerdings ein besseres Betriebsverfassungsgesetz vorstellen. Dafür liegt sogar schon seit Jahren ein Entwurf vor. Es geht unter anderem darum, dass die moderne technische Entwicklung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte begleitet wird. Und dies wäre ja gerade wegen der in der DDR zu erwartenden Veränderungen sehr wichtig.

• Ist es überhaupt richtig, wenn - unter Berücksichtigung aller Fakten jetzt im Staatsvertrag von der Einheit zwischen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion geredet wird?

Fest steht, dass die Vollendung der Sozialunion wesentlich länger dauern wird. Die Währungsunion erfolgt ja gewissermaßen mit einem Schnitt, dem Umtausch der Gelder und Bankguthaben. Ebenso wird die Wirtschaftsunion eine ganze Weile länger brauchen.

Und darauf muss man sich einstellen. Es bedarf unbedingt einer Reihe von Übergangsregelungen und -bestimmungen, die sozial abfedern. Sie sind im Staatsvertrag noch immer nicht ausreichend.

Viele haben damit gerechnet, dass es gerade in dieser Zeit möglicherweise in der Metallbranche oder bei den Druckern zu Arbeitskämpfen kommt. Nun wurden überraschend schnell Kompromisse in den Tarifverhandlungen gefunden. Verliert dadurch der Kongress nicht ein bisschen die Spannung?

Ich glaube das nicht. Das wäre ja sowieso nur mehr oder weniger Zufall gewesen. Sicher hätte es für den Bundeskongress anderen Anlass gegeben, sich mit den aktuellen Fragen zu beschäftigen. Aber die Tatsache, dass die Tarifrunden abgeschlossen sind, und das mit Erfolg, wird den Kongress eher motivieren und ihm erlauben, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die grundsätzlich auf der Tagesordnung stehen.

• Überall wird in der Bundesrepublik von guter Konjunktur gesprochen. Durch die DDR soll sie weiteren Auftrieb bekommen. In den Vorbereitungsdokumenten des DGB-Kongresses aber kann von Massenarbeitslosigkeit, neuer Armut, Sozialabbau oder Zwei-Drittel-Gesellschaft gelesen werden. Im DDR-Wahlkampf wurde Leuten, die so was behaupteten, Angstpropaganda vorgeworfen. Macht der DGB Angstpropaganda?

Nein. Eines ist für uns unverkennbar. Auch eine florierende Wirtschaft produziert nicht automatisch sozial erträgliche Zustände. Sie hat bei uns nicht dazu geführt, dass der soziale Bereich so abgesichert ist, wie wir uns das vorstellen.

Es gibt die neue Armut, vor allem bei den Langzeitarbeitslosen. Nicht nur der Gesamtumfang der Arbeitslosigkeit, die jetzt wieder unter zwei Millionen liegt, charakterisiert dieses Problem. Ein Drittel der Betroffenen ist ein Jahr und länger ohne Beschäftigung. Und ihre Chancen nehmen immer mehr ab. Und es gibt noch weitere soziale Missstände. Pauschal haben wir deshalb den Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft geprägt. Ein Teil ihrer Mitglieder kann eben nicht mithalten oder wird vom System ausgestoßen.

• Auch für die DDR wird hohe Arbeitslosigkeit prophezeit. Es gibt Schätzungen von rund einer bis zu über vier Millionen Betroffenen. Hat der DGB Untersuchungen dazu angestellt?

Ich lehne es ab, solche Zahlen in die Welt zu setzen. Es sind teilweise Horrorzahlen, und wir können nur hoffen, dass sie so nicht eintreten.

Was wir wirklich tun müssen - und dafür gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe von Einrichtungen, die hilfreich sein können - ist, die Qualifikation der Arbeitnehmer in der DDR an die Bedingungen moderneren Wirtschaftens anzupassen. Wir dürfen nicht zulassen. dass die Arbeitslosigkeit die Alternativ wird. Die Alternative muss lauten, schnell wie möglich Weiterbildungsprozesse zu übernehmen.

• Mich erinnert der deutsch-deutsche Einigungsprozess ein wenig an die Diskussion über den EG-Binnenmarkt. Der DGB fordert hier ein "Europa der Arbeitnehmer", nicht der Konzerne. Droht nicht ein "Deutschland der Konzerne" zu entstehen?

In der politischen Auseinandersetzung sind solche Schlagworte nötig. Sie machen einfach deutlich, was die eigentliche Problematik, die eigentliche Gefahr ist. Aber konkret brauchen wir daneben Gewerkschaften, die stark genug sind, zu verhindern, dass die Konzerne allein das Sagen haben, dass die Arbeitnehmer zu ihrem Recht kommen.

(Das Interview führte
Michael Bolz)

Lexikon
Am 14. Ordentlichen Bundeskongress des DGB in Hamburg nehmen insgesamt 525 Delegierte teil, die rund 7,8 Millionen Gewerkschaftsmitglieder vertreten. Sie sind in 16 Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes vereint. So entsenden z. B. die IG Metall 180, die ÖTV 82, die IG Bergbau 24 oder die Gewerkschaft Leder drei Teilnehmer.

Etwa 320 Anträge liegen bereits jetzt dem Kongress vor. Diese Zahl kann durch Initiativanträge noch deutlich zunehmen. Über 15 Anträge betreffen die Satzung, die seit 1971 nur unwesentlich geändert wurde. Für Satzungsänderungen ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig.

Aus Altersgründen wird Ernst Breit nicht mehr für die Funktion des DGB-Vorsitzende kandidieren. Das trifft ebenso für seine beiden Stellvertreter sowie ein Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes zu, der außerdem infolge einer Strukturreform von sechs auf fünf Vertreter reduziert wird. Aussichtsreichster Kandidat für den Vorsitz ist Heinz-Werner Meyer (bisher IG Bergbau).

Tribüne, Nr. 95, Fr. 18.05.1990

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