Junge-Welt-Gespräch mit Konrad Weiß,
Filmemacher und Sprecher der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt"
Die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" hält gegenwärtig ihr dreitägiges "1. Vertreter-Parlament" im Speisesaal des VEB Stern-Radio in Berlin-Weißensee ab. Im Spätsommer '89 war sie als dritte oppositionelle Vereinigung mit ihren programmatischen Thesen "Demokratie Jetzt", die ihr dann auch den Namen gaben, an die Öffentlichkeit getreten. Inzwischen ist sie am Runden Tisch präsent, den sie vorgeschlagen hatte. Einer ihrer Sprecher dort ist der Filmregisseur Konrad Weiß.
Soll "Demokratie Jetzt" zur Partei werden?
Unsere Absicht bei der Entstehung war, einen Beitrag zum Lernen von Demokratie zu leisten. Dafür sind Bürgerbewegungen besser geeignet als Parteien.
Aber wenn man politische Verantwortung übernehmen will, muss man auch bestimmte Verbindlichkeiten schaffen. Und die sind mit einer Partei, die Statut und Programm hat, leichter für die Kandidaten festzulegen als in einer Bürgerbewegung, die viel unverbindlicher ist, weil eben offen für jeden.
Stimmt. Deshalb meine ich zwar, dass Bürgerbewegungen viel unmittelbarer reagieren können auf das, was an Problemen im Volk da ist, dass wir aber gegenwärtig auf das Parteienmodell zurückgreifen müssen. Das zeigen die Diskussionen um das neue Wahlgesetz ganz deutlich. Wenn dieses nämlich politische Vereinigungen ausschließt, dann wären zum Beispiel das Neue Forum, "Demokratie Jetzt" und die "Initiative für Frieden und Menschenrechte" in der Volkskammer nicht vertreten.
Am Runden Tisch sitzen etablierte Parteien und die Opposition. Letztere spricht den bestehenden gewühlten Gremien die Legitimation ab. Aber sind denn die Bürgerbewegungen und oppositionellen Gruppen und Parteien im Grunde nicht auch bar einer Legitimation? Sie wurden nicht gewählt und haben meist nicht einmal Vorstellungen, wie groß ihre Anhängerschaft im Lande ist. Können Sie annähernd sagen, wie viel Menschen Sie vertreten?
Nein. Unsere bisherige Legitimation ist in der Tat sehr schmal. Das 1. Vertreter-Parlament wird das korrigieren. Zu den Zahlen kann ich keine konkreten Angaben machen, ich weiß nur, dass es viele Gruppen gibt, die im Sinne der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" im Lande arbeiten. Das sind Gruppen von sechs bis zehn oder von 40 bis 70 Menschen. Aber wir sind nicht flächendeckend vertreten.
Ist "Demokratie Jetzt" bereit, künftig Verantwortung in diesem Lande zu übernehmen und sich nicht nur auf kritische Begleitung der Obrigkeit zu beschränken?
Wir haben ja schon Pflichten übernommen, indem wir am Runden Tisch teilnehmen. Das ist aktive politische Arbeit. Und wir sitzen nicht nur am Tisch, sondern wirken in den 14 Ausschüssen. Da geschieht sehr viel, auch wenn das in der Öffentlichkeit nicht so bewusst wird. Ich selbst habe in dem Ausschuss mitgearbeitet, in dem es um das Mediengesetz ging. Dort hat die Opposition die konstruktivsten Beiträge eingebracht.
Gegenwärtig greift die Stimmung einer "Wiedervereinigung" immer mehr Raum, und diese scheint mit der illusionären Vorstellung verknüpft wenn man morgen Bundesland würde, hätte jeder übermorgen einen Mercedes, und am Wochenende ginge es ab nach Mallorca.
"Demokratie Jetzt" hat sich in einem Drei-Stufen-Plan ganz klar für die deutsche Einheit ausgesprochen, aber gegen jede Form einer Wiedervereinigung Position bezogen. Wir können nicht außer acht lassen, dass weder die BRD noch die DDR volle Souveränität haben. Wir sind noch immer Länder, die keinen Friedensvertrag besitzen und in denen fremde Truppen stationiert sind. Zudem haben wir ein erhebliches Gefälle zwischen beiden Ländern in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. Es wäre für die künftige Entwicklung eines neuen gemeinsamen Deutschlands darum schädlich und unverantwortlich, wenn es heute zur Wiedervereinigung käme.
Unser Konzept geht davon aus, dass sich zunächst der Reformprozess in der DDR stabilisiert und wir zu einer stabilen Wirtschaft kommen (die muss nicht so aussehen wie die in der Bundesrepublik). Und auch unsere Gesellschaft muss nicht so aussehen wie diese dort. Wir möchten - und so stand es schon in unserem Septemberpapier -, dass sich die deutschen Staaten aufeinanderzureformieren. Ich vergleiche das mit einer Ehe. Wenn zwei Partner zusammenkommen, und der eine ist außerordentlich dominant, der andere schwach, dann verkümmert der schwächere - oder es kommt zur Scheidung, weil sich dieser nicht mehr entwickeln kann. Eine Hochzeit zwischen BRD und DDR heute würde zu großen gesellschaftlichen Konflikten führen. Wenn ich es recht sehe, findet sich unter den bundesdeutschen Politikern keiner, der dies möchte. Der Berg von sozialen und persönlichen Problemen, der auf die Menschen zukäme wäre nicht zu bewältigen.
In Leipzig und anderswo ruft man in dieser Angelegenheit nach einem Volksentscheid, übersieht aber, dass man fairerweise auch einen solchen in der Bundesrepublik vornehmen müsste. Und dort scheint sich keine Mehrheit, eben aus den genannten Gründen, für die Vereinigung zu finden.
Eine Volksbefragung hätte ohnehin nur symbolischen Charakter wegen unserer begrenzten Souveränität. Außerdem können wir bei diesen Bestrebungen nach staatlicher Einheit der Deutschen nicht die berechtigten Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn ignorieren. Deshalb heißt es ja auch in unserem Drei-Stufen-Plan, wir wollen uns bemühen, das Reformbündnis der osteuropäischen Länder zu stärken. Und wir haben den europäischen Einigungsprozess untrennbar verknüpft mit der Entmilitarisierung Deutschlands. Ich denke, ein einheitliches Deutschland wäre für die Nachbarn nur als entmilitarisiertes Deutschland akzeptabel.
Und mancher träumt auch vom Wirtschaftsgiganten Deutschland.
Eben. Wir müssen verhindern, dass ein gesamtdeutscher Wirtschaftsriese entsteht, der alle anderen an die Wand drückt. Hier müssen Lösungen gesucht werden, die eingebettet sind in die Gestaltung völlig neuer Weltwirtschaftsstrukturen. Wir dürfen als Deutsche nicht in einem Wohlstand leben, der auf Kosten der Menschen in den Entwicklungsländern geht. Es ist unmoralisch und auf Dauer auch selbstzerstörerisch, wenn eine kleine Minderheit von wenigen Millionen in Europa auf Kosten von Milliarden Menschen in der Dritten Welt lebt.
Ich weiß, sehr viele bei uns sehen nicht, dass der Reichtum der BRD nicht ausschließlich Resultat fleißiger Arbeit von Deutschen ist, sondern auch in Hongkonger Hinterhöfen und mexikanischen Manufakturen für Hungerlöhne erschuftet wird. Man will von diesem so zustandegekommenen Kuchen ein größeres Stück abhaben, und zwar sofort. Das ist egoistisch.
Ich höre so viele Stimmen, die klingen so, als wäre die DDR das Armenhaus Europas. Und allen ginge es furchtbar dreckig. Ich habe kürzlich mit Experten vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung aus der Bundesrepublik gesprochen. Sie haben mir versichert: Auch nach ihren Analysen ist die DDR tatsächlich nach wie vor die zehnte Industrienation der Welt. In den meisten Ländern also leben die Menschen unter erheblich schlechteren Bedingungen. Hier stellt sich für mich die Frage: Müssen wir denn wirklich alles haben, was es in der Bundesrepublik gibt? Dort ist ein solcher Oberwohlstand eingetreten, der natürlich verlockend, aber im Grunde unmoralisch ist. Braucht man denn beispielsweise 30 Sorten Zahnpasta wirklich? Es reichen auch fünf, denn schließlich benutzt man doch nur eine. Man muss nicht alles machen, was machbar ist.
Uns fehlt manches, sicher, aber es gibt niemanden bei uns, der seine elementaren Lebensbedürfnisse auf anständige Weise nicht befriedigen könnte. Man kann in der DDR menschenwürdig leben und sich in der Regel selbst verwirklichen.
Woher rührt jedoch eine solch egoistische Haltung? Sind Großmannssucht und Deutschtümelei Rudimente aus jenen unseligen Zeiten, als am deutschen Wesen die Welt genesen sollte? Ist das in unseren genetischen Code eingegangen?
Nein. Eine Ursache ist der Provinzialismus, zu dem wir verurteilt waren. 1977 weilte ich fast ein Vierteljahr als Filmemacher in der Mongolei. Ich sah, dass die Menschen dort sehr viel einfacher lebten als wir, unter sehr viel ursprünglicheren Bedingungen, und ich begriff dort, dass es auch andere Werte gibt als die mir bisher bekannten. Und die auch viel wichtiger sind für das Mensch-Sein, für die Selbstverwirklichung als Mensch.
Ich denke, wenn jetzt sehr viele junge Menschen in die Welt fahren, werden sie die Relationen sehen. Ich ermutige also jeden dazu, durch fremde Länder zu trampen, auch durch die Bundesrepublik, bitteschön. Doch das ist das wahrscheinlich reichste Land der Welt, es ist nicht die Welt.
Woher also kommt dieses Denken bei den Deutschen? Sie haben in der Mehrheit, auch in der Geschichte, nicht selten ihren abendländischen Horizont im Denken nicht überwunden, sie sehen die Welt auch heute noch aus eurozentristischer Perspektive. Hier haben Intoleranz und nationale Überheblichkeit ihre Wurzeln. So, wie wir leben, halten wir es für die einzig denkbare Form des Daseins.
Vielleicht rührt das daher, dass wir keine Kolonien besaßen beziehungsweise nur kurz welche hatten. Ich will damit in keiner Weise den europäischen Kolonialismus verteidigen. Aber nehmen wir die Holländer oder Briten oder Franzosen. Die hatten große Kolonialreiche, und dort wird ganz anders gedacht. Die Menschen sind weit offener für Fremdes als wir. Das Miteinander-Leben unterschiedlicher Kulturen hat ihren Blick geweitet, die Menschen aufgeschlossen. Wir Deutschen fühlten uns ständig bedrängt und eingekreist, wir glaubten, uns permanent noch außen verteidigen zu müssen. Diese Haltung wurde tradiert auch dadurch, dass man in der DDR die Deutschen dann tatsächlich einmauerte. Die Bundesdeutschen, die zwar in die Welt reisten, exportierten mit ihrem Massentourismus auch ihr soziales Umfeld stets mit. Sie nahmen dadurch Welt nicht auf. Reisen hat nur dann einen Sinn, wenn man sich wirklich bildet - im Gespräch mit den fremden Menschen. Das ist doch das Schönste beim Reisen: Menschen mit anderen Anschauungen kennenzulernen. So erschließt man sich ein fremdes Land.
Kehren wir mal von den fremden Ländern zu unserem eigenen zurück. Wie sehen Sie die Chance für seine weitere Eigenständigkeit?
Das Wichtigste ist das Erlernen und Festigen der Demokratie. Dazu zähle ich die Aktivitäten für ein neues Wahlgesetz, für ein neues Vereinigungsgesetz, ein neues Mediengesetz. Dieses Land braucht eine neue Verfassung und sicher auch eine neue Ordnung. Ich bin ein energischer Verfechter der Länderstruktur, weil sich nur so Heimatgefühl herstellen lässt, abgesehen davon, dass Verwaltung abgebaut und der alte Apparat zerschlagen wird.
Ehe die Wirtschaft nicht funktioniert, läuft auch die Demokratie nicht. Und wenn jetzt die harte Mark in die Wirtschaft fließt, sind wir vielleicht noch rascher eingemeindet als unsere Demokratie ins Laufen kam.
Die Wirtschaftsentwicklung muss natürlich mit einer Demokratieentwicklung einhergehen. Wir sind für ein breites Spektrum an Eigentumsformen. Der gesamte Bereich des Handwerks und der Dienstleistungen sollte in privater oder genossenschaftlicher Hand sein. Ich persönlich setze sehr auf ein genossenschaftliches Konzept, aber das muss auf freiwilliger Basis sein und den Mitgliedern etwas bringen. Ich stelle mir da viele Modelle vor. Wir haben in Berlin beispielsweise das Problem "Babylon". Das Kino wurde wegen Baufälligkeit geschlossen. Ich könnte mir vorstellen, dass die benötigten eine Million Mark von ein- oder zweitausend interessierten Filmfreunden und Filmemachern in einer Genossenschaft aufgebracht werden, dass sich diese zusammenschließen, das Kino erwerben und es rekonstruieren und darin gemeinsam betreiben. Solche Modelle sind in vielerlei Hinsicht denkbar. Die Schwerindustrie, bestimmte Schlüsselindustrien und ähnliches sollten nicht in private Hände kommen, sondern wirklich gesellschaftliches Eigentum werden.
Bleibt uns aber noch die Zeit dafür, das alles zu regeln? Und wie stehen Sie in dieser Hinsicht zur Regierung Modrow?
Ich halte Herrn Modrow für einen integren Politiker, aber ich werfe dieser Regierung vor, die Verfassungsänderung im Hinblick auf Joint ventures vorgenommen zu haben, ohne vorher die Fragen der Arbeitslosenversorgung geklärt und ein Betriebsverfassungsgesetz beschlossen zu haben. Darüber sollten wir uns im klaren sein: Mit dem Westkapital im Land wird es Arbeitslose geben. Und die müssen sozial gesichert sein und eine neue Chance haben.
Hat dieses Land eine Chance?
Das liegt in unserer Hand.
(Das Gespräch führte Frank Schumann)
aus: Junge Welt, Nr. 17 B, 20./21.01.1990, 44. Jahrgang, Linke Sozialistische Jugendzeitung